52 - Auf Bäumen klettern
Enrico ist gleich mitgekommen, als ich ihm Bescheid gesagt habe, dass Alisea etwas für ihre Blutung braucht. Darüber führt er sehr akribisch Buch, bei jeder Frau an Bord. Ich habe nie verstanden, wonach er da forscht. Aber er sagte mir mal, dass die Blutung mit dem Zyklus der Frau zu tun hat, wann sie schwanger werden kann.
Er betritt mit mir die Kajüte und Alisea steht immer noch so da, als wäre ich gar nicht gegangen. Ihre Augen sind noch gerötet, aber die Tränen hat sie getrocknet.
Enrico wendet sich sofort an Alisea und ergreift das Wort: „Hallo, Alisea. Ich habe etwas für dich mitgebracht. Leg dich mal gemütlich auf das Sofa, ich möchte eben gucken, ob bei dir alles in Ordnung ist."
Sie reißt die Augen auf und ich sehe ihr an, dass sie widersprechen will. Aber dann schaut sie kurz in meine Richtung und schon setzt sie sich in Bewegung. In ihrem Gesicht erkenne ich Wut und Enttäuschung.
Alisea legt sich halb auf die Chaiselongue und nimmt vorsichtig das Tuch weg. Sie blutet aktuell nicht und ich höre sie erleichtert seufzen. Sie schaut nun aber gar nicht mehr in meine Richtung und wird sogar rot.
Denkt die Kleine etwa an heute früh?Sie lag ähnlich auf der Chaiselounge, wie jetzt.
Ich lasse Enrico machen und setze mich an meinen Schreibtisch, um mein Logbuch herauszuholen. Dabei öffne ich meine Schublade.
„Es ist alles in Ordnung", sagt der Arzt.
Ich schaue auf. „Natürlich. Ich habe auch nichts anderes erwartet."
Enrico dreht sich um und gibt Alisea ein dickes Höschen. „Morgen komme ich wieder und bringe dir ein Neues."
Alisea nimmt es zögerlich entgegen, aber zieht es dann relativ schnell an. "Danke", sagt sie zu Enrico. Sie sieht angespannt aus und schaut ständig zu mir herüber. Sie steht von der Chaiselongue auf und geht rüber an den Holztisch und setzt sich dort auf die Bank, auf der sie die erste Nacht geschlafen hat. Möglichst weit weg von mir.
Enrico verabschiedet sich kurz darauf und schließt die Tür hinter sich.
Ich mache die Schublade wieder zu, denn ich habe eigentlich gerade nicht viel zu berichten. Vielleicht schreibe ich später noch eine Kleinigkeit.
Dann schaue ich zu Alisea, die schnell beschämt wegsieht. Irgendwie sieht sie einsam aus. Ich atme tief und laut ein. Vielleicht versuche ich mich mal mit ihr zu unterhalten: „Willst du mit mir über irgendetwas reden?"
„Darf ich... darf ich morgen zu Guilia? Bitte!" Ihre Augen flehen mich an, aber ihre Stimme klingt sehr leise und gefasst.
„Du kannst auch mit mir reden."
Ihre Augen werden groß, während ihre Wangen wieder ganz rot werden. „Was? Nein! Du bist ein..." Sie stockt plötzlich.
„Ein Monster oder wolltest du nur Mann sagen?"
„Mann." Sie seufzt leise und verzieht etwas das Gesicht. „Ich weiß gar nicht, wie es Guilia geht. Das letzte Mal, als ich sie sah, war sie an Deck."
„Da, wo du nichts zu suchen hattest!" Meine Stimme klingt wieder scharf, obwohl ich mich doch einfach mit ihr unterhalten will. Kann ich das überhaupt? „Hör zu, ich kann dich gerade nicht zu ihr lassen. Es gibt da eine Frau, die verschwunden ist und wir haben sie nicht wieder gefunden. Bevor das nicht aufgeklärt ist, werde ich dich hier nicht mehr herauslassen. Also musst du wohl mit mir vorliebnehmen."
Ihre Augen werden groß, aber dann nickt sie leicht und schaut auf ihre Hände, die sie nervös knetet.„Wie geht es Guilia? Ist sie... ehm... schwanger?"
Ich zucke mit der Schulter. Woher soll ich wissen, wie es ihr geht? Deshalb gehe ich auf die Frage gar nicht ein. „Wenn sie schwanger wäre, hätte mir Enrico Bescheid gesagt."
„Meine Mutter wurde nach meiner Geburt auch nicht mehr schwanger. Also... Doch, eigentlich schon. Aber sie verlor das Kind nach wenigen Wochen wieder. Das ging jahrelang so", erzählt Alisea leise und hält dabei den Blick gesenkt.
Ähm... ja... Warum habe ich mir vorgenommen, mich mit ihr zu unterhalten? Was soll ich darauf denn sagen? Von mir irgendetwas erzählen? Normal macht man das ja so. „Meine Mutter hat auch nur mich bekommen. Es wurde aber auch nicht von ihr verlangt, noch ein Kind zu bekommen."
Im Gegenteil. Sie war zu Diensten... Ich war wohl eher ein Ausrutscher. Ein Bastard eben. Ich kann der Kleinen aber nicht alles sagen. Das versteht sich von selbst. Es reicht, wenn sie das weiß und ich frage mich gerade schon, ob es nicht zu viel war.
Alisea schaut auf und mustert mich einen Moment. Aber dann senkt sie erneut den Blick. „Hast du dir Geschwister gewünscht?"
Ich hebe verwundert die Augenbrauen. Wie kommt man denn auf so eine Frage? Natürlich nicht! „Hast du dir welche gewünscht?"
„Ja, natürlich! Brüder und Schwestern, mit denen ich hätte spielen können. Ich glaube, ich wäre eine gemeine, große Schwester gewesen." Sie schmunzelt kurz und zeigt ein leichtes Grübchen an der rechten Wange. Aber dann wird ihr Blick wieder ernst. „Aber es ist egal, nicht wahr? Man bekommt im Leben ja doch nie das, was man sich wünscht."
„Ich denke eher, man wünscht sich immer das, was man nicht hat oder haben kann. Hättest du viele Geschwister gehabt, hättest du dir jetzt das Gegenteil gewünscht." Ich zwinkere ihr zu und hake nach: „Wieso wärst du denn die gemeine große Schwester gewesen? Das passt doch gar nicht zu einer feinen Baronesse."
Alisea presst kurz die Lippen zusammen und ich sehe, dass sie damit ein Lächeln verbirgt. Sie hebt leicht die Schultern, lässt sie dann aber wieder sinken. „Unsere Nachbarn, die de Vignauds... Sie haben sieben Kinder und der älteste Sohn ist in meinem Alter. Ich war elf, als wir eine Katze in einem Baum sahen, die sich nicht mehr hinunter traute. Also bin ich rauf geklettert, um sie zu retten. Und das doofe Biest springt einfach auf den nächsten Baum und klettert dort ganz gemütlich herunter."
Sie macht eine kurze Pause und schaut wieder auf ihre Hände, während sie erzählt: „Ich bin also wieder vom Baum geklettert. Aber der Nachbarssohn hing am untersten Ast und traute sich nicht mehr hinunter. Als kniff ich ihm in den Arm. Er ist gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Ich habe fürchterlichen Ärger bekommen. Aber das war es mir wert gewesen!"
Mich wundert die Geschichte etwas. Um ehrlich zu sein, hätte ich sowas früher nicht gemacht. Ich war viel zu sehr darauf bedacht, das Richtige zu tun und niemanden zu blamieren. Auch wenn ich so manches Mal vielleicht einen bösen Gedanken hatte. „Hat es dir das Gefühl von Macht gegeben oder war es einfach, um deine Familie zu ärgern?", frage ich daher ehrlich interessiert.
„Macht? Nein. Aber es hat mich genervt, dass er zuerst ganz heldenhaft und selbstüberzeugt davon sprach, dass er als »Mann« ja auf den Baum klettert, um das arme Tier zu retten. Und dann hängt er am Baum und weint, weil er nicht mehr herunterkommt. Dabei war es gar nicht tief. Er ist einfach nur blöd gefallen." Sie verzieht das Gesicht und seufzt leise.
„Aber nur, weil einem etwas ärgert, darf man doch nicht einfach..." Ich breche meinen Satz ab. Wie dämlich ist es, ihr das in meiner Position zu sagen und plötzlich mit Moralvorstellungen zu kommen? Ich habe mich von ihr etwas mitreißen lassen. „Es gibt eben selten Männer, die einfach etwas tun, ohne groß zu quatschen. Das ist schon immer so gewesen und in jeder Schicht so. Wie wurdest du denn bestraft? Lebte da deine Mutter noch?"
„Ja, sie starb, ein paar Monate später." Sie hebt kurz ihre Hände und dreht sie leicht, dann legt sie diese wieder auf den Schoß. „Ich bekam mehrere Schläge mit dem Stock auf die Hände. Zwei Finger brachen. Mein Vater wollte nicht, dass ich wieder auf Bäume klettere. Ein halbes Jahr später wurden mir erneut die Finger gebrochen, damit die Knochen wieder richtig zusammenwachsen. Also bin ich wirklich nie wieder auf Bäume geklettert."
Ich hebe die Augenbrauen. Das hat er nicht getan!? Sie war doch noch so jung! So ein verdammtes Arschloch!Gerade noch kann ich ein Knurren unterdrücken. Ich hasse diesen Gedanken, was ihr passiert ist und das nur wegen so einem feigen Klappspaten! Sagte sie wirklich, dass es ihr das wert war? Heftig. „Was hat deine Mutter dazu gesagt?
„Mir gegenüber? Oder meinem Vater gegenüber?" Sie sieht nun wieder zu mir herüber und ihr Blick ist plötzlich so unglaublich ernst und tiefgründig.
„Beides."
„Meine Eltern sprachen nicht miteinander, sie stritten immer nur. In den Augen meines Vaters ist selbst ein Huhn mehr wert als eine Frau. Die legen wenigstens Eier, während Frauen nur bluten können. Während meine Mutter sagte, dass es seine Schuld sei, dass ich so verzogen wäre."
Ihr Blick ist kühl geworden. „Zu mir sagte meine Mutter nur, dass ich dem Mann stets den Vortritt lassen uns ihn bloß niemals in Verlegenheit bringen sollte. Aber ich war noch ein Kind und verstand es nicht."
Am liebsten würde ich jetzt laut loslachen. Aber kann gerade noch an mich halten, denn ihre Mutter hatte doch recht. Jetzt sitzt sie hier und wird bald nichts weiter als eine Sklavin sein.
Das versetzt mir sofort ein Stich in der Brust. Sie hat schon so viel ertragen. Ich mag sie einfach, dass kann ich vor mir selbst nicht leugnen, jetzt wo ich etwas mit ihr geredet habe.
Das ändert aber nichts an ihrer Situation. „Ja, die Frauen sind eben das schwächere Geschlecht. Es ist so und war schon immer so. Sie müssen beschützt werden oder..." Ich schaue sie einen Moment intensiv an, bevor ich sage: „Oder sie werden von Piraten entführt. Wo ist denn dein Geliebter jetzt? Kann er dich schützen? Du hast dir den Falschen ausgesucht. Vielleicht hätte deine Mutter dir das mal sagen sollen."
Alisea braucht einen richtigen Mann an ihrer Seite und kein Weichei, wie diesen Schönling!
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