29 - Der Schmuck
Ich straffe mich kurz und folge Lestat zurück in die Kajüte. Dabei geht er so schnell, dass ich fast rennen muss, um mitzuhalten. Zum Glück hat er mich bei Pliesna erwischt, denn vorher war ich ja bei Nouel. Daher überlege ich fieberhaft, was ich antworte, wenn er mich fragt, warum ich bei den Frauen war.
In der Kajüte angekommen, wirkt er noch immer aufgebracht. Er lässt sogar seine Fingerknochen knacken.„Was hast du mit der Polin geredet?"
Mir ist unbegreiflich, warum er jetzt schon wieder so wütend ist. Wegen dem, was heute passiert ist? Angeblich sollen mehrere Piraten den Haien zum Fraß vorgeworfen worden sein. Weil eine Frau gestorben ist.
Allerdings werde ich seine Wut nicht weiter anstacheln und seine Fragen ganz sachlich beantworten. Vielleicht beruhigt er sich ja wieder. „Ich habe sie gefragt, woher sie kommt und sie gebeten, mir von ihrer Heimat zu erzählen."
„Wer's glaubt, wird selig! Du gehst heute nicht mehr aus diesem Raum. Enrico hatte mich schon heute Morgen gebeten, dich hier über Nacht einzusperren. Ich hoffe das ist nicht nötig!"
Lestat geht zu seinem Schreibtisch, setzt sich und holt wieder sein Buch heraus. Plötzlich stutzt er und schaut in seine Schublade. Dann guckt er sich im Raum um und sucht mit den Augen den Boden ab.
„Ich sage aber die Wahrheit! Oder glaubst du wirklich, ich will mir anhören müssen ..." Ich breche ab, als ich merke, dass er mir gar nicht zuhört und folge seinem Blick.
Das Seil! Oh, gar nicht gut ... Warum sucht er ausgerechnet jetzt danach?
Er steht auf und geht zum Bett, um dort zu gucken. Ich schaue ihm nach. Dann dreht er sich wieder zu mir um.„ALISEA! Du weißt was ich suche! Wo ist es?"
Ich schließe einen Moment die Augen, um nicht aus Trotz etwas Dummes zu sagen. Dann schaue ich zum Bücherregal und deute mit einer Hand dorthin. „Hinter dem Regal..."
Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaut er mich an, dann sieht er zum Bücherregal und wieder zurück. „Was hattest du mit dem Seil vor?"
„Aus dem Weg räumen. Was sollte ich denn sonst mit einem Seil machen?" Glaubt er etwa, ich würde es ernsthaft in Erwägung ziehen, ihn ans Bett zu fesseln, wenn er schläft? Er würde doch sofort aufwachen!
Er erscheint mir plötzlich noch wütender zu sein, wie davor und hält die Hand mit der Innenfläche nach oben gerichtet in meine Richtung. „Ich zähle bis drei und dann gibst du mir das Seil! Eins..."
Das darf doch nicht wahr sein!
Sofort laufe ich zu dem Bücherregal und greife dahinter. Aber das Seil muss herunter gerutscht sein.
„Zwei..."
„Es ist direkt hier ...!" Ich bücke mich und taste den schmalen Zwischenraum zwischen Regal und Wand entlang. Kurz beschleicht mich sogar der Gedanke, dass er das Seil schon längst gefunden und woanders versteckt hat. Aber dann ertasten meine Fingerspitzen das Seil und ich brauche viel zu lange, bis ich es endlich greife und hervorziehe.
„Drei!"
Er nimmt die Hand runter, wie ich aus den Augenwinkeln sehe. Ich habe das Seil doch schon! Aber da ist er schon bei mir und packt mich schmerzhaft an den Haaren, um mich auf die Beine zu ziehen. Wütend sieht er mich an.
Ich reiche ihm das Seil, aber er nimmt es nicht, daher trete ich nach ihm und schlage ihm ins Gesicht. Er hätte einfach schneller gezählt, wenn ich das Seil sofort gegriffen hätte, damit ich es in der Zeit nicht schaffe!
Mit einem Ruck drückt er mich plötzlich so dicht an seinen Körper, dass ich an seine harte Brust knalle, dann zieht er meinen Kopf an den Haaren zurück, sodass ich ihn ansehen muss. Wütend knurrt er mir entgegen: „Du willst unbedingt Ärger mit mir haben. Kann das sein?"
„Du bist derjenige, der die Konfrontation sucht! Ich lasse es mir bloß nicht gefallen!" Ich sehe ihm fest in die Augen und denke nicht daran, den Blick brav zu senken. Er provoziert diesen Ärger doch!
Seine Augen haben plötzlich einen grünlichen Schimmer und es kommt mir vor, als ob sie sich weiter verfärben. Er atmet schwer und ich höre seine Zähne knirschen. „Du kleines Miststück hast wohl wieder vergessen, wer du bist!"
Er gibt mir einen heftigen Schubs, sodass ich mit dem Bauch auf den Boden knalle.
Aua!
Gerade als ich mich wieder etwas aufrichte, drückt er mich mit seinem harten Stiefel wieder zu Boden und bleibt auf meinem Körper stehen. Ich bekomme kaum Luft!
Ich versuche trotzdem wieder mich aufzurichten und drücke die Unterarme auf den Boden, um mich damit hochzudrücken. „Ja, schon klar. Der Dreck unter deinem Stiefel ...! Abschaum, der auf dem Boden liegt!", schleudere ich ihm voller Hass entgegen.
Die Symbolik hinter dieser Geste schmerzt noch mehr als der Stiefel auf meinem Rücken!
Er tritt noch fester zu, sodass ich einen Aufschrei unterdrücken muss. Es fühlt sich an, als ob gleich meine Rippen brechen. Dieses Monster kennt auch keine Grenzen!
Plötzlich klopft es und dadurch lässt er etwas locker und ich kann wieder etwas atmen.
„Ja, was ist?"
Die Tür öffnet sich und einer von Lestats Männern kommt herein. Er hat eine Holzschatulle dabei, die ich sofort wieder erkenne. Der Schmuck meiner Mutter!
„Störe ich?"
„Ganz und gar nicht, Ote. Was gibt's?"
Ich versuche wieder aufzustehen, aber der Druck von seinem Stiefel bleibt unnachgiebig. Obwohl er gerade abgelenkt wird. Wie demütigend und erniedrigend!
Allerdings beachtet mich dieser Ote nicht und geht zum Schreibtisch, um dort die Schatulle abzustellen und ich höre, dass er sie öffnet. Aus meiner Position kann ich aber nicht sehen, was passiert.
Lestat richtet wieder das Wort an den anderen Piraten: „Ist das der Schmuck von der Vierge Marie? War das alles?" Er nimmt nun endlich seinen Schuh von meinem Rücken, aber sogleich höre ich seine warnenden Worte: „Bleib ja da liegen, du Miststück!"
Dann geht er zum Schreibtisch, um sich meinen Schmuck genauer anzusehen. Meinen Schmuck!
Ich bleibe tatsächlich einen Moment liegen und atme ein paar Mal tief durch. Aber die Tatsache, dass sie sich den Schmuck ansehen, geht zu weit! Dass sie mit ihren dreckigen Händen meine Sachen durchwühlen!
Also stehe ich auf und sehe, dass Lestat ein fragiles Collier herauszieht, welches mit Smaragden geschmückt ist. Ausgerechnet meine Lieblingskette! Im Gegensatz zu den meisten anderen Halsketten ist dieses hier Silber, nicht aus Gold. „Das gehört mir!"
Ote sieht mich verwundert an und Lestat schüttelt nur grinsend den Kopf. „Sie hat noch immer nicht verstanden, was hier läuft. Habe ich ihr nicht gesagt, sie soll da liegen bleiben oder habe ich mir das eingebildet?"
„Du kannst mit ihr weiterspielen, sobald ich weg bin. Ich wollte dich bloß fragen, ob wir den Schmuck bei nächster Gelegenheit verkaufen sollen. Solange wir noch in Europa sind."
Mir Herz zerbricht bei dem Gedanken, dass sie den Schmuck verkaufen wollen. Lieber würde ich ihn auf dem Grund des Meeres wissen, als dass es die Piraten bereichert! Tränen sammeln sich in meinen Augen. Dieser Schmuck ist alles, was ich von meiner Mutter habe! Selbst die Erinnerungen an sie verblassen jeden Tag mehr. Aber dieser Schmuck ist mehr wert als die Steine, aus denen sie sind.
„Ich denke, in Nea ... ähm ... beim nächsten Stopp, werden wir den höchsten Preis erzielen. Also ja."
Ote nickt zufrieden, nimmt die Schatulle und klemmt sie sich unter einen Arm. Er beachtet mich nicht mal, während er aus der Kajüte geht.
Einen Moment bin ich versucht, ihm hinterherzulaufen und ihm die Schatulle abzunehmen. Aber dann müsste ich an Deck laufen. Und ich hätte nicht genug Vorsprung.
Bevor ich die Idee überhaupt richtig durchdacht habe, ist Ote schon raus und meine Chance ist weg.
Schlimm genug, dass die Piraten mir einfach alles nehmen. Aber, dass sie mir den Schmuck nehmen ist zuviel! Ich habe doch sonst nichts mehr von meiner Mama!
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