21 - Bei Nouel
„Nouel...!", flüstere ich leise.
Nouel schaut nur kurz zu mir auf und lässt den Kopf wieder sinken. Er hat sicher keine Kraft mehr und sieht schrecklich aus. Was haben sie nur mit ihm gemacht?
„Nouel... Was haben sie dir nur angetan?" Meine Stimme stockt und es schmerzt, ihn in dieser kleinen Zelle zu sehen. Sein ganzes Gesicht ist geschwollen und blutig.
„Alisea, bist du es?" Er hebt wieder den Kopf, aber jetzt sehe ich auch, dass er mich wohl kaum erkennen wird, so geschwollen sind seine Augen. Langsam richtet er sich auf, stöhnt schmerzerfüllt und fasst sich an die Seite.
„Ja, ich bin es. Komm her zu mir. Folge einfach meiner Stimme." Ich strecke dabei einen Arm durch das Gitter.
Er kriecht auf allen Vieren zu mir. „Es tut mir so leid. Ich hätte dich niemals überreden sollen. Bitte....verzeihe mir... ich konnte dich nicht retten..."
„Shht! Es ist nicht deine Schuld, Nouel. Bitte, mach dir keine Vorwürfe." Vorsichtig greife ich Nouel am Hemd und ziehe ihn näher, bis er kurz vor den Gittern ist. „Setz dich und heb dein Gesicht ein wenig."
„Doch Alisea, es war meine Schuld! Lestat... Lestat wird dich weiter verletzen... das... das hat er mir gesagt. Ich bin dafür verantwortlich, weil ich dich..."
Er hat Mühe zu reden, deshalb unterbreche ich ihn: „Es war einfach nur ein dummer Zufall, Nouel. Wenn ich erst in zwei Wochen nach Korsika geschifft worden wäre, dann hätte mir das auch passieren können." Ich lege zaghaft eine Hand an seine Wange. Allerdings zuckt er heftig zusammen und ich erinnere mich wieder an die Salbe. „Halte still. Ich habe Salbe dabei. Das wird dir helfen!"
Nouel atmet schwer, aber lässt sich von mir einschmieren. „Was hat er dir schon alles angetan? Wieso bist du hier? Durftest du...." Er stockt wieder.
„Ob ich hierher durfte? Nun, ich denke schon. Sonst würde er mich ja einsperren, nicht wahr? Er erklärte mir sogar, wie ich hierherkomme." Ich verteile die Salbe zaghaft und presse die Lippen zusammen. Sein Kopf glüht und ich fürchte, er hat Fieber. Werden die Piraten ihn hier etwa sterben lassen?
„Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Du musst stark sein, Alisea! Vielleicht zahlt dein Vater Lösegeld. Du hast noch eine Chance. Er fragte mich über ihn aus."
Sanft streiche ich durch sein Haar, damit es ihm nicht mehr in sein Gesicht hängt. Ich mag lange Haare bei Männern, aber es sieht nicht bei jedem Mann gut aus. „Sag ihm einfach, was er wissen will. Dann bist du wertvoll für ihn. Was wollte er denn von dir wissen?"
„Wie dein Vater heißt. Wie viel dein Vater bereit wäre zu zahlen und was er hat. Warum du auf dem Schiff warst und er sagte mir...." Er atmet tief durch, denn das Sprechen fällt ihm schwer. „... dass du jetzt ihm gehörst. Das... das hat er mir ja auch gezeigt."
Ich hole tief Luft. Und obwohl die Stimme von Nouel besorgt klingt, muss ich lächeln. Wegen dem, was Nouel zu Anfang sagte. Es ist ein gutes Zeichen, dass Lestat sich über meinen Vater erkundigt.
Das heißt, er denkt wirklich an Lösegeld und ich könnte bald wieder frei sein. Aber was ist mit Nouel?
Nun, erstmal eins nach dem anderen. Vielleicht will sich der Pirat ja auch nur alle Optionen offenhalten. Ich sollte nicht zu blauäugig sein. „Und was hast du ihm geantwortet?" Auf den Rest gehe ich nicht ein, denn ich möchte nicht mit Nouel darüber reden. Es war einfach so erniedrigend. Auf jede erdenkliche Weise.
„Ich habe... habe... ihm erzählt,was ich wusste. Eben, dass dein Vater ein einflussreicher Mann ist. Ich hoffe, er wird sich an ihn wenden und dich zurückbringen. Es tut mir alles so leid." Er will nach meine Hand greifen, aber zuckt sofort zurück, als eine dunkle Stimme ertönt.
„Alisea, was machst du da?"
Ich versteife mich kurz, umschließen die Salbe in der rechten Hand und stehe langsam auf, dabei sehe ich aber zu Nouel und sage deutlich: „Halte durch, Nouel."
Erst dann drehe ich mich um und sehe zu dem Mann mit den roten Haaren und dem Vollbart vor mir. Er war derjenige, der mich aus der Kiste an Bord der Vierge Marie holte und derjenige, der mich an Bord des Piratenschiffes brachte. Im Gegensatz zu Lestat hatte dieser Mann mich nicht zu grob angefasst, auch wenn ich es in dem Moment als schmerzhaft empfand.
Unglaublich... Das ist erst zwei Tage her.
„Nur ein wenig Konversation mit einem guten Freund.", antworte ich knapp und gehe einen Schritt von der Gefängniszelle weg. Was sollte ich denn auch sonst hier bei Nouel machen?
„Du darfst überhaupt nicht hier sein und solltest jetzt sofort mit mir mitkommen, bevor Lestat dich noch sieht!" Er dreht sich schon um und geht vor. „Beweg dich schneller!"
„Ich finde allein zurück. Außerdem wollte ich noch nach Guilia." Natürlich folge ich ihm nicht, sondern verschränke meine Arme trotzig vor der Brust. Dabei sehe ich nach vorn in den Frachtraum. Dort, wo die Frauen ihre Hängematten aufgehängt haben.
Der Rotschopf bleibt stehen, sieht zu mir und verschränkt genauso wie ich die Arme. „Spielen wir jetzt eingeschnappte Kuh?" Dann hebt er eine Augenbraue. „Nein, du kommst jetzt mit. Ist dir eigentlich klar, was du da gerade gemacht hast?! Dafür könntest du bestraft werden. Du solltest hoffen, dass dich keiner der Frauen verrät oder dich sogar jemand gesehen hat!"
Ich lasse unsicher die Arme sinken und gehe nun doch auf Pepin zu. Verdammt, er hat recht. Und wenn nicht ich bestraft werde, dann gewiss Nouel. Auch Guilia sagte, vor einigen Frauen sollte ich mich fernhalten. Das sollte ich wirklich ernst nehmen. „Du heißt Pepin, nicht wahr?"
Er nickt und streckt mir die Hand entgegen. „Schön, dich kennenzulernen, Alisea."
Misstrauisch hebe ich eine Augenbraue, aber dann gebe ich mir einen Ruck. Ich nehme die Salbe in die linke Hand und lege dann meine rechten Fingerspitzen in seine Hand. Auch, wenn ich wirklich keine Lust habe, dass er mir einen Handkuss gibt. Aber zumindest ist es eine Geste, die ich kenne und auf halbwegs gute Erziehung hindeutet.
Und er stört sich nicht daran, dass ich einfach das informelle Du benutze. Also werde ich einfach dabei bleiben. Wenn diese Piraten mich duzen, dann werde ich es auch tun. Respekt werde ich ihnen sicher nicht zollen!
Er packt plötzlich meine ganze Hand und schüttelt sie. „Dann komm mal mit mir mit. Ich bringe dich wieder zurück."
Ich schaue kurz über die Schulter zurück zu Nouel. Aber für ihn kann ich jetzt nichts mehr tun. Vielleicht schleiche ich mich später wieder hierher. Oder ich frage Guilia, ob sie Nouel etwas von der Salbe zukommen lassen kann.
„Schön, wenn es denn unbedingt sein muss."
„Du solltest auch besser nicht mehr auf die Idee kommen, ihn zu besuchen. Er war dein Geliebter, nicht wahr? Zumindest hatte er so etwas verlauten lassen."
„Ein Freund. Der beste Freund, den ich wohl je hatte." Ich schaue kurz zu Pepin und versuche mich seinem Schritt anzupassen. „Und der einzige, bei dem ich mich nie verstellen musste."
Wir verlassen den Frachtraum und ich spüre einige Blicke auf meinem Rücken. Hoffentlich sah niemand, dass ich Nouel besucht und sogar seine Wunden behandelt habe. „Wirst du ihm sagen, wo ich war?"
Er schaut zu mir herüber und grinst. Ich weiß nicht genau was das heißt. „Dann hätte ich ihn auch gleich rufen können oder dich dagelassen. Von mir erfährt er es nicht, aber ich kann auch nicht ausschließen, dass es jemand anderes gesehen hat. Ich sagte dir doch, du solltest nicht zu deinem Freund gehen. Außerdem ist es auch besser für ihn. Vor allem, wenn du ihm helfen willst."
„Sein Schicksal ist doch schon besiegelt, genauso wie meines", seufze ich resignierend. Wobei ich bei Nouel nicht mal weiß, welches Schicksal ihn erwartet. Wir Frauen landen auf einem Sklavenmarkt, sobald wir schwanger sind. Aber was ist mit Nouel?
„Das Schicksal kann keiner beeinflussen. Vielleicht bist du ja deshalb hier gelandet, damit du sein kannst wie du willst. Hier schert sich niemand um irgendwelche Förmlichkeiten." Er zwinkert mir zu und geht die Treppe vor mir hoch, da sie so eng ist.
Ich bin mir gerade nicht sicher, ob er sich auf meine Kosten lustig macht und bleibe unten am Treppenansatz stehen. „Ich wurde als Frau geboren. Entweder heirate ich oder gehe ins Kloster. Aber nun habe ich ja glücklicherweise noch eine dritte Option!" Meine Stimme trieft nur so vor Sarkasmus. Denn ich kann überhaupt nicht sein, wer ich will. Erst recht nicht, ich selbst sein! Diese Illusion wurde mir schon vor Jahren genommen. Und an Bord dieses Schiffes ist jeder Tag ein Kampf, den ich am Ende doch verlieren werde.
Pepin schaut herunter und muss fast lachen. „Dann hast du ja nur eine Option gehabt. Welche Frau geht denn freiwillig ins Kloster? Und nun komm schon."
Ich würde diesem Mann am liebsten den Kopf abreißen und stapfe wütend die Treppe hoch. „Ja, was für ein Glück ich auch habe, dass ich verschleppt werde in ein fremdes Land, um dort von einem fremden Mann in die Sklaverei gezwungen zu werden!" Diese ungewisse und beängstigende Zukunft das erste Mal auszusprechen, verursacht eine Gänsehaut auf meinem Körper und mir wird richtig übel.
Um nicht weiter mit Pepin reden zu müssen, gehe ich mit schnellen Schritten an ihm vorbei, zurück zur Kajüte von Lestat. Ich drehe mich kurz noch mal nach Pepin um, der mir hinterherschaut.
Aber er sagt nichts. Sein Glück, denn die Aussicht auf meine Zukunft lässt mich innerlich brodeln. Vor allem, weil es diesen Piraten völlig egal ist und sie nur ihr Geld sehen! Was aus uns Frauen wird, ist ihnen völlig egal!
Also reiße ich wütend die Tür zur Kajüte auf und laufe voll in eine Person hinein.
„Pass doch auf!", rufe ich aufgebracht.
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