2 - Ich bin Alisea
Es ist ein milder Frühsommertag im Jahr 1771.
Wie jeden Morgen sitzt mein Vater bereits am Tisch, während das Frühstück serviert wird. Die wichtigste Mahlzeit des Tages, wie er immer sagt.
Während er bereits seine Briefe öffnet, setze ich mich zu ihm an den Tisch und er schaut natürlich nicht auf.
"Guten Morgen, Vater", begrüße ich ihn mit einem aufgesetzten Lächeln.
Mein Vater, der Baron Perceval de Marchand, nickt nur kurz, um mir zu zeigen, dass er mich bemerkt hat. Er schaut aber weiterhin gespannt auf den Brief, den er liest.
"Sehr gut. Mhm...", murmelt er leise vor sich hin. Er zieht etwas die Stirn kraus, aber dann lächelt er wieder und legt den Brief hin.
Seit dem Tod meiner Mutter vor sechs Jahren beachtet mein Vater mich kaum noch und redet nur das Nötigste mit mir. Ich habe mich mittlerweile damit arrangiert, denn er lässt mich in Ruhe.
Nur, wenn die Nachbarschaft mal wieder über mich redet, wird er sich seiner väterlichen Pflichten bewusst und greift nach dem Gürtel oder dem Stock.
"Ich denke, ich esse später etwas." Obwohl ich nichts gegessen habe, tupfe ich mir den Mund mit einem Tuch ab und lege ihn auf den leeren Teller. Dabei stehe ich auf.
Mein Vater hebt kurz den Blick. "Setz dich wieder! Ich habe etwas mit dir zu besprechen."
Ich hebe argwöhnisch die Augenbrauen, komme dieser Aufforderung aber langsam nach. Immerhin will ich nicht schon wieder seinen Ärger auf mich lenken.
"Worüber wollen Sie mit mir reden, Vater?"
"Graf Roux hat sein Interesse an dir bekundet. Ich habe schon zugesagt und soeben Antwort erhalten."
"Graf Roux? Noch nie von ihm gehört. Was denn für...", ich stocke mitten im Satz. Mein Mund wird plötzlich trocken, als ich ahne, was mein Vater mir da mitteilen will. Das Interesse eines Mannes an einer Frau kann nur bedeuten, dass er sie heiraten will. "Sie haben schon zugesagt?! Aber Vater...!"
Nun stehe ich doch wieder auf und halte mich mit beiden Händen an dem Tisch fest.
"SETZ DICH WIEDER! Ich bin noch nicht fertig! Du wirst den Grafen heiraten und solltest mir dankbar sein. Er ist ein sehr angesehener Mann und hat einen höheren Stand als du!"
Ich schüttele heftig den Kopf. "Aber ich will ja gar nicht heiraten!"
Bisher konnte ich jeden potentiellen Anwärter erfolgreich vergraulen und in den letzten Monaten hat mein Vater dieses Thema auch gar nicht mehr angesprochen.
Der Gedanke, einen fremden Mann heiraten zu müssen, widerstrebt mir. Denn das bedeutet, ich muss seine Kinder gebären und bei jeder Geburt um mein Leben fürchten. Ich könnte sterben. Wie meine Mutter.
Und ich will nicht, dass mein Leben in den Händen eines Mannes liegt, der nichts für mich empfindet. So, wie mein Vater auch nie in der Lage war meine Mutter zu lieben.
"Lieber gehe ich ins Kloster!", werfe ich ihm entgegen und meine es damit wirklich ernst. Denn ich will nicht dasselbe Schicksal erleiden müssen wie sie.
Mein Vater verzieht wütend das Gesicht und schnauft beim reden sogar: "Du wirst heiraten und wenn ich noch einmal höre, dass du ins Kloster willst, dann werde ich mich vergessen! Ich habe nicht umsonst alles hier aufgebaut, um mein einziges Kind ins Kloster zu bringen!"
Seine Stimme ist laut und energisch geworden. Die Wutader an seiner Schläfe zeichnet sich bereits deutlich ab.
"Papa, bitte..." Ich presse die Lippen zusammen und hadere mit mir, ob ich zu ihm gehen und ihn anflehen soll. Aber mein Vater ist stur und was er sich in den Kopf gesetzt hat, wird er durchsetzen. "Wann?", frage ich daher tonlos.
"Schon bald. Erst mal muss ich noch etwas erledigen. Ich denke du musst noch zwei Wochen warten. Dann wirst du noch Korsika segeln und dein neues Leben beginnen und..." Mein Vater steht auf und zeigt mit dem Finger auf mich. "Du wirst mir dieses Mal keine Schande bereiten oder willst du, dass deine Mutter sich im Himmel für dich schämen muss?"
"So bald schon?!"
Also macht mein Vater nun ernst. Wahrscheinlich lerne ich den Mann erst am Altar kennen, damit er seinen Heiratsantrag nicht zurückziehen kann.
Und dann auch noch Korsika! Noch weiter weg von Paris und Versailles geht ja gar nicht!
Dabei weiß mein Vater genau, dass es mein größter Wunsch ist, einmal nach Versailles zu reisen.
"Du solltest dankbar sein, dass er dich überhaupt will. Mit deinen 18 Jahren bist du schon fast zu alt. Das du auch noch einen Grafen abbekommen hast, hast du mir zu verdanken. Ich musste einiges zahlen, dass er dich nimmt!"
"Zahlen... Dann hoffe ich, dass meine Mitgift Sie in den Ruin treibt, Vater!"
"Du undankbares Stück!"
Ich kann mich gerade noch ein wenig drehen, sodass sein Gehstock auf meinen Rücken knallt, anderenfalls hätte er voll meine Seite getroffen. Dennoch keuche ich auf und unterdrücke einen Schrei.
Mein Vater sieht mich wütend an. "Ich habe dich nicht dazu erzogen so frech zu sein! Überlege dir das nächste Mal, wie du mit deinem Vater redest! "
Ich schlucke meine Tränen herunter. Am liebsten würde ich weglaufen. Aber wohin?
"Wie alt ist dieser Graf?", frage ich leise. Wenn er noch jung ist, wird er sich vielleicht in mich verlieben und ich könnte ein anderes Schicksal haben, als das meiner Mutter.
"Er ist im besten Alter und durchaus noch in der Lage, dir ein Kind zu machen", entgeget mein Vater.
Mir wird schlecht bei diesen Worten, denn es bedeutet, dass dieser Graf schon alt ist, wahrscheinlich sogar über 40 Jahre! "Ich werde diesen Grafen nicht heiraten!"
Mit den Worten wende ich mich ab und stürme aus dem Zimmer.
Im Flur bleibe ich kurz stehen und schaue mich um. Kurz überlege ich, ob ich in mein Zimmer gehen und mich aufs Bett werfen soll.
Mir wird klar, dass mein Vater bei dieser Sache nur seinen eigenen Vorteil sieht und ich nur ein Mittel zum Zweck bin.
Während meine Schritte mich in den Garten tragen, wird mir bewusst, dass mein Vater nur von dem Geld sprach.
Weil der Mann, den ich heiraten soll, sonst nichts weiter vorzuweisen hat!
Ich verliere beinahe meine Schuhe, während ich mit gerafften Röcken über die grüne Wiese laufe. Und ich laufe weiter. Immer weiter, bis ich das geschäftige Treiben am Hafen erreiche. Dort, wo die großen Galeonen stehen und nur darauf warten, in See zu stechen.
Fernweh packt mich und ich suche den Hafen nach einem ganz bestimmten Schiff ab; die Vierge Marie.
Und wie erwartet, sehe ich Nouel, der gerade dabei ist, ein riesiges Seil zu spannen. Sein kinnlanges, blondes Haar glänzt in der Sonne und sein junges Aussehen hebt ihn deutlich von der Masse der erfahrenen Seemänner ab.
"Nouel!", rufe ich erfreut darüber, ihn zu sehen.
Nouel schaut zu mir und lächelt breit. Seine blauen Augen strahlen mich an und mein Herz macht einen Hüpfer. Warum ist er nicht einfach der Graf, den ich heiraten kann? Auch, wenn er eher wie ein großer Bruder für mich ist, so könnte ich mich vielleicht in ihn verlieben. Er wäre zumindest ein guter, fürsorglicher Ehemann.
Er ist zwar nicht arm, da sein Vater ein Schiff besitzt, hat aber leider keinen Titel und ist einer Baroness nicht würdig. So sagt es jedenfalls mein Vater.
Winkend ruft er mir zu: "Komm hoch, Alisea. Ich bin gleich fertig."
Ich trete näher und beiße mir kurz auf die Unterlippe, als ich sehe, wie sich das Hemd um seinen Oberarm spannt, als er das Seil festzieht.
Bisher war mir nie bewusst, wie kräftig er ist und ich habe ihn immer als den Jungen gesehen, mit dem ich seit Jahren - heimlich - spiele. Wir sehen aus wie Geschwister, daher war es für mich nie schwer, mit ihm hier am Steg um die Wette zu laufen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich adelig bin.
Mittlerweile sind wir natürlich aus dem Alter raus, wo wir Gauner, Gendarm und Piraten spielen.
Wie gern mochte ich es, wenn er versucht hat, mich zu fangen. Ich war immer zu schnell für ihn.
Aber nun ist alles anders. Ich bin nicht seine kleine Schwester, sondern eine Baronesse. Und er ist ein Seemann. Sein Vater befehligt eines der Schiffe, die meinem Vater gehören.
"Fahrt ihr bald wieder los? Ich dachte, das Schiff habe erst gestern wieder angelegt."
Die Vierge Marie - die Jungfrau Maria - erkenne ich sofort, wenn ich sie sehe. Es ist das wichtigste Schiff in der Flotte meines Vaters.
Ich finde, es ist das schönste Schiff, mit dem Abbild der heiligen Jungfrau vorn am Bug. Eine wunderschöne, vergoldete Galeonsfigur.
Nouel lächelt mich breit an und schiebt eine Strähne seines Haares hinter sein Ohr. "Hast du mich etwa schon vermisst? Wir waren doch nur eine Woche weg."
Er schnippt mir frech auf die Nase und lacht, während seine hellblauen Augen belustigt funkeln. "Wir laden tatsächlich nur ab und wieder auf. Danach schickt uns dein werter Vater nach Korsika. Ich habe aber jetzt etwas Zeit für dich. Sollen wir zur Bucht gehen?"
"Besser! Komm mit!"
Ich greife nach der Hand von Nouel und ziehe ihn mit mir, laufe am Hafen vorbei zum Fort Saint-Jean.
Unglaublich, dass diese Festung vor einem Jahrhundert erbaut wurde.
Und ich liebe es einfach, wenn ich mich an den Wachen vorbei schleiche und das riesige Fort umrunde, bis ich am Wasser bin.
Nouel zieht seine Schuhe aus und setzt sich so, dass seine Füße ins Wasser ragen. Dann schließt er kurz die Augen und streckt die Nase nach oben. Dabei zieht er die Unterlippe über seine Zähne, bevor er seine strahlend blauen Augen wieder öffnet und in die Ferne blickt.
Er schwärmt: "Riechst du das Meer? Ich liebe es."
Ich starre ihn einfach nur an.
Warum fiel mir vorher nie auf, wie wahnsinnig gut er aussieht? Volle, sinnliche Lippen und ein warmes, freundliches Gesicht.
Er dreht seinen Kopf in meine Richtung und schaut mich fragend an.
"Ist alles gut? Was hast du? Du siehst aus, als ob du ein Geist gesehen hast."
"Ich, ehm... Nein, alles gut."
Ich setze mich dazu und überlege, ob ich auch meine Schuhe ausziehen soll. Die Füße in das Wasser zu tauchen muss herrlich sein.
Aber obwohl mein Vater mehr Wert auf seine Reederei, als auf seinen Adelstitel legt, bin ich immer noch die Tochter eines Barons und muss daher einen gewissen Anstand wahren.
"Sag mal, Nouel... Hast du den Namen eines gewissen Grafen Roux schon mal gehört?" Nun schaue ich wieder auf das Wasser und beobachte die kleinen Fischerboote.
Nouel nickt. "Ja, wie kommst du jetzt darauf? Unsere nächste Ladung geht an Graf Roux. Jede Menge Schrott, sage ich dir. Ich frage mich, was er mit kistenweise Kleidern will. Aber naja, vielleicht handelt er ja damit. Mir soll's recht sein, denn die Kisten sind nicht schwer. Dann meckert die Mannschaft nicht wieder so 'rum."
Meine Kehle wird trocken und ich frage mich, ob diese Kleider für mich bestimmt sind.
Plant mein Vater bereits meinen Auszug? Vielleicht hätte ich doch in mein Zimmer laufen sollen.
Wird es bereits leergeräumt?
"Ich soll diesen Grafen heiraten. Also sag mir alles, was du über ihn weißt!
Mein Vater sagte nur, er sei reich." Nun drehe ich mich doch zu Nouel um und greife dabei nach seiner Hand, drücke diese fest.
Ihm entweicht die Farbe aus dem Gesicht. Jetzt sieht er mich an, als ob er einen Geist gesehen hätte. "Du sollst was?! Sag das bitte nochmal. Ich glaube, ich habe mich verhört! Heiraten?"
"Nouel, bitte...!" Mein Herz rast, weil ich es nun wirklich mit der Angst zu tun bekomme. "Ist er ein Grobian? Ist er bekannt dafür, dass er Frauen schlägt?"
Ich drücke die Hand von meinem besten Freund so fest, dass meine Fingerknöchel weiß werden.
"Was weißt du über ihn?!"
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