196 - Unsere neue Heimat
Ich sitze mit meiner Mutter und Alisea in einem geräumigen Wohnzimmer. Cedric schläft etwas abseits in einem Sessel. Er wurde vorhin nur einmal kurz wach und meine Mutter hat kaum ihre Augen von ihm lassen können.
Meine Mutter beugt sich etwas vor. „Aber jetzt erzählt! Was habe ich alles verpasst?"
Alisea schaut erst zu mir, dann zu meiner Mutter. „Nun, nachdem ich Ihnen geholfen hatte, das Land zu verlassen, passierte nicht viel. Mein Vater hat mich immer wieder verlobt und ich habe die Männer immer wieder verschreckt. Aber letztes Jahr wurde er drängender und hat mich mit dem alten Graf Roux verlobt."
„Mit diesem Scheusal?!", fragt meine Mutter schockiert. „Dein Vater weiß doch, was für ein Widerling dieser Mistkerl ist!"
Alisea presst kurz die Lippen zusammen und schaut zu mir. Sie weiß sicher nicht, was ich jetzt preisgeben möchte, aber ich will vor meiner Mutter keine Geheimnisse haben.
Daher erzähle ich zunächst die Kurzfassung. „Mein Vater war genauso ein Scheusal wie Marchand. Wir haben sie beide getötet. Deshalb mussten wir letztendlich auch fliehen."
Meiner Mutter klappt die Kinnlade herunter und sie schaut mich geschockt an.
Sofort hebe ich beide Hände. „Ich kann nicht rechtfertigen, was wir getan haben, aber die Umstände haben es so gefordert. Marchand hat meine Familie angegriffen und ich werde alles tun, um sie zu schützen! Und mein Vater hat mich damals tot sehen wollen, nachdem er mir erzählt hat, dass er dich hinrichten ließ. Ich habe erst von Alisea erfahren, dass du noch lebst."
Es herrscht plötzlich eine unangenehme Stille. Keiner wagt, diese zu unterbrechen. Was meiner Mutter jetzt wohl gerade alles durch den Kopf geht? Es ist sicher hart für sie zuhören, dass ihr Sohn getötet hat.
Sie seufzt leise und schaut kurz zu Alisea und dann wieder zu mir. „Ich muss das ganze erstmal verarbeiten. Aber was hast du gesagt? Roux hat dir erzählt, ich wäre tot und er wollte dich töten lassen? Warum?"
„Weil er ein Scheusal war", erkläre ich knurrend. „Nachdem du weg warst, hat er mich wegen Diebstahl ins Gefängnis gebracht und wollte mich hängen lassen. Ich habe es Belial zu verdanken, dass ich noch lebe. Er hat mich damals gerettet und so bin ich Pirat geworden. Ich weiß, es ist alles jetzt etwas viel, aber ich werde dich nicht anlügen."
Meine Mutter sieht wieder zu Alisea.„Aber offensichtlich hat sich nun endlich alles zum Guten gewendet und du hast die Frau geheiratet, die deinen Vater ehelichen sollte. Wie kam es dazu?"
Alisea schaut zwischen mir und meiner Mutter hin und her. Ich möchte nicht, dass sie sich unbehaglich fühlt, aber ich musste alles erzählen.
„Es steckt mehr Gutes in Lestat", erklärt meine Frau und lächelt. „Er kommt da definitiv mehr nach Ihnen, als nach seinem Vater."
Ich habe mir fast schon gedacht, dass sie mich schützen will, aber das macht die Geschichte auch nicht besser. Deswegen erzähle ich meiner Mutter daraufhin gnadenlos ehrlich, wie wir uns kennenlernten und dass ich mich dabei in sie verliebte. Auch lasse ich die Geschichte nicht aus, als ich sie verkauft habe. „Mir wurde sehr schmerzhaft bewusst, was ich da gerade für einen Mist gebaut habe, als ich Alisea auf dem Podest gesehen habe. Sie sah zu mir rüber und ich konnte in ihren Augen den Schmerz sehen, den ich ihr zugefügt hatte."
Ich schließe die Augen und öffne sie erst wieder, als meine Mutter ihre Hand auf mein Bein legt. Da sehe ich wieder zu ihr. „Ich habe erst gemerkt, dass ich sie wirklich liebe, als es zu spät war. So einen Schmerz in mir hatte ich das letzte Mal gefühlt, als ich dachte, du wärst gestorben, Mutter."
„Aber sie ist ja nicht gestorben. DU hast sie verkauft!" Das klang sehr anklagend und obwohl sie noch immer ihre Hand auf meinem Bein hat, wirft sie Alisea einen mitfühlenden Blick zu. Dann wird ihre Miene jedoch wieder so ernst wie ihre Stimme. „Aber Alisea ist jetzt hier, nach allem, was du ihr angetan hast. Warum?"
Jetzt zweifele ich doch, ob es eine gute Idee war, ihr alles zu erzählen. Sie wirkt so wütend und irgendwie hat sie sogar recht. „Ich ... ähm... habe sie dann gerettet", erkläre ich stotternd.
Meine Mutter lehnt sich wieder zurück und schüttelt den Kopf. „Das stimmt doch gar nicht. Du kannst sie doch nicht vor etwas retten, was du ihr angetan hast. Du hast dich gerettet!"
Alisea räuspert sich leise. „Obwohl ich wirklich viel mitmachen musste, habe ich irgendwann einfach gewusst, dass er tief in seinem Herzen ein guter Mensch ist. Erstrecht, nachdem ich weiß, wer seine Mutter ist."
Ich sehe zu Alisea und denke an all die Scheiße zurück, die passiert ist. Dennoch hat sie mir verziehen und dafür bin ich dankbar.
„Ich wusste einfach, dass er mehr nach seiner Mutter kommt, als nach seinem Vater. Und obwohl er einerseits immer wieder gemein zu mir war, gab es doch Momente, in denen ich im Nachhinein erkannt habe, wie sehr er mich mag." Sie lächelt kurz. „Lestat war immer da, wenn es mir wirklich schlecht ging."
Meine Mutter seufzt leise. „Ihr seid ja jetzt zusammen hier und habt nun einen Sohn, um den ihr euch kümmern müsst. Dennoch..." Sie hebt ihren Finger und schaut mich mahnend an. „... du hast verdammt großes Glück, dass sie dir das verziehen hat. Daran solltest du immer denken, wenn du sie siehst."
Ich nicke ernst. „Das tue ich jeden Tag."
Alisea wendet sich an meine Mutter. „Wir haben allerdings noch ein Problem, das wir mit Ihnen besprechen möchten. Bei unserer Flucht sind uns einige Freunde gefolgt und wir bräuchten eine Unterkunft, bis wir uns hier etwas Eigenes aufgebaut haben." Dann sieht sie wieder zu mir.„Vorausgesetzt, du willst dich hier niederlassen. Vielleicht etwas näher zum Strand, ein eigenes Haus."
...
Damit nimmt alles seinen Lauf. Meine Mutter hat uns bei sich aufgenommen, bis wir einige Monate später ein Haus am Strand gebaut haben. Ote und meine Crew machen das Meer unsicher, während ich mir langsam vorkomme, als ob ich sesshaft werde.
Gerade sitze ich wieder am Strand und schaue auf das Meer hinaus, da klopft mir jemand auf die Schulter und lässt sich neben mir auf den Boden nieder. Es ist Ote der mich angrinst. Wo kommt der denn jetzt her? „Hattest du Sehnsucht nach deinem alten Freund? Wie lief euer Raubzug?", frage ich ihn.
Ote grinst breit. „Die Beute hier ist um einiges besser, als im Mittelmeer. Aber wir müssen echt aufpassen, wen wir angreifen. Hier gibt es einiges an Konkurrenz." Er reibt sich den Nacken und streckt die Füße aus. „Du fehlst an Bord. Willst du wirklich sesshaft bleiben?"
Ich wende meinen Blick von ihm ab und schaue zum Meer, dabei atme ich ganz tief ein. „Ich habe mir schon eine Werkstatt eingerichtet und angefangen, alles Mögliche an Blödsinn zu bauen. Aber es erfüllt mich nicht. Was soll ich sagen? Mein Leben ist nicht langweilig mit Alisea und Cedric, aber...." Ich unterbreche den Satz. Dabei wollte ich gerade das Gegenteil dranhängen. Es ist sterbenslangweilig. „Ich weiß manchmal einfach nichts mit meiner Zeit anzufangen. Ich liebe meine Frau und mein Kind, aber irgendetwas fehlt mir. Nein, nicht irgendwas: Das Meer. Ich beneide dich sogar manchmal."
„Wir wollen ein paar Tage an Land bleiben. Vielleicht können wir sogar in der Nähe einen vernünftigen Steg bauen." Er deutet dabei auf eine Stelle an der Küste, die sich dafür eignen würde. „Dann können wir zwei, dreimal im Jahr hier anlegen. Die Raubzüge dauern eh nicht so lange, wie noch im Mittelmeer. Du wärst nur wenige Wochen weg."
„Das wäre eine gute Idee. Alisea hat sowieso schon vorgeschlagen, dich zu kontaktieren. Vielleicht will sie mich auch einfach mal los sein."
Ote lacht laut und haut mir dabei wieder auf die Schulter. „So sind die Frauen eben. Sie wollen auch ihre Freiheiten." Er grinst breit und dreht sich halb, um zu den Häusern hinter uns zu schauen. „Was ist eigentlich aus Vittoria geworden? Lebt sie noch mit Guilia zusammen auf der Plantage deiner Mutter?"
„Ja, aber ich sehe sie kaum. Die gehen mir aus dem Weg. Wieso fragst du?"
„Wir sind auf der Überfahrt hierher ein paar Mal aneinander geraten und ich überlege nun, ob ich sie einfach entführe, in meine Kajüte einsperre und sie erst wieder herauslasse, wenn sie..." Er stockt und fängt kurz an zu lachen. „Ich verstehe es nicht, aber sie schwirrt die ganze Zeit in meinem Kopf und ich höre immer ihre Stimme, wenn ich in meiner Kajüte bin. Das fühlt sich manchmal an, als wenn ich verrückt werde!"
„Das hört sich auch so an, um ehrlich zu sein." Ich muss lachen. Mir fiel gar nicht auf, dass Ote ein Auge auf Vittoria geworfen hat, als wir hier her geflohen sind. Aber vielleicht wurde ihm das auch erst bewusst, als er wieder auf Raubzug war. „Jedenfalls würde ich sie um eine Verabredung bitten, anstatt sie zu entführen. Das wird um einiges einfacher werden."
„Ach, sie darf mir gerne den Kopf abreißen. Ich mag es einfach, wenn sie wütend wird." Ote schnauft und streicht sich die Haare zurück. „Das habe ich jetzt nicht wirklich gesagt... Sie hasst mich, nicht dich! Dabei habe ich ihre kleine Schwester nicht mal gevögelt!"
„Hmm... du willst doch jetzt nicht auch noch sesshaft werden", entgegne ich scherzend, werde dann aber direkt wieder ernst. „Ich werde nicht zulassen, dass du Vittoria aufs Schiff entführst. Was meinst du, was ich mir dann von Guilia und Alisea anhören darf?"
„Na, vielleicht würde Alisea mich bei der Idee sogar unterstützen. Ich sollte mal mit ihr darüber reden. Sie hat bestimmt auch eine andere Idee." Ote springt auf und schaut zu mir herunter. „Dann kann ich ihr ja auch direkt sagen, dass sie dich für ein paar Wochen im Jahr vor die Tür setzen soll und ich in der Zeit auf dich Acht gebe."
Irgendwie fühlt es sich gut an, wieder die Aussicht darauf zu haben, an Otes Seite auf dem Meer unterwegs zu sein. Alisea wird sicher nichts dagegen haben.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro