172 - Die letzte Rechnung
Gedankenverloren betrete ich mein Schiff und überlege, wie ich meiner Mannschaft jetzt beibringe, dass wir wieder ablegen. Pepin müsste mich ja eigentlich verstehen. Es ist besser, wenn ich Alisea nicht mehr im Weg stehe.
Ote klopft mir von der Seite grinsend auf die Schulter. „Hey, Lestat!"
„Oh, du kannst ja wieder stehen!"
„Sicher!", entgegnet er und grinst breit. „Unkraut vergeht nicht, das habe ich dir doch schon oft gesagt. Und wie ist es gelaufen? Lässt diese Ninette dich ins Schloss?" Ote schwankt noch etwas. Es sieht mir nicht danach aus, als ob er schon herumlaufen sollte. Seine Verletzungen müssen noch unheimlich schmerzen, auch wenn er versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
„Lass uns in meine Kajüte gehen, dann erzähle ich dir alles. Brauchst du Hilfe?" Ich strecke mein Arm aus, aber Ote schlägt nur genervt danach.
„Quatsch. Es geht mir schon wieder gut."
Ich schmunzle ein wenig und gehe langsam los. Er folgt mir und so kommen wir in meiner Kajüte an. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und Ote auf die Chaiselongue.
„Ich habe mich entschieden, wieder abzulegen und den üblichen Geschäften nachzugehen."
„Was, warum?", fragt Ote überrascht. „Was ist mit Alisea? Und deinem Plan, deinen Vater zu töten?" Er streicht sich durch das Gesicht und beugt sich zu mir vor. Dabei verzieht er das Gesicht und greift sich an den Bauch.
„Pläne ändern sich", erwidere ich knapp, allerdings schaut Ote mich skeptisch an, deswegen erkläre ich mich: „Ich dachte, Alisea geht es schlecht, aber Ninette hat bestätigt, dass es ihr gut geht. Sie will den Grafen heiraten. Alisea hasst mich, Ote... was soll ich da jetzt noch machen? Es ist besser, wenn ich sie einfach ziehen lasse. Sie ist eben eine Baronesse und ich ein Pirat."
Ote schüttelt den Kopf und will etwas sagen, doch ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.
„Ich versinke nicht in Selbstmitleid, falls du jetzt damit kommst. Ich will nur realistisch bleiben. Irgendwie habe ich nicht nachgedacht und mein Hirn war vernebelt. Ich will mein Leben nicht aufgeben und ein verdammter Adliger werden. Es macht mehr Sinn, uns weiter auf den Meeren herumzudrücken und frei zu sein. Ihr seid eben meine Familie und nicht die."
Ote legt nachdenklich die Stirn in Falten und obwohl er gerade eben noch etwas sagen wollte, schweigt er nun sehr lange und sieht mich eindringlich an. Aber dann fragt er:„Und was sagt dir dein Bauchgefühl? Liebt Alisea dich oder hasst sie dich?"
„Das spielt doch keine Rolle. Ninette war mehr oder weniger geschockt. Sie hat Alisea gefragt, ob sie mich sehen will und Alisea hat ihr deutlich gesagt, dass sie mich am liebsten tot sehen will. Ein Bauchgefühl kann einen wohl doch trügen. Außerdem habe ich die Briefe an ihren Großvater und Vater gelesen. Da stand drin, dass sie den Grafen heiraten will." Ich seufze tief. „Ich könnte meinen Vater jetzt töten, aber was wird dann aus Alisea?"
Ote brummt unzufrieden. „Sollte dich das wirklich noch interessieren, wenn sie offensichtlich kein Interesse an dir hat?"
Sollte mich das interessieren? Gute Frage. Warum tut es das? Ich könnte meinen Vater dennoch töten. Ich bin doch völlig vernebelt. Was interessiert sie mich, wenn ich ihr doch scheiß egal bin? Ich halte einen Moment inne und lasse mir das nochmal durch den Kopf gehen. Dafür bin ich doch eigentlich hier. Ich will meine Rache. Aber ich kann nicht. „Du verstehst das nicht. Sie bedeutet mir etwas, auch wenn ich ihr nichts bedeute. Ich will nicht, dass es ihr schlecht geht, auch wenn ich sie nicht haben kann. Pepin würde das vielleicht eher verstehen."
Ote seufzt und lehnt sich wieder zurück. Dabei keucht er unter Schmerzen auf, schließt einen Moment die Augen und drückt die Hand wieder gegen seinen Bauch. „Ich verstehe dich nicht, Lestat. Du willst, dass Alisea glücklich ist und trotzdem willst du sie bei deinem Vater lassen? Das passt doch nicht!"
Ich weiß gerade selbst nicht was ich will, aber das kann ich Ote jetzt nicht sagen. Ich fühle mich verletzt und vielleicht bin ich sogar etwas eingeschnappt und das passt nicht zu einem Piraten. Ich erinnere mich da an Pepins Worte. Wie wirkt das denn jetzt vor meiner Mannschaft. Was bin ich nur für ein Weichei geworden?
Kein Wunder, dass Ote mich nicht versteht. Er ist kein Weichei. Er weiß immer was er will. Er hat seine Prinzipien und weicht davon auch nicht ab. „Du hast ja recht. Ich musste das Chaos in meinem Kopf nur wieder regeln. Ich tue ihr einen Gefallen, wenn ich den alten Sack umbringe. Alisea hat dann alle Möglichkeiten, jemand anderen zu heiraten. Jeder der weiß, welches Erbe hinter ihr steckt, nimmt sie mit Kusshand, auch wenn sie keine Jungfrau mehr ist."
Die Tür geht plötzlich auf und Pepin steckt seinen Kopf herein. „Ich habe gehört, Ote war wieder an De-" Er stockt, als er sieht, dass Ote nicht im Bett liegt, sondern auf der Chaiselongue sitzt. „Meine Fresse! Du bist also wirklich wieder auf den Beinen!"
Ote grinst breit. „Ich hatte eben noch nicht vor, ins Gras zu beißen. Ich kann euch ja nicht alleine lassen und schon gar nicht Lestat. Der hat doch schon wieder eine neue, tolle Idee. Er will ablegen und Alisea ihrem Schicksal überlassen."
Seine Worte triefen vor Ironie und hören sich echt fies für mich an. Ich verdrehe die Augen. „So ist das nun auch nicht."
Pepin mustert mich interessiert. „Wieso sollen wir wieder ablegen?" Er setzt sich zu Ote und sieht mich neugierig an.
Ich will nicht alles nochmal erzählen und könnte Ote gerade eine reinhauen. Muss er jetzt Pepin noch da reinziehen? Ich bin doch sowieso maximal verwirrt. Das weiß ich doch selbst.
Die beiden schauen mich an und wollen wohl etwas von mir hören. „Also die Kurzform für dich: Alisea will mich nicht mehr sehen, außer tot. Ich hatte überlegt, sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Aber Ote hat recht. Ich bin hier, um meinen Vater zu töten und habe eben auch schon gesagt, dass ich den Plan dennoch durchziehen kann. Alisea findet auch wen anderen."
Pepin kneift die Augen kurz zusammen. „Warum sollte Alisea dich nicht mehr wollen?"
„Weil es jemand Lestat gegenüber gesagt hat", antwortet Ote für mich, „Alisea will Lestat angeblich nur tot sehen."
„Blödsinn", entgegnet Pepin, „das glaube ich nicht. Kannst du der Person denn vertrauen, die dir das gesagt hat, Lestat?" Pepin dreht sich zu mir, redet dann aber sofort weiter: „Ach, selbst wenn! Kann Alisea dieser Person vertrauen? Ich glaube nicht, dass Alisea überhaupt noch jemandem traut, nach allem, was ihr widerfahren ist!"
Ote nickt zustimmend. „Sie kann ja nicht einmal mehr ihrem eigenen Vater vertrauen. Ich wette, Alisea kennt die Briefe von Marchand und Roux, die du sicher noch in deiner Schublade hast, Lestat. Warum also schreibt sie ihrem Vater doch einen Brief?"
Ich stütze meine Ellenbogen auf den Tisch und knete meine Schläfen etwas. Vielleicht hat Pepin nicht unrecht. Nach allem was Alisea widerfahren ist... wem soll sie noch trauen? Mir? Sicher nicht... ich bin doch an allem Schuld. Ich habe ihr so viel angetan. Es ist doch kein Wunder und beschützen konnte ich sie auch nicht!
Auch wenn Alisea mich nicht mehr sehen will, sollte ich wenigstens versuchen, meinen Vater zu töten, bevor er sie heiratet und ihr Leben noch mehr zerstört. Sie wird niemals bei ihm glücklich. Vermutlich wäre ein Harem wirklich sogar besser für sie gewesen und davor habe ich sie auch bewahren wollen. Daran hat sich doch nichts geändert. Deshalb sage ich meinen Freunden: „Ich kann Ninette vertrauen. Ich kenne sie, seit wir Kinder sind. Sie ist mir einiges schuldig. Sie wird mich in das Schloss einschleusen. Dann werde ich meinen Vater töten und mit Alisea reden."
Ote nickt ernst. „Das klingt doch schon wieder nach dem Lestat, den ich kenne!"
„Soll ich dich begleiten?", fragt Pepin.
„Nein, da muss ich alleine durch." Ich will meine Freunde da nicht reinziehen, sollte es schiefgehen. Das ist meine Angelegenheit. Zum Glück, versteht Pepin das auch und so gehe ich am nächsten Tag wieder auf den Markt.
Ich habe mich nicht mit Ninette verabredet und kann nur hoffen, dass sie auch heute wieder einkauft. Ich bin wesentlich früher da, um sie auf keinen Fall zu verpassen und gehe immer wieder an den Ständen vorbei.
Bis ich plötzlich ihre Stimme höre:„Lestat! Wie schön, dich wieder hier zu sehen. Ich dachte gestern schon, deine Worte hätten einen Abschied bedeutet." Sie geht auf mich zu und hat einen Korb mit Orangen bei sich.
Ich lächle sie an. „So leicht lasse ich mich auch nicht abschrecken und ich bin eben hartnäckig. Steht dein Angebot noch, mich ins Schloss einzuschleusen? Ich würde gerne davon Gebrauch machen, auch wenn Alisea nicht mit mir reden will."
Ninette legt den Kopf schief und sieht mich nachdenklich an. Ihre Worte sind langsam und mit Bedacht gesprochen, wobei sie sogar noch ihre Stimme senkt: „Ich glaube, ich ahne jetzt, was hier vor sich geht und warum Alisea vorgibt, ihre Blutung zu haben."
„Wie meinst du das, dass sie vorgibt, ihre Blutung zu haben?", frage ich verwirrt.
„Sie will dich beschützen!" Ninette greift plötzlich nach meiner Hand und zieht mich mit sich. „Du musst mit ihr reden. Sofort!", sagt sie nachdrücklich.
Ich laufe kurz hinter ihr her, aber verstehe nicht, was sie jetzt von mir will. Blutung vorgeben? Warum tut sie das? Um den Grafen schneller zu heiraten? Oder ist sie schwanger? Bei dem Gedanken bleibe ich abrupt stehen und Ninette verliert fast die Orangen aus dem Korb. „Ich verstehe nicht, was du mir jetzt sagen willst. Meinst du, Alisea ist in anderen Umständen?"
„Ja!", bestätigt Ninette. „Die Baronesse ist ganz bestimmt schwanger. Deswegen isst sie auch nur so wenig und will mich morgens nicht sehen!"
Mir entgleisen die Gesichtszüge. Es ist beinahe einen Monat her, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Kurz überschlage ich die Tage im Kopf. Sie müsste schon wieder ihre Blutung haben. „Woher weißt du, dass sie nur vorgibt ihre Blutung zu haben und wie soll sie das anstellen?"
„Sie hat irgendwas Blutiges in ihr Höschen getan. Ich weiß nicht genau, wie oder was sie da macht. Aber es sah komisch aus."
„Es ist mein Kind", rutscht mir heraus.
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