167 - Ungebetene Gäste
Ich betrete den großen Festsaal, der bestimmt drei Mal so groß ist wie der Speisesaal, wo ich gestern mit dem Grafen zu Abend gegessen habe. Der Tisch ist bereits eingedeckt, zudem sind an den beiden langen Seiten noch weitere Stühle und Gedecke. Es wurden sogar noch zwei weitere Tische aufgestellt. So ist Platz für über hundert Personen.
„Graf de Roux." Ich knickse brav und halte demütig meinem Blick gesenkt.
„Setz dich, die Gäste dürften bald eintreffen."
Ich erhebe mich und sehe zum großen Tisch. „Wünscht Ihr mich zu Eurer rechten Seite oder soll ich wieder gegenüber sitzen?"
„Da, wo es sich gehört! Setz dich gegenüber und halte deinen Mund!"
Kaum hat er das gesagt, betritt ein Diener den Raum. „Die Gäste sind da."
„Sind es alle?", fragt Roux mit leicht genervtem Unterton.
Der Diener wirkt etwas verunsichert. „Ich glaube schon."
„Sehr gut, dann führe sie herein."
Ich gehe zur anderen Seite vom Tisch und bleibe dort neben dem Stuhl stehen, da sich nun erneut die Tür öffnet und ich schwere Stiefelschritte höre. Es haut mich fast von den Füßen, als ich sehe, dass da gerade Arthur und John den Raum betreten, gefolgt von weiteren Piraten.
Arthur richtet sofort das Wort an den Grafen und verbeugt sich dabei leicht. „Graf Roux! Welch Freude!" Er spricht Englisch und geht breit grinsend auf den Grafen zu.
„Ganz meinerseits", erwidert Graf de Roux und macht eine einladende Geste in den Raum hinein. „Setzt euch doch. Es gibt genug Platz für jeden." Er zeigt auf die Stühle bei ihm, wo die Piraten sich sogleich niederlassen.
John sieht zu mir herüber. „Schau mal einer an. Sie ist ja richtig herausgeputzt. So wirkt sie doch gleich ganz vornehm."
Roux schaut zu John herüber. „Und du bist, bitte wer?"
John grinst und setzt sich ausgerechnet links von mir. „John Hetchings, erster Maat und rechte Hand von Black Arthur."
Immer mehr Piraten kommen in den Saal und der ganze Raum ist erfüllt von den Stühlen, die heraus- und wieder herangezogen werden.
Arthur wendet sich an Roux und setzt sich direkt zu dem Grafen. „Also ist sie Eure Baronesse, verehrter Graf?"
„Wenn nicht, hätten wir ja keinen Grund zu feiern. Ihr habt meine Braut wohlbehalten zu mir gebracht. Dafür bin ich euch dankbar."
Ich muss mich zusammenreißen, damit mir nicht der Gesichtsausdruck entgleist. Hat er heute Morgen nicht zugehört? Sie haben mich geschändet! Aber zumindest ist er nun davon überzeugt, dass ich die echte Alisea de Marchand bin. Denn gerade eben glaubte ich noch, er würde mich den Piraten geben wollen.
Der Graf steht auf und schaut sich um. Dann hebt er sein Glas hoch. „Lasst uns auf Alisea de Marchand anstoßen."
Die Diener eilen herbei, um alle Gläser mit Wein zu füllen. Dann stehen die Piraten auf und greifen nach den Weingläsern.
Auch ich stehe zögernd auf und greife nach dem Weinglas. Aber nur schon der Gedanke, Wein zu trinken, ruft Übelkeit in mir hervor.
„Auf die Braut!", ruft Arthur überschwänglich.
John stimmt sofort mit ein und betrachtet mich von der Seite. „Auf die kleine Baronesse!"
Auch die anderen Piraten stoßen auf mich an und heben ihre Weingläser.
Der Graf nickt wohlwollend. „Auf reiche Beute für euch. Lasst uns trinken und danach reichlich speisen."
Die Piraten stoßen noch untereinander an und trinken freudig, während ich das Weinglas wieder hinstelle und mich setze. Der Graf hat sich auch wieder hingesetzt.
Sie lachen und lassen sich sogar noch Wein nachschenken.
Ich hingegen starre über den Tisch hinweg zu Roux, der mit einem Finger gegen sein Glas klopft, sodass der Ring, den er trägt, jedes Mal das Glas zum klirren bringt. Aber er trinkt nichts aus seinem Glas.
Verwirrt hebe ich die Augenbrauen und schaue auf mein Weinglas. Und gerade, als ich mich frage, warum der Graf davon nicht trinkt, fangen die ersten Piraten an zu husten.
Ich weiche auf meinem Stuhl zurück, als John neben mir plötzlich Blut spuckt, während er hustet.
„Gift!", flucht Arthur. „Scheiße, der Wein ist vergiftet!" Der Kapitän steht so schnell auf, dass sein Stuhl umkippt.
Währenddessen brechen immer mehr Piraten zusammen und husten sich die Lunge aus dem Leib.
Ich springe von meinem Stuhl auf, als John nach mir greifen will, während er sich mit der anderen Hand an die Kehle packt.
Arthur schaut entsetzt zu seinen Männern und richtet seinen Blick anschließend auf den Grafen. „Das wirst du bereuen, du verdammter Betrüger!"
Ich trete ein paar Schritte zurück. Es ist laut und ich höre viele Flüche aus allen Richtungen, aber Arthur scheint noch nicht vergiftet zu sein oder es wirkt noch nicht. Er greift nach seinem vollen Weinglas und knallt es auf den Tisch. Nein, er hat auch keinen Wein getrunken, so wie der Graf und ich.
Mit einer Scherbe geht er auf den Grafen zu. In dem ganzen Tumult, bemerkt dieser ihn gar nicht.
Ich sehe wieder auf mein Weinglas undkippe es um. Dabei zerbricht der filigrane Kelch und nur der Fuß mit dem Stiel bleibt übrig. Die ganze Situation wirkt plötzlich so surreal und ich sehe zu Graf Roux, der dabei zusieht, wie die Piraten Blut husten und elendig ersticken.
Erst jetzt fällt mir auf, dass zwar für mehrere Personen der Tisch gedeckt ist, aber keine Speisen darauf sind. Es gibt auch keinen großen Teppich, sondern der Boden ist mit grauen, hässlichen Läufern bedeckt.
Dann geht mein Blick zu Arthur und unsere Blicke treffen sich sogar. Er wird Graf Roux töten und ich hätte prinzipiell nichts dagegen. Aber dann wird der Pirat auf mich losgehen. Ich greife nach dem zerbrochenen Weinglas und umklammere den Fuß, sodass der Stiel wie ein scharfes Messer hervorsticht.
Arthur wird von einem Piraten am Fuß gepackt, sodass dieser nicht sofort auf den Grafen losgehen kann.
Diesen Moment nutze ich und eile zu Arthur. Während ich ihn anstarre, kocht Wut und Abscheu in mir hoch für alles, was er und John mir angetan haben. Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr!
Arthur beugt sich leicht nach vorn, um sich von dem Piraten loszureißen. Er tritt diesem sogar mit voller Wucht gegen den Kopf. Dann richtet er sich wieder auf und neigt sich zu Roux. Die Hand mit der Glasscherbe streckt er dabei weit aus.
Genau im selben Moment stoße ich das improvisierte Messer in die Kehle von Arthur, der dadurch ins Stocken kommt und röchelt.
Er dreht sich zu mir und packt mein Handgelenk. Der Stiel des Glases steckt in seinem Hals und ich ziehe ihn schnell wieder heraus, damit das Blut ungehindert fließen kann.
Arthur keucht und greift sich an den Hals. „Du verdammte Schlampe!" Er tritt mir in den Bauch. Damit habe ich nicht gerechnet und ich schnappe nach Luft vor Schmerz.
Arthur will gerade ausholen und mir ins Gesicht schlagen, als sich eine Klinge quer über seinen Hals zieht. Dadurch lässt Arthur mich los und ich weiche schnell einen Schritt zurück. Der Pirat sackt langsam zu Boden und fällt kopfüber auf den Läufer.
Hinter ihm steht Graf Roux, der mit unbeteiligtem Gesicht die blutverschmierte Klinge an einer Serviette säubert. „Lästig dieses Gesindel, nicht wahr?"
Er schaut sich um. Die meisten Piraten sind schon tot, einige röcheln noch. Er hat soeben einen Massenmord begangen. War es Mord? Sie waren Piraten! Aber Lestat ist auch einer gewesen... ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Ich stehe wie versteinert da und habe noch immer das Glas in der Hand, das in Arthurs Hals war. Wenn ich jetzt einen Schritt nach vorne wage, könnte ich es dem Grafen in den Hals stechen.... Aber was hätte ich davon? Außerdem hat er noch das Messer in der Hand. Er könnte dann genauso gut zustechen.
Sofort lasse ich das zerbrochene Weinglas fallen, atme tief durch und hebe mein Kopf. Dabei blende ich die Geräusche der sterbenden Piraten aus. „Sie alle haben den Tod verdient! Ich danke Euch."
„Da hast du recht. Sie waren habgierige und dreckige Piraten." Er sieht zu mir und grinst breit.„Du solltest jetzt auf dein Zimmer gehen."
Sofort knickse ich und senke den Kopf. Dabei fällt mein Blick auf mein zerbrochenes Weinglas und ich kann meine Frage nicht zurückhalten. „Was wäre gewesen, wenn ich auch den Wein getrunken hätte?" Hätte er wirklich meinen Tod in Kauf genommen? Glaubt er doch nicht, dass ich die echte Alisea bin?!
„Ich weiß, dass du die englische Sprache beherrscht. Du hättest den Wein nicht getrunken. Es sei denn, du hast kein Benehmen. Und jetzt geh mir aus den Augen. Ich habe noch zu tun."
Im ersten Moment will ich heftig widersprechen, aber dann fallen mir wieder die Worte von Lestat ein, der seinen Vater unberechenbar nannte. Ich sollte den Grafen nicht reizen. Denn das, was hier soeben passiert ist, zeigt mir nur zu deutlich, dass er über Leichen geht. „Wie Ihr wünscht, mein Graf."
Ich erhebe mich aus dem Knicks und verlasse den Saal mit schnellen Schritten, ohne es wie eine Flucht aussehen zu lassen. Die Treppen hinauf habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und das Korsett schnürt mich ein. Und erst jetzt sehe ich, dass ich Blut an den Händen habe. „Ninette!"
Mit zittrigen Händen öffne ich die Tür zu meinem Schlafzimmer und schaue direkt aus dem Fenster, hinaus in den Wald. Ich brauche Luft!
„Was ist passiert?"
Ich drehe mich zu der Zofe, die mich geschockt ansieht und nach meinen Händen greift. „Seid Ihr verletzt?"
„Nein. Bitte hilft mir aus dem Kleid. Und ich möchte mir die Hände waschen!" Sofort eile ich zu der Waschschüssel und greife nach Seife und Schwamm, um das Blut von meinen Händen zu waschen. Meine Atmung wird immer hektischer, sodass sich Ninette bereits daran macht, die Schnürung an meinem Kleid zu lockern. „Ich fühle mich nicht gut. Ich lege mich wieder ins Bett."
„Was ist denn passiert? Ihr könnt esmir erzählen, ich bin verschwiegen wie ein Grab. Hat er Euch wehgetan?" Ihre Stimme wirkt wirklich besorgt.
Nachdem Ninette mir in das Nachthemd geholfen hat, setze ich mich an das Kopfende vom Bett und greife nach der Hand von Ninette. „Der Graf hat die Piraten zu einem Fest eingeladen. Er hat sie alle vergiftet. Und auch mir gab er ein Glas mit dem vergifteten Wein." Ich sehe Ninette mit großen Augen an und lehne mich ein Stück zu ihr vor. „Ich habe Angst vor diesem Mann! Er glaubt nicht, dass ich die echte Alisea de Marchand bin und ich denke, er will mich bald aus dem Weg räumen!"
Sie stockt in der Bewegung und sieht mich einen Moment an, bevor sie redet. „Das glaube ich nicht. Wenn er denken würde, dass Ihr es nicht seid, dann wäret Ihr schon...ähm... also tot." Ihre Schultern gehen etwas herunter und sie senkt den Kopf. „Er macht keine halben Sachen und mit ihm ist nicht zu spaßen. Ihr solltet auch etwas Angst haben. Das ist nur gesund. Ich glaube aber nicht, dass er Euch vergiften wollte. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, dass Ihr unheimlich wertvoll für ihn seid. Auch wenn er es Euch nie so zeigen würde." Ninette beugt sich etwas zu mir vor. „Ich habe auch gehört, dass Ihr etwas mit Lestat zu tun hattet, stimmt das?"
Ich senke den Blick und bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann und ob ich ihr wirklich von Lestat erzählen sollte. So nett Ninette auch ist, aber Roux hat sie mir zugeteilt und das bestimmt nicht ohne Grund. Ich muss vorsichtig sein!
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