160 - Unter Fremden
Ich werde wach, weil ich Stimmen höre, die dumpf zu mir durchdringen und es dauert einen Moment, bis ich zwei Stimmen voneinander unterscheiden und sie auch verstehen kann. Am liebsten würde ich mich bewegen, denn ich wurde wohl achtlos auf dem Boden abgeladen und liege auf meinem rechten Arm, der bereits kribbelt und schmerzt. Auch mein Gesicht pocht heftig, aber ich verkneife mir jeden Ton.
„Kaum zu glauben, dass das so einfach ging. Ich dachte wirklich, wir müssen bis ins osmanische Reich segeln, Arthur."
„Ja", entgegnet der andere Mann, „wer hätte gedacht, dass der Job so einfach wird. Lestat wird mit seinem Schrotthaufen nicht mehr weit kommen. Um den brachen wir uns auch keine Sorgen mehr machen. Wahrscheinlich sinkt die berüchtigte Black Curesana noch, bevor sie den nächsten Hafen erreicht." Der Pirat lacht auf.
„Ohne ihren Kapitän werden sie eh nicht viel machen können. Ich habe selbst gesehen, dass er abgestochen wurde!"
Nun lachen beide Piraten, während mein Magen rebelliert und ich es nur mit Mühe und Not schaffe, weiterhin still zu bleiben. Lestat! Nein! Bitte, lass das hier nur ein schlimmer Albtraum sein, aus dem ich bald wieder erwache! Tränen brennen in meinen Augen, aber ich presse fest die Lippen zusammen, um nicht zu weinen.
„Sehr gut, John! Hahahaha... Dann lief es doch für uns besser, als jemals erwartet und dieser alte Sack, wird ordentlich nachzahlen müssen!"
„Ja, aber wir müssen bei dem Miststück vorsichtig sein. Sie hat Matthew die Kehle aufgeschlitzt."
Ich höre, dass sich mir einer der beiden Männer nähert und achte daher darauf, gleichmäßig zu atmen, auch wenn es mir wirklich schwerfällt, weil mein Herz schier zu explodieren droht.
„Dafür wird sie noch bezahlen", knurrt einer. Arthur, wie ich an der Stimme erkenne und ich denke, dass er der Kapitän ist. „Matthew war ein guter Mann!"
Ich spüre, wie jemand gegen meine Seite tritt und kann ein Aufstöhnen nicht unterdrücken.
„Sie wird wach." Jemand packt meine Haare und ich werde grob auf den Rücken gedreht. Ein Mann mit Glatze beugt sich über mich. Der, der mich aus der Kajüte von Lestat gezerrt hat.
„Oh, Dornröschen ist ja endlich wachgeworden." Der Mann mit der Glatze ist also John und offensichtlich der engste Vertraute vom Kapitän.
Ich erwidere nichts darauf. Es ist am klügsten, wenn ich so tue, als wenn ich ihre Sprache nicht verstehe. Also rutsche ich nur etwas von dem Mann weg und sehe nun zu dem anderen Piraten, der Arthur sein muss. Sein Anblick bereitet mir noch mehr Angst und ich weiche auf dem Boden langsam zurück. Jetzt muss ich vorsichtig sein und darf nicht verraten, dass ich sie verstehe. „Nein, bitte", flehe ich. „Lassen Sie mich gehen!"
Die beiden sehen sich an. „Was sagt sie?", fragt der Glatzkopf.
„Sie bettelt auf Französisch", erwidert Arthur. Er ist wesentlich älter als John und ich schätze ihn auf Ende dreißig, wenn nicht sogar vierzig Jahre. Seine Haare sind schwarz und sein langer, dichter Vollbart ist völlig ungepflegt. Eine lange, hässliche Narbe ist über seine ganze rechte Wange gezogen und dadurch, dass er grinst, entstellt ihn die Narbe noch mehr. Der fremde Kapitän legt den Kopf schief und schaut mich an. Dann spricht er mich auf Französisch an: „Ich hätte eigentlich gedacht, dass eine gebildete Baronesse Englisch kann."
Ich entgegne nichts darauf, sondern schaue ihn einfach nur an, daher spricht er weiter: „Wie standest du zu Lestat? Warst du sein Betthäschen?"
„Das hätte er wohl gern gehabt! Aber er wollte mich als Köder nutzen." Ich presse kurz die Lippen zusammen. Ich sollte nah an der Wahrheit bleiben, sonst verstricke ich mich in den Lügen.
„Als Köder wofür?", hakt dieser Arthur nach.
„Er wollte mich zu meinem Vater zurückbringen und ihn dann töten." Das ist natürlich gelogen, aber eigentlich nicht weit hergeholt, wenn ich bedenke, dass es mein Vater war, der seine Mutter töten lassen wollte. Gut, der Hass auf seinen eigenen Vater wiegt schwerer. Aber da ist ja noch die Geschichte mit Belial, daher ist es nicht so unglaubwürdig. „Und du? Was hast du mit mir vor?" Immerhin wurde ich bei meinem vollen Namen gerufen, daher glaube ich nicht an einen Zufall. Zumal sie von einem alten Mann sprachen. Graf Roux oder mein Vater?
„Du wirst uns reich machen." Er lacht zufrieden auf, schaut mich aber kurz danach wieder ernst an. „Ich glaube dir aber kein Wort. Lestat würde sicher nicht so einen unbedeutenden Baron, wie deinen Vater töten wollen. Er kann doch seine Schiffe überfallen. Ich wüsste nicht, was ihm das bringen sollte. Also nochmal: Aber diesmal die Wahrheit!"
Ich hebe die Schultern und versuche, unbeeindruckt zu bleiben. „Es ist wohl etwas persönliches. Zumindest hat er mir das gegenüber behauptet und mir einen Brief meines Vaters gezeigt."
„Ähm, ja", brummt John und kratzt seinen kahlen Kopf. „Ich werde dann mal gehen. Ich verstehe ohnehin kein Wort. Wir können ja später reden. Bleibt sie eigentlich hier?"
„Ich traue den anderen nicht genug. Sie wird hier bei mir bleiben."
Der Glatzkopf nickt und geht. Ich bleibe zurück, mit dem hässlichen Piraten.
„Hat dich Lestat angerührt? Ich meine, hat er dich entjungfert?", fragt der Kapitän und starrt mich wollüstig an.
Scheiße! Wenn ich es verneine, kann er ja einfach selbst danach tasten. Sage ich die Wahrheit, wird er sich bestimmt an mir vergehen wollen. Trotzdem muss ich schnell antworten. „Nein!"
Der Pirat kommt näher und geht vor mir in die Hocke. Dann steckt er mir die Hand entgegen und ich weiche sofort aus. „Warum bist du so schreckhaft, kleines Ding?"
„Denkst du etwa, ich wurde in Rosenwasser gebadet und konnte mit Lestats Crew Schach spielen?!" Ich weiche auf dem Boden rutschend noch weiter zurück und sehe mich in der spärlichen Kajüte um. Sie ist kleiner als die von Lestat. Nur ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Die Fenster sind völlig verdreckt und lassen kaum Licht in die Kajüte.
Er packt nach meinen Haaren und zieht schmerzhaft daran. „Hör zu, kleines Ding: Ich bin Captain Arthur und du solltest deine Zunge etwas zügeln und anständig mit mir reden, denn anderenfalls setzt es Schläge! Hast du das verstanden?"
Ich versuche sofort, mich von ihm loszureißen und würde am liebsten nach ihm schlagen. Aber ich unterdrücke diesen Wunsch sofort und blicke dem Piraten hasserfüllt in die Augen. „Ja, verstanden!"
Der Kapitän mustert mich wieder von Kopf bis Fuß, dabei lässt er meine Haare nicht los. „Wie ist so ein hübsches Ding überhaupt bei Lestat gelandet? Er ist ein Sklavenhändler gewesen. Wie ist er an dich geraten?"
Gewesen... Nein, ich muss mich jetzt zusammenreißen. Später werde ich genug Zeit haben, um zu trauern. „Ich war mit an Bord des Schiffes, das von Marseille nach Korsika gesegelt ist. Ich wollte meinen Verlobten vor der Hochzeit sehen und dann entscheiden, ob ich mich dem Wunsch meines Vaters beuge. Aber Lestat wusste von der Mitgift und griff die Vierge Marie an!"
Er lässt meine Haare los und steht wieder auf. „Das klingt doch fast, wie die Wahrheit. Immerhin gab es da so ein Gerücht. Hmmm... ich weiß dennoch nicht, was ich dir glauben soll. Lestat hat alle Frauen verkauft, außer dich. Irgendetwas hatte er mit dir vor."
Er geht zu seinem Schreibtisch und füllt in einen Zinnbecher Wein ein. Dieses trinkt er mit einem widerlichen Glucksen herunter. An diesem Mann ist einfach alles ekelig. Dann dreht er sich zu mir. „Welchen Nutzen hatte er von dir, wenn er dich nicht gefickt hat? Dein Vater kann es nicht gewesen sein."
„Das hättest du ihn vielleicht selbst fragen sollen!" Ich atme kurz durch und verschränke die Arme vor meiner Brust. „Und welchen Nutzen habe ich für dich? Was hast du mit mir vor?"
Er grinst boshaft und dabei gucken seine fauligen Zähne heraus. „Ohh.. ein ganz neugieriges Ding." Dann ändert sich sein Gesicht aber und er wirkt wütend, während er seinen Becher auf den Tisch schlägt. „Ich stelle hier die Fragen und nicht du! Was will Graf Roux von dir und was bringt ihm der Tod von Lestat? Du solltest jetzt ganz schnell singen, bevor ich andere Methoden nutzen muss!"
„Graf Roux will sicher die Markgrafschaft meines Großvaters. Es gibt keinen männlichen Erben in meiner Familie. Aber Roux hätte es, wenn er mir einen Sohn macht." Zumindest hierbei sollte ich ehrlich sein. Vielleicht weiß es der Pirat und hat sich vorher informiert. Und nun weiß ich auch mit Gewissheit, wer der Auftraggeber ist: Der Graf de Roux. Dann will er mich also immer noch heiraten. „Was der Graf von Lestat will, weiß ich nicht. Oder denkst du, er hätte mir alle Fragen beantwortet?"
„Sagte ich nicht, ich stelle hier die Fragen, du Göre?! Du weißt noch viel mehr, da bin ich mir sicher!" Er kommt auf mich zu und holt aus... doch bevor er zuschlägt, klopft es. Er hält inne und ruft: „Ja!"
John, der Glatzkopf, kommt herein. „Einer der Piraten hat gesungen und das klingt wirklich interessant. Komm mal mit!"
Arthur schaut zu mir und wirft mir einen warnenden Blick zu, bevor er die Hand runter nimmt. „Bleib, wo du bist!" Dann dreht er sich um und geht raus. Ich höre, wie er die Tür abschließt.
Ich sacke augenblicklich zusammen und halte eine Hand vor meinen Mund. Obwohl ich nicht weinen will, laufen die Tränen. Dabei dachte ich, viel schlimmer könnte es nicht mehr werden. „Lestat! Warum nur...?"
Diese Situation erinnert mich an meine ersten Stunden an Bord der Black Curesana. Auch da wurde ich von Piraten entführt und in der Kajüte vom Kapitän eingeschlossen. Aber nun fühlt sich alles viel schrecklicher an! Es gelingt mir nicht, mein Schluchzen zurückzuhalten und ich fange an zu weinen. Dabei halte ich eine Faust vor meinen Mund, um die Geräusche zu unterdrücken.
Warum ist das Leben nur immer so grausam zu mir? Da habe ich mir endlich meine Gefühle gegenüber Lestat eingestanden und schon wurde er aus meinem Leben gerissen.
Warum? Warum nur?
Es ist völlig egal, was jetzt noch kommt. Mein Leben ist doch schon vorbei. Alles, was ich je wollte, wurde mir in einem kurzen Augenblick genommen.
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