14 - Der falsche Arzt
Ist es jetzt gut, dass ich ihm die Wahrheit gesagt habe? Zugegeben, eigentlich wollte ich ihn wieder angiften und ihm sagen, dass ihn das nichts angeht! Aber am Ende wird er es eh erfahren oder vielleicht sogar bereits wissen. Warum also wieder auf Konfrontation gehen?
Ich starre dem Piraten hinterher und weiß nicht, wie ich das deuten soll. Ja, einen Moment lang habe ich sogar das Bedürfnis, ihm hinterherzulaufen und ihn zur Rede zu stellen. Ihn zu fragen, was das nun bedeutet! Andererseits bin ich eigentlich gar nicht wirklich böse darum, dass er weg ist.
Er hat mir sogar etwas zu essen mitgebracht. Nicht, dass ich ihm dafür danken werde, immerhin muss er mir etwas geben.
Ich esse alles auf, obwohl es nicht schmeckt. Dazu trinke ich von dem Alkohol von gestern. Nicht besonders viel, immerhin will ich mich nicht betrinken, denn das Zeug ist ganz schön stark. Ich muss Lestat unbedingt nach einem leichten Wein fragen, wie ich ihn auch auf der Vierge Marie getrunken habe.
Seufzend stehe ich auf und sehe mich in dem Zimmer um. Mein Blick fällt auf das Bett und der Gedanke, mich für ein oder zwei Stunden hinzulegen, ist wirklich verlockend. Immerhin habe ich die Nacht kaum ein Auge zugetan! Aber ich will nicht, dass Lestat mich am Ende noch in seinem Bett erwischt.
Also lenke ich mich etwas ab, indem ich die Kommoden und Schränke durchsuche. Ich finde Bücher, Schatullen und Wäsche von ihm. Sofort hole ich ein Hemd mit langen Ärmeln heraus und ziehe es über das Nachthemd. Der dünne Stoff von dem Nachthemd wärmt mich kaum, zudem hat es nicht mal Ärmel und geht mir nur bis zu den Knien. Das Hemd von Lestat ist mir natürlich etwas zu groß, daher kremple ich die Ärmel etwas hoch. Unten rum geht es mir bis zu den Oberschenkeln, sodass ich mich auch nicht mehr allzu nackt fühle.
Mein Blick wandert zu der Stelle, an der Lestat gestern diese schrecklichen Dinge mit mir gemacht hat und mir steigen Tränen in die Augen. Mein Hals hat gestern noch lange geschmerzt und mir war so unglaublich übel! Am schlimmsten war allerdings die Erniedrigung. Vor allem, weil Nouel alles mit ansehen musste.
Wie soll ich ihm nur jemals unter die Augen treten können? Er wird mir vorwerfen, mich dem Piraten zu schnell untergeordnet zu haben und mich nicht genug gewehrt zu haben. Ja, das werfe ich mir auch vor! Aber ich werde mich nicht in die Opferrolle drängen lassen! Ich werde diesem Piraten einfach weiterhin die Stirn bieten und...!
Ja, und was dann?
Ich seufze tief und setze mich wieder an den Tisch. Ich kann das Unvermeidbare hinauszögern, mehr aber auch nicht. Trotzdem ist es wichtig, dass ich es ihm so schwer wie möglich mache. Ja, vielleicht hat er nun sogar kein Interesse mehr an mir, nachdem er erfahren hat, wem ich versprochen wurde. So, wie Lestat vorhin aus dem Zimmer stürmte, ist völlig offensichtlich, dass er den Grafen kennt!
Ich muss nur herausfinden, ob das gut oder schlecht für mich ist. Aktuell denke ich, es ist tatsächlich etwas Gutes. Und vielleicht lässt der Pirat mich jetzt sogar in Ruhe. Oder noch besser... Er bringt mich nach Korsika!
Es klopft plötzlich und ich schaue zur Tür. Wer klopft denn da? Ist das Guilia? Lestat wäre einfach hereingekommen.
Die Tür öffnet sich, nachdem ich nichts sage und ein fremder Mann kommt herein.
Er hat eine Tasche dabei, die er nahe der Chaiselongue abstellt, nachdem er die Tür wieder geschlossen hat.
Ich starre ihn einfach nur an. Er sieht angsteinflößend aus! Ist das ein Folterknecht?
Er hat kurzes, zerzaustes Haar und einen Blick, der mir Angst macht. „Hallo Alisea. Ich bin Enrico. Wie geht es dir?"
Ich lege die Arme um meinen Bauch und beobachte ihn genau. Zum Glück kommt er nicht näher.
„Was wollen Sie?" Seine Frage ignoriere ich. Die kann nicht ernst gemeint sein.
„Ich will wissen, wie es dir geht und dich untersuchen. Ich bin der Schiffsarzt."
„Ja, klar. Und ich bin die Königin von Frankreich! " Die seit drei Jahren tot ist... Aber das weiß der sicher nicht. Er soll also ein Arzt sein? Pah! Als wenn Piraten einen Arzt hätten! Oder besser gesagt: Als wenn ein Arzt bei gesetzlosen und unmoralischen Piraten anheuern würde!
Der Mann kommt auf mich zu. „Stell dich jetzt bitte nicht an. Ich habe noch mehr zu tun, als nur dich zu untersuchen." Er bleibt vor mir stehen und mustert mich. „Hast du da Lestats Hemd an?"
„Ich bin erstaunt, Sie haben ja offensichtlich Augen im Kopf!" Meine Stimme trieft vor Verachtung und Sarkasmus. Was stellt er auch so dumme Fragen? Und obwohl ich ihn verbal angreife, weiche ich vor ihm zurück. Auf keinen Fall wird dieser Kerl mich anfassen!
Er sieht sich rechts und links um, als ob er etwas sucht. Dann dreht er sich um und sagt dabei: „Leg dich am besten auf das Bett und mach keine Mätzchen. Ich bin gerade nicht in Stimmung dafür."
Der Pirat – denn ein Arzt ist er sicher nicht! Er ist doch viel zu jung, bestimmt erst Mitte 20! - greift nach seiner Tasche und schaut wieder zu mir. „Na wird's bald?"
Obwohl die Situation gerade absolut befremdlich ist, lache ich kurz auf. „Ja, natürlich. Am besten soll ich noch direkt die Beine breit machen, nicht wahr?" Ich schaue trotzdem kurz zu dem Bett und erinnere mich daran, dass unter der Matratze noch Waffen sind. Vielleicht sogar ein Dolch!
„Das wäre natürlich hilfreich, wenn du das tust. So haben wir die Untersuchung schnell hinter uns. Es wird auch nicht lange dauern." Er steht schon wieder vor mir, diesmal mit seiner Tasche und schubst mich jetzt sogar in Richtung Bett.
Allerdings laufe ich an ihm vorbei in Richtung Tür. Kurz überlege ich, vor ihm davonzulaufen. Aber auf dem Schiff ist es auch nicht viel sicherer. Nein, theoretisch kann ich hier einfach im Kreis laufen und ihm dadurch ausweichen. „Nur über meine Leiche!"
„Das darf jetzt nicht wahr sein! KOMM SOFORT HIER HER UND MACH MICH NICHT WÜTEND!"
„Nein!" Mit aller Kraft schreie ich ihm dieses Wort entgegen und es fühlt sich gut an. Es fühlt sich gut an, endlich mal Nein zu sagen und zum Ausdruck zu bringen, dass ich das alles nicht will.
Der Mann geht zum Bett, stellt dort seine Tasche ab und kommt danach auf mich zu. Wieder weiche ich vor ihm aus und laufe im Kreis, bis ich mit dem Rücken zum Bett stehe. Mir fällt diese Bettkasten ein und fluche innerlich. Es wird mich wertvolle Zeit kosten. Trotzdem drehe ich mich um und hebe die Matratze an. Aber der Bettkasten darunter ist leer!
Dann geht es viel zu schnell und ich kann nicht mehr ausweichen, als der Pirat mich auf das Bett schubst, sodass ich mit dem Bauch auf der Matratze lande. Dann greift er nach meinem Oberarm und dreht mich auf den Rücken. Sofort trete ich nach ihm.
Er knurrt genervt. „Glaub mir, ich verpasse dir noch eine, wenn du nicht hörst! Ich sagte, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit und jetzt öffne schön brav deine Beine und lass mich dazwischen!
Panisch weiche ich nach hinten aus. Meine Hand will nach dem Kopfkissen greifen, um es nach ihm zu werfen. Aber stattdessen ertaste ich etwas Hartes, Kaltes... Ich greife danach und habe plötzlich einen Degen in der Hand!
Wütend halte ich die Waffe mit beiden Händen umklammert vor mich und bedrohe ihn, damit er auf Abstand bleibt. Das ist wenigstens eine Waffe, mit der ich umgehen kann.
Genau in dem Moment fliegt die Tür auf und Lestat stürmt mit großen Schritten in die Kajüte. Einerseits bin ich froh, ihn zu sehen, denn Guilia sagte, ich stünde unter seinem Schutz. Auch, wenn es mich nicht vor ihm schützt, dann zumindest vor seiner Crew.
Allerdings halte ich auch eine Waffe in der Hand und erinnere mich, was er mir gestern dazu noch sagte, während sämtliche Farbe aus meinem Gesicht weicht.
Der Mann vor mir weicht zurück, sodass ich nicht mal mehr zustechen könnte. „Du solltest dieses widerspenstige Weib an den Mast binden!"
Lestat steht einen Moment da und schaut sich um. Er muss die Situation wohl erst erfassen. Dann schwenkt sein Blick auf mich. „Alisea, gib mir sofort meinen Degen!"
Das erste Mal hat er mich beim Namen genannt, soviel ich mich erinnern kann und er sieht ziemlich entschlossen aus. Er kommt einfach auf mich zu und hält mir die offene Hand hin, während der angebliche Arzt weiter zurücktritt.
Ich setze mich in dem Bett auf und halte ihm den Griff hin. Diesmal spare ich mir eine flapsige Antwort, denn ich fürchte wirklich, dass dieser Piratenkapitän mich an den Mast binden wird.
Er nimmt den Degen entgegen und dreht sich zu dem Mann. „Was machst du hier, Enrico?"
„Ich sollte sie untersuchen."
Lestat nickt. „Das hat Ote angeordnet, oder?"
„Ja, richtig."
Lestat sieht wieder zu mir und ich weiche auf dem Bett ein wenig zurück. „Mach die Beine breit und lass den Arzt gucken." Er legt den Degen auf seinen Schreibtisch, überschlägt die Arme vor der Brust und nickt Enrico zu. „Fang an. Überzeug dich! Und das nächste Mal kommst du erst zu mir und ich bin dabei! Verstanden?"
Mein Herz rast und ich bin einen Moment wie erstarrt. Alles in mir bäumt sich dagegen auf, der Forderung nachzukommen. Aber was ist dann? Meine Strafe wird bloß schlimmer ausfallen! Zudem können sie einfach weitere Männer in die Kajüte holen, die mich festhalten. Außerdem war ja nur von gucken die Rede... Ich fürchte aber, dass es nicht dabei bleibt.
Als Lestat seinen Blick wieder auf mich richtet, zucke ich heftig zusammen und lasse mich langsam wieder mit dem Rücken auf das Bett fallen. Tränen laufen aus meinen Augen, während ich zitternd die Füße auf die Bettkante stelle und meine angewinkelten Beine leicht spreize.
Warum ist dieser Arzt hier und wovon will er sich überzeugen?
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