139 - Mein größter Fehler
Ich gehe einfach neben Hamo her. Wir haben den Markt verlassen und laufen Richtung Hafen. Mein Kopf ist wie leergefegt. Ob sich Pepin auch so gefühlt hat, als er merkte, dass er seine große Liebe nicht mehr haben kann? Unsinn! Er war ja nicht daran schuld, dass sie jemand anderen heiratete.
Ich fühle mich mies, weil ich Schuldgefühle habe. Denn ich hätte Alisea nicht hergeben dürfen. Scheiß auf das Logbuch! Noch könnte ich umdrehen und mitbieten. Aber dann verprasse ich das gesamte Geld. Scheiße! Ich werde sie nie wieder in den Armen halten können und nie wieder ihre Stimme hören. Doch plötzlich höre ich sie singen und bleibe stehen. Sie singt so unheimlich gut, aber das ist es nicht, was mich so erstarren lässt, sondern der Text:
„Schau mich an oder zumindest das, was von mir übrig ist.
Schau mich an, bevor ich mich selbst hasse.
Was kann ich dir sagen, was nicht die Lippen eines anderen dir sagen?
Es ist nicht viel, aber für mich alles, was ich habe.
Also.
Da gehst du, da gehst du hin, da gehst du fort.
Hier bitte, hier ist, wer ich bin.
Das bin ich, auch wenn ich mich nackt ausgezogen habe, es ist vorbei.
Es ist mein Mund, es ist mein Schrei, hier bin ich.
Schade.
Hier ist es, es ist genau hier.
Ich, mein Traum, mein Wunsch und wie ich daran sterbe, wie ich darüber lache.
Hier das bin ich, im Lärm und in der Stille.
Geh nicht, ich bitte dich, bleib länger.
Das wird mich vielleicht nicht retten, nein.
Aber ohne dich auszukommen... ich weiß nicht wie.
Liebe mich, wie du einen Freund liebst, der für immer verschwindet.
Ich will geliebt werden, weil ich selber meine Konturen nicht lieben kann."
Hamo bleibt ebenfalls stehen und hebt den Kopf. „Sie kann auch singen. Da hat Ote sie aber sehr schlau angeboten. Sie wird sicher einiges mehr als die anderen bringen."
Am liebsten würde ich ihm jetzt eine reinhauen. Er hat den Sinn wohl nicht verstanden. Ich liebe sie doch! Es ist mir egal, wer sie kauft. Ich will sie zurück. Ich habe einen großen Fehler gemacht! Ich schaue mich um. Wenn ich abpassen will, wer mit Alisea den Markt verlässt, brauche ich Hilfe.
Hamo geht weiter, allerdings dreht er sich zu mir um, weil ich ihm nicht folge. „Was ist los? Willst du noch auf Ote warten?"
„Nein, ich will-", ich stocke. Ich will Alisea zurückhaben. Das sage ich ihm aber nicht. Es wäre doch merkwürdig, wenn ich jetzt alle fragen würde, ob sie mir helfen. „Ich will mir noch die Beine vertreten. Geh du schon mal zurück." Ich drehe mich um und gehe wieder zurück in Richtung des Marktes. Es ist komplett mit einer hohen Mauer versehen und ich umrunde das Anwesen. Wenn ich nur sehe, wenn sie herauskommt, dann könnte ich sie befreien.
Verdammt... was mache ich mir nur vor... ich habe keine Chance... sie ist unwiderruflich weg!
Ich verlasse den Ort wieder und laufe unschlüssig durch die Straßen. Dabei fühlt es sich an, als wenn mein Herz zerreißt und selbst atmen fällt mir schwer. Dabei weiß ich doch schon seit Griechenland, dass Alisea wie eine Droge für mich ist. Ich brauche sie!
Unschlüssig bleibe ich stehen und drehe mich einmal im Kreis. So, wie ich im Kreis gelaufen sein muss, denn ich stehe in der Nähe vom Sklavenmarkt. Er zieht mich an, wie die Motte vom Licht angezogen wird und ich schließe daher kurz die Augen.
Nein! Ich werde nicht aufgeben! Ich habe noch nie aufgegeben. Zielstrebig gehe ich zum Eingang vom Markt. Zur Not frage ich Ote, wer sie gekauft hat und hole sie zurück und wenn ich ihm das Doppelte geben muss!
Doch bevor ich zu dem Tor komme, höre ich den Schrei einer jungen Frau.
„Alisea?!" Habe ich mir das jetzt eingebildet? Ich laufe einfach in die Richtung, aus der ich den Schrei gehört habe.
Zwei Männer beugen sich über einen Mann in weißer Kleidung. Als er bei Seite gerollt wird, sehe ich, dass er aus zwei Wunden am Oberkörper blutet. Er ist bestimmt schon tot und regt sich auch nicht mehr.
„Nein...!"
Erst jetzt sehe ich die zierliche Person, die neben dem toten Mann auf die Beine gezogen wird. Das ist Alisea! Meine Alisea! Krampfhaft hält sie einen Umhang mit einer Hand fest. Sie zittert am ganzen Körper und die beiden Männer wollen sie einfach mitnehmen!
Ohne weiter zu zögern, laufe ich dahin und ziehe dabei meinen Degen. Eigentlich ist mir völlig egal, warum der Mann da auf dem Boden krepiert. Die anderen beiden werden es jetzt auch, koste es, was es wolle!
Mit einem beherzten Sprung strecke ich einen von ihnen mit einem Stich von hinten, nieder. Doch der andere wirft meine Kleine sofort auf den Boden und dreht sich dabei so schnell, dass ich seinem Tritt nicht mehr ausweichen kann. Er hat seinen Säbel schon in der Hand, den er sofort in meine Richtung schwingt. Ich erkenne den hochgewachsenen, schwarzen Mann. Es ist ein Eunuch vom Sultan.
Im letzten Moment kann ich seinen Schlag mit meinem Degen abwehren. Aber er zieht sogleich einen zweiten Säbel und lässt einen Kampfschrei los! Bevor er wieder auf mich einschlägt, kann ich gerade noch zurückspringen. Ich merke, dass er ein erfahrener Kämpfer ist. Einen weiteren Schlag blocke ich ab und mir wird bewusst, dass ich mit meiner Waffe unterlegen bin. Dennoch schaffe ich einen kurzen Angriff.
Allerdings geht mein Hieb ins Leere, während der Eunuch erneut ausholt. Doch im selben Moment guckt die Klinge eines Säbels aus seinem Bauch und der schwarze Mann hält verwundert inne. Die Waffe wird aus seinem Körper gezogen und der Eunuch dreht sich zu dem anderen Angreifer um.
Ich sehe Alisea, die mit weit aufgerissenen Augen die Waffe in beiden Händen hält.
Der Eunuch holt erneut aus und Alisea hebt abwehrend und in einer perfekten Bewegung den Säbel. Aber sie wird niemals die Kraft des Eunuchen abfangen können! Sofort steche ich mit meinem Degen zu und verpasse ihm dabei einen Tritt gegen die Seite, sodass sein Hieb sie auf keinen Fall erreichen kann.
Er dreht sich wieder zu mir um und schwingt seinen Säbel in meine Richtung. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er müsste tot sein! Ein Schmerz breitet sich in meiner Brust aus und mir wird bewusst, dass er mich getroffen hat!
Direkt steche ich nochmal auf ihn ein... und nochmal... und nochmal...! „Stirb endlich!", brülle ich vor Wut und Verzweiflung.
Dann sackt sein Körper zu Boden und ich sehe Alisea, die auf mich zueilt und mich zur Seite schubst. Dabei hält sie wieder mit einer Hand den Umhang zu. Den Säbel hat sie schon längst fallengelassen. „Bist du verrückt? Wir müssen hier weg!" Sie sieht sich um.
Natürlich hat die Aktion einige Schaulustige angelockt und ich ahne, dass die Wachen bald hier sind. Sie hat recht, wir müssen hier weg. „Lauf!"
Sie schaut mich mit großen Augen an. Doch ich sehe schon die Wachen auf uns zueilen. Wenn, dann sollen sie nur mich bekommen! „Lauf einfach!"
„Ich komme doch keine 10 Meter weit!", protestiert sie heftig und ich sehe die Panik in ihren Augen.
Sie hat recht. Als hübsches, halbnacktes Mädchen und mit dieser Augenfarbe wird sie sofort in das nächste Haus gezerrt. Daher stecke ich schnell meinen Degen weg, hebe Alisea auf meine Arme und laufe mit ihr zum Hafen. Die Schmerzen in meiner Brust ignoriere ich. Denn ich kann Alisea nicht sich selbst überlassen. Ich muss sie beschützen. Und wenn ich mein Leben dabei gebe!
Alisea legt vorsichtig einen Arm um mich und macht sich ganz klein, sodass ich mit ihr durch die Gassen laufen kann.
Wie durch ein Wunder kommen wir beim Schiff an und bevor ich es betreten kann, sehe Ote im Augenwinkel, der auf uns zugeeilt kommt und entsetzt aufschreit: „Spinnst du? Was ist passiert?"
„Eine riesige Scheiße!", entgegne ich, ohne seine Fragen zu beantworten. „Nimm sie mir mal ab!" Sie hält sich allerdings an mir fest. „Alisea, ich kann dich kaum noch halten!"
Ote greift nach ihr. „Ach du scheiße, du bist verletzt!", knurrt Ote und dreht sich zur Seite, um laut nach unserem Arzt zu brüllen: „ENRICO!"
Ich atme tief durch und will gar nicht zu meiner schmerzenden Brust gucken. „Bring sie an Bord und verstecke sie, ich gehe direkt zu Enrico."
„Du hast dich doch nicht mit den Wachen des Marktes angelegt?!"
„Ich glaube nicht."
„Wie: Du glaubst nicht?", hakt Ote mit hochgezogener Augenbraue nach.
„Lass dir das von Alisea erklären", erwidere ich knapp. Ich drehe mich um und gehe ohne weitere Erklärung zu Enrico. Schweiß rinnt mir in die Augen und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Wie konnte ich nur Alisea den ganzen Weg zum Schiff tragen?
Am Arztzimmer reiße ich die Tür auf und Enrico schaut mich erschrocken an. „Was ist denn mit dir passiert?"
„Habe mich mit einem Säbel angelegt! Ist es schlimm?"
Er legt den Kopf schief und schaut meine Brust an. „Nur ein Kratzer." Aber seine Aussage trieft vor Ironie, denn im nächsten Moment entgegnet er: „Es ist ein Wunder, dass du noch stehst! Leg dich auf die Liege. Sofort!"
Kaum habe ich das gemacht, wird mir schwarz vor Augen. Mit einem heftigen Schmerz werde ich aber wieder wach und schreie laut auf. Ich kann mich aber nicht aufrichten, weil mich jemand an den Schultern herunterdrückt. Auch an meinen Beinen spüre ich einen Druck. Dann realisiere ich erst, dass Hamo meine Beine festhält und ein Kanonier meine Schultern, weil Enrico meine Brust mit Alkohol desinfiziert. Es brennt fürchterlich und ich drücke meine Zähne knirschend zusammen, um nicht noch einmal aufzuschreien.
„Versuch', still zu halten!", mahnt Enrico. Er dreht sich zu Hamo und dem Kanonier. „Haltet ihn gut fest, ich werde jetzt nähen." Bevor er das tut, steckt er mir ein Holzstück zwischen die Zähne, auf das ich beißen kann. Bei jedem Stich muss ich daran denken, als Alisea hier lag. Sie hatte bestimmt ähnliche Schmerzen, als er ihre Füße aufgeschnitten und anschließend genäht hat, wenn nicht sogar mehr.
Und dennoch... Verdammt ist das schmerzhaft! Ich wünschte, ich würde in Ohnmacht fallen. Das tue ich aber bis zum letzten Stich nicht.
„So, fertig", seufzt Enrico. „Jetzt nochmal gut festhalten!", sagt er an die Kanoniere gerichtet.
Ich gucke Enrico mit großen Augen an. Warum nochmal festhalten und da spüre ich schon das schreckliche Brennen vom Alkohol, das er wieder großzügig über die Wunde kippt. Trotz des Holzstückes in meinem Mund, auf das ich beiße, hört man meinen Schmerzensschrei.
Verdammt, wie hat das meine Kleine ausgehalten?! Es hört ja gar nicht auf zu brennen, auch als er endlich die Flasche wegstellt! Ich hatte schon oft Wunden, aber diese tut brutal weh. Langsam atme ich ein und aus und selbst dabei habe ich Schmerzen.
„Ihr könnt ihn loslassen."
Sofort spüre ich, dass Hamo und der Kanonier zurücktreten und spucke das Holzstück aus. „Wo ist Alisea?"
Allerdings antwortet Pepin: „Ote hat sie in deine Kajüte gebracht."
Ich schaue zur Seite und sehe erst jetzt Pepin, der an der Tür steht. „Dann gehe ich mal zu ihr!" Ich versuche aufzustehen, aber ich schaffe es nicht mal, mich aufzurichten.
„Du gehst nirgends hin, Lestat. Du hast viel Blut verloren!"
Pepin tritt näher heran und klopft mir leicht auf die Schulter. „Alisea geht es gut. Ruh dich etwas aus."
„Was ist mit den Wachen vom Sklavenmarkt?", frage ich nach.
Hamo brummt hörbar. „Bis jetzt sind sie nicht hier her gekommen, dann haben sie dich wohl nicht erkannt." Dann wendet er sich an Enrico. „Kann ich wieder gehen?"
„Wir werden jetzt alle gehen", erwidert der Arzt, „er braucht Ruhe." Er dreht sich zu mir. „Und du solltest auf mich hören, wenn du nicht sterben willst. Bleib da liegen! Morgen sehen wir weiter."
Pepin bleibt allerdings stehen. „Lasst mir noch eine Minute mit ihm."
Enrico nickt widerwillig, verlässt das Zimmer und hinter ihm alle anderen, bis auf Pepin.
„Was willst du?", frage ich genervt. „Willst du mir jetzt eine Standpauke halten?"
„Nein! Warum sollte ich? Ich wollte dir nur noch den Brief von Alisea geben. Ich kam da nicht mehr dazu. Ich dachte ja auch, sie wäre dann weg und wenn wir eine ruhige Minute haben, kann ich ihn dir zustecken."
„Welchen Brief?"
„Sie schrieb ihn, bevor du sie verkauft hast. Weißt du noch, als du hier ins Zimmer geplatzt kamst?"
„Ja. Ich erinnere mich."
Pepin holt die zusammengefalteten Blätter aus seiner Hosentasche. „Hier. Er ist für dich. Ich habe ihn nicht gelesen. Ruh dich aus und werde wieder heile."
Er dreht sich um und verlässt auch das Zimmer. Was hat mir Alisea geschrieben, bevor ich sie verkauft habe?
Ich falte die Blätter auf und fange an zu lesen.
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