136 - Letztes Bedürfnis
Ich schaue auf den Becher mit dem Wein und seufze tief, bevor ich ihn leere und durch die Zelle zurückreiche. Danach bekomme ich wieder Zwieback, weil die frischen Lebensmittel vom letzten Halt schon aufgebraucht sind.
Aber anhand der Gespräche der Piraten weiß ich, dass es nicht mehr weit bis Konstantinopel ist. Und ich erkenne es auch anhand des Frachtraums. Inzwischen sind alle Frauen in Zellen und nur noch die schönsten Frauen sind hier, wie Guilia. Selbst Pliesna wurde schon verkauft.
Guilia war bis gestern täglich bei mir und hat wieder dutzende Fragen gestellt. Ich habe nicht eine davon beantwortet. Also hat Guilia angefangen, zu erzählen.
Marie war die erste Frau, die verkauft wurde, zusammen mit vier anderen Frauen. Pliesna wurde im Hafen darauf verkauft und fünf weitere Frauen.
Es gab noch einen Zwischenhalt. Der, an dem ich erneut fliehen wollte. Allerdings war das Schiff nur einen Tag am Hafen und legte mit frischem Proviant ab. Verkauft wurde keine Frau mehr.
Wahrscheinlich hätte es Lestat gemacht, wenn ich nicht dazwischen gekommen wäre.
Seit gestern dürfen sich die Männer nicht mehr an den Frauen vergreifen und Enrico verlässt kaum noch den Frachtraum, um jede Frau noch einmal zu untersuchen. Und heute früh wurden alle anderen Frauen eingesperrt, auch Guilia. Zu mir in die Zelle kamen vier weitere Frauen. Jungfrauen, wie ich vermute. Sie haben ebenfalls helles Haar und blaue Augen. Also gibt es kein Entkommen mehr. Nun ist es endgültig. Wir sind bald in Konstantinopel. Ich will mich gerade von den Gittern abwenden, als ich die roten Haare von Pepin sehe.
Warum auch immer ich gerade das Bedürfnis habe... Aber ich muss es tun. Also hebe ich kurz einen Arm. „Pepin?"
Er schaut zu mir herüber und kommt schon auf meine Zelle zu. „Alisea, was ist?" Er bleibt vor der Zelle stehen und legt seinen Kopf schief.
„Ich", beginne ich, stocke aber unsicher. Nein, ich muss das machen! „Kannst du mir Feder, Tinte und ein paar Zettel geben?"
Er schaut mich fragend an. „Warum? Willst du Lestat einen Brief schreiben?"
„Ich weiß, es ist eine dumme Idee. Aber... Ich muss mir das eine oder andere einfach von der Seele schreiben." Ob ich das, was ich niederschreiben will, wirklich Lestat geben möchte, weiß ich gerade nicht mal.
Pepin schaut prüfend in die Zelle.„Ich würde dir gerne deinen Wunsch erfüllen, aber ihr dürft keine Gegenstände in die Zelle bekommen. Die Regel gibt es nicht umsonst." Pepin guckt über seine Schulter zu Enrico. „Aber ich werde mal sehen, was ich für dich tun kann."
Er dreht sich um und ich sehe, dass er zu Enrico geht, der gerade eine Frau untersucht. Ich höre nicht, was sie reden, aber es dauert einen Moment. Dann schiebt Enrico die Frau wieder zurück in die Zelle und kommt mit Pepin auf meine Zelle zu.
Der Arzt mustert mich kurz. „Ich muss sie noch untersuchen."
Pepin nickt kurz. „Dann nehme ich sie mit in dein Arztzimmer und du kommst nach, wenn du die anderen Frauenuntersucht hast." Er schaut den Arzt lächelnd an. „Komm schon, gönn ihr doch den letzten Wunsch."
Enrico knurrt, während er die Zelle aufschließt. „Gut, aber du passt auf sie auf, Pepin!"
Ich stehe auf und gehe mit Pepin, der eilig den Frachtraum verlässt und in das Arztzimmer geht. Dabei muss ich fast laufen. Im Arztzimmer angekommen, setze ich mich sofort an den Schreibtisch und hole Feder, Tinte und Blätter hervor. „Danke,Pepin."
„Kein Problem." Er macht die Tür zu und setzt sich auf die Liege.
Ich seufze tief, starre auf das oberste Blatt Papier und nage an meiner Unterlippe. Was schreibe ich jetzt? Wirklich ein Brief an Lestat? Ist das noch sinnvoll? Bald werde ich verkauft...
Beinahe hätte ich alles wieder weggelegt, aber dann fange ich doch an zu schreiben. Zeile um Zeile, Blatt um Blatt. Die Gedanken sprudeln nur so aus mir heraus und ich schreibe mir all die Worte von der Seele. Und zum ersten Mal seit langem fühle ich mich wirklich besser. Es ist, als wenn ich nach langer Zeit endlich wieder atmen kann. „Ich bin fertig. Danke für diese Gelegenheit."
„Manchmal tut es gut, etwas aufzuschreiben, um mit etwas oder jemanden abzuschließen." Mit den Worten steht Pepin auf und nimmt den Brief entgegen.
Plötzlich geht die Tür auf und ausgerechnet Lestat kommt herein. „Enrico, wie sieht-" Er unterbricht seinen Satz sofort. Unsere Blicke treffen sich und er erstarrt in der Bewegung. Doch dann schaut er zu Pepin. „Was macht sie hier? Ist sie verletzt?"
„Nein, Enrico wollte sie noch untersuchen."
Lestat kneift die Augen kurz zusammen und sein Ton wird scharf: „Das kann er auch bei den Zellen, wie bei jeder anderen Frau auch!"
Ich schaue zu Pepin, der die Zettel nimmt, zusammen faltet und in seine Hose steckt.
„Aber er wollte sie hier untersuchen", erwidert Pepin.
Die Situation ist mir unangenehm, also stehe ich auf. „Nein, ist schon gut."
In dem Moment kommt Enrico herein und sieht sich um.
Lestat atmet genervt auf. „Enrico, ich komme später wieder, um die weiteren Schritte zu besprechen. Schau nach, ob sie noch Jungfrau ist!"
„Gut, mach' ich", entgegnet der Arzt.
Lestat dreht sich um und geht einfach.
Ich seufze tief und Pepin verlässt ebenfalls das Arztzimmer.
Enrico deutet auf die Liege, auf der Pepin eben noch saß. „Komm, leg die hin und zieh das Kleid hoch. Du kennst das Prozedere."
Ich nicke schwach, lege mich auf die Liege und Enrico tastet mich ab.
„Sehr schön. Es ist noch alles da."
Trotzdem muss ich mich komplett ausziehen und überall angrabschen lassen. Ich lasse es über mich ergehen, weil ich weiß, dass es ja doch nichts bringt, wenn ich mich dagegen sträube.
„Gut, es passt alles so weit. Die Narben an den Armen sieht man nur noch leicht und die am Kopf wird von den Haaren verdecken. Ich glaube nicht, dass die auffällt." Erlässt meinen Arm los und schaut mir ins Gesicht. „Du wirst sich er einen Scheich oder Emir finden, bei dem es dir gut geht."
Dann dreht er sich um und geht zu seinem Schreibtisch.
„Ja, wahrscheinlich", entgegne ich tonlos.
„Du kannst dich wieder anziehen."
Ich zupfe das Kleid zurecht und verlasse das Arztzimmer. Bevor ich die Tür schließe, sehe ich mir die Kajüte aber noch einmal an. Ich war so oft hier. Meistens wegen Lestat. Trotzdem werde ich es irgendwie vermissen.
„Komm, ich bringe dich zurück." Ich schaue zur Seite. Mit hätte klar sein müssen, dass Pepin vor der Tür wartet. Also nicke ich ihm zu und lasse mich von Pepin zurück in die Zelle bringen. „Und für wen ist der Brief nun?"
„Lestat. Aber gib ihm den Brief erst, wenn wir angelegt haben." Wahrscheinlich wird Lestat den Brief zerreißen und ihn gar nicht erst lesen. Aber selbst, wenn er ihn liest, wird es nichts ändern. Deswegen soll er den Brief erst dann bekommen, wenn es eh schon zu spät ist. Wahrscheinlich bin ich morgen um diese Zeit schon verkauft worden und die Piraten erfreuen sich an dem Geld, dass sie mit mir verdient haben. Sie werden sicher lachen, saufen und einander beglückwünschen, welchen Fang sie gemacht haben.
Diese Piraten bereichern sich an dem Elend anderer Leute und feiern sich dafür, wie toll sie doch sind. Wahrscheinlich ist es ihnen sogar ein Fest, eine Adelige verkauft zuhaben.
...
Die Nacht bekomme ich kaum ein Auge zu und in den frühen Morgenstunden merke ich, dass das Schiff am Hafen anlegt. Es wird hektisch im Frachtraum und wir Jungfrauen werden zuerst herausgeführt. Wir sind an den Händen mit schweren Eisenketten gefesselt und müssen in einer Linie laufen. Ausgerechnet Ote begleitet uns und ich traue mich daher nicht, meinen Kopf zu heben.
An Deck ist es noch ruhig, aber ich hebe trotzdem nicht den Blick. Ich würde eh nur nach einer Person Ausschau halten. Im Hafen ist hingegen schon richtig viel los und mir schlagen fremde Stimmen und Gerüche entgegen.
Nach einem kurzen Fußmarsch öffnen sich schwere Türen und ich hebe nun doch den Kopf. Ein großes Haus mit mehreren Türen ist direkt vor mir und zur rechten Seite erkenne ich ein kleineres Haus. Und überall stehen Wachen mit langen, gebogenen Schwertern. Dabei ist alles von hohen Mauern umgeben.
Wir werden alle zu dem großen Haus geführt und eine weitere, schwere Tür öffnet sich. Dampf schlägt mir entgegen und ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass ich in einem riesigen Badehaus bin.
Unsere Ketten fallen klirrend zu Boden und einer der Männer befiehlt in italienischer Sprache, dass wir uns ausziehen und baden sollen. Wurden wir jetzt schon verkauft?!
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