135 - Ich hasse sie
Ich stehe neben Pepin am Steuerrad und stütze mich mit dem Hintern an der Reling ab. Mein Blick ist starr, aber meine Gedanken kreisen. Wie konnte sie nur alles von mir zerstören? Wollte sie, dass ich sie umbringe? Das hätte sie sogar fast geschafft. Sie sollte froh sein, dass ich Ote geschickt habe, um sie in die Zelle zu sperren!
Ich schaue über meine Schulter ins Wasser, denn am liebsten hätte ich sie über Bord geworfen! „In meinem Logbuch steckt jahrelange Arbeit und sie zerstört es in wenigen Minuten!", murmele ich vor mich hin.
Pepin dreht den Kopf zu mir. Er hebt eine Augenbraue und sein sonst so fröhliches Grinsen ist einem ernsten Gesichtsausdruck gewichen. „Wie meinst du das? Wer hat dein Logbuch zerstört?"
„Wer wohl? Alisea hat alle Seiten herausgerissen und sogar etwas zerrissen! Ich habe mir den Schaden noch nicht genau angesehen. Sonst hätte ich mich vergessen! Ote bringt sie gerade in die Zelle." Ich merke sofort, wie ich mich wieder anspanne und zische noch: „Ich hasse sie!"
„Du hast ihr gesamtes Leben innerhalb weniger Wochen zerstört. Was ist ein Buch schon im Gegensatz zu einem Menschenleben?" Er grinst nun wieder, allerdings bleibt seine Stimme ernst. „Das ist nun mal unser Leben. Wir sind Piraten und Sklavenhändler. Wir zerstören jeden Tag das Leben von anderen Menschen. Alisea ist nur die erste von ihnen, die sich so heftig dagegen wehrt."
„Nein, sie ist die Erste, bei der es mich störte. Bei der ich mir wünschte, ich hätte sie nie gefunden und sie wäre wohlauf." Ich atme laut aus und weiß selbst nicht, was ich jetzt davon halten soll. Dabei habe ich mir so gewünscht, ihr Lachen noch einmal zu hören und ihr wieder Hoffnung zu geben. „Aber jetzt hat sie eindeutig den Bogen überspannt. Sie wusste, dass sie das Logbuch nicht anfassen darf und wollte mir damit wohl zeigen, dass ich ihr nichts wert bin... ähm.. ich meine, dass sie keinerlei Respekt mehr vor mir hat."
„Hat sie es verbrannt? Ist dein Logbuch wirklich restlos zerstört?" Obwohl Pepin geradeaus schaut, spüre ich zeitgleich seinen Blick auf mir.
„Natürlich ist es zerstört! Sie hat alle Seiten herausgerissen! Da ist keine Einzige mehr im Einband. Aber allein schon der Punkt, dass sie es gewagt hat, es wieder anzufassen, reicht schon!" Ich stoße mich von der Reling ab und laufe hinter Pepin hin und her. „Ich weiß nicht, was noch zu retten ist. Das müsste ich nachsehen."
„Dann schreibst du es halt neu. Wo ist das Problem? Man kann fast alles reparieren oder rekonstruieren."
Ich bleibe stehen und schaue Pepin entgeistert an. „Was willst du mir damit sagen? Ich habe Jahre gebraucht, um es zu schreiben! Jetzt soll ich es einfach neu schreiben und alles vergessen?" Nein! Selbst wenn ich es neu schreiben könnte oder reparieren... Das war's jetzt! Ich kann sie nicht mehr alleine bei mir lassen.
Er dreht sich zu mir um und nickt langsam. „Sie hat in dir das Beste zum Vorschein gebracht, aber nun kippt es. Es wird Zeit, sie endlich loszulassen, Lestat, bevor es nur noch schlimmer wird."
Hm, vielleicht hat er recht. Ich mag die Kleine, aber ich muss der Tatsache ins Auge sehen, dass es nichts bringt, sie weiter bei mir zu behalten. Ich habe sie gebrochen und werde es sicher nicht schaffen, diese Scherben wieder zusammenzusetzen. Dafür ist es zu spät. Sie hat sich nun gerächt und etwas von mir kaputt gemacht. „Ich hatte überlegt, sie nicht zu verkaufen, sondern auszulösen."
Mein Blick geht zu Boden und ich schüttele genervt über mich selbst den Kopf. „Aber jetzt glaube ich, es macht keinen Sinn. Ich werde sie nur weiter quälen. Du hast recht. Was man liebt, sollte man loslassen können. So wie du deine Frau losgelassen hast..." Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Und was soll ich sagen, ich kenne keinen fröhlicheren Piraten als dich. Das werde ich also auch noch überleben."
...
Die nächsten Tage verbringe ich damit, mein Logbuch zu sortieren. Sie hat die Seiten herausgerissen, aber zum Glück nicht komplett zerstört. Bis auf die letzten Seiten, wie ich feststellen muss, als wir schon fast in Konstantinopel sind.
Wir werden vielleicht noch einen Tag segeln, dann sind wir da. Ich schaue traurig zum Fenster. Ich werde Alisea wirklich vermissen. Es ist aber besser so, wenn sie nicht mehr in meiner Nähe ist. Es war eine dumme Idee, sie doch meinem Vater anzubieten, um an ihn heranzukommen.
Ich würde sie außerdem damit nur noch mehr kaputtmachen und das will ich nicht. Sie wird es gut haben in einem Harem. Dort wird sie nicht geschlagen und muss auch nur ab und zu den Herrn beglücken, wenn überhaupt. Es wird ihr besser gehen als bei mir.
Pepin hat recht. Ich muss sie loslassen. Denn sie hat nicht nur das Beste in mir geweckt, sondern auch das Schlimmste. Sie hasst mich und ich hasse sie. Ich habe Nouel ermordet. Das wird sie mir nie verzeihen.
Nachdenklich schaue ich auf die Papierschnipsel. Was sie wohl gedacht hat, als sie las, was Nouel mit ihr geplant hatte? Ob sie überhaupt wütend auf diesen Schmierlappen war? Oder richtet sich ihre ganze Wut auf mich? Sicherlich auf mich, denn sonst hätte sie hier nicht alles zerrissen und herausgerissen. Ich muss das Kapitel mit Alisea abschließen und mich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren: Meine Mannschaft und unsere Beute.
Ich strecke mich und nehme mir vor, in Konstantinopel einen Buchmacher aufzusuchen, der mir mein Logbuch zusammenflickt. Am besten einer, der kein Französisch lesen kann. Alisea muss ich jetzt endlich aus dem Kopf bekommen, aber ich sollte Enrico nochmal Bescheid sagen, dass er prüfen soll, ob sie noch Jungfrau ist. Nicht, dass Christos das Ziel sogar erreichte und wir uns auf dem Markt zur Lachnummer machen.
So stehe ich auf, um zu Enrico zugehen, doch bevor ich meine Kajüte verlasse klopft es. Ich mache die Tür auf und Ote steht vor mir, daher frage ich direkt: „Gibt es etwas Neues? Sind die Frauen alle startklar, um verkauft zu werden?"
„Bis auf die Jungfrauen, die werden noch einmal untersucht." Ote geht einen Schritt in meine Kajüte hinein und schließt die Tür hinter sich. „Was hast du jetzt mit Alisea vor?"
Warum muss er sie jetzt ansprechen? Ich gehe wieder etwas zurück. „Was meinst du? Ich werde sie verkaufen. Das ist für alle das Beste."
„Und was ist mit Roux? Der Brief, den du mir gezeigt hast..." Er streicht sich seine Haare zurück und schnauft leise. „Sie weiß, wo deine Mutter ist!"
„Wenn sie es mir hätte verraten wollen, dann hätte sie es schon getan. Ich möchte jetzt einfach abschließen. Mein Vater wird ohnehin nicht so schnell einen Erben bekommen. Dazu ist er einfach zu alt." Ich lehne mich an die Kante meines Schreibtisches und sehe meinen Freund an. Er meint vielleicht, dass durch meinen Vater mehr rum kommt. „Ich scheiß auf meine Rache. Alisea hat es nicht verdient, weiter gequält zu werden oder meinst du nicht?"
„Und du glaubst, in einem Harem wird sie das nicht? Bei all den Frauen, die bloß einem Scheich gefallen und in sein Bett steigen wollen? Sie wird auffallen und von der ersten Minute an werden die Frauen eifersüchtig sein und Intrigen schmieden."
„Sie ist gewieft genug, um sich solchen Angriffen zu widersetzen. Sie kämpft dort nicht gegen starke Männer, sondern gegen Frauen."
Ote rollt mit den Augen. „Machst du dir da nicht selbst etwas vor?"
„Was soll ich sonst machen? Sie auslösen? Und dann? Sie will mich nicht! Schon vergessen?" Ich zeige auf die geordneten Blätter auf meinem Tisch. „Sie hat das zerrissen, damit ich sie töte oder um mir zu zeigen, dass ich sie zerstört habe... ich weiß es nicht. Jedenfalls ist das Thema für mich erledigt. Ich habe mich viel zu sehr von ihr um den Finger wickeln lassen. Damit ist ein für alle Mal Schluss!"
Ote hebt bloß beide Hände und zieht dabei die Augenbrauen kraus. „Wie du meinst. Dann verkaufe sie, wenn du dich damit besser fühlst."
„Ja, ich fühle mich damit besser!" Mit den Worten gehe ich an ihm vorbei und mache mich auf den Weg zu Enrico.
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