134 - Wut im Bauch
Lestat steckt den Ring wieder ein. „Eigentlich wollte ich dich nicht verkaufen, sondern mit meinem Vater Roux noch mal verhandeln. Aber da es nichts Sicheres ist, wollte ich es dir nicht sagen."
Vater Roux? Er meint wohl, Graf Roux. Aber was bringt es, wenn er neu verhandelt? Ich lande bei einem anderen Mann und es ändert sich gar nichts für mich. Ich hätte nie mit Christos mitgehen dürfen. Mir war doch klar, dass er nichts Gutes im Sinn hatte. Alle Männer sind gleich. Warum mache ich mir überhaupt noch Hoffnungen?
Es ist mir nicht möglich, mein Leben selbst zu bestimmen. Ich werde niemals frei sein! All meine Wünsche und Hoffnungen muss ich ein für alle Mal aus meinem Kopf verbannen und mich damit abfinden, bloß zum ficken und Kinder kriegen gut genug zu sein.
Lestat greift nach meiner Hand und ich halte die Luft an, um nicht zu zittern. Obwohl es wirklich warm ist, friert es mich. Aber der Pirat merkt es nicht und geht mit mir in Richtung Hafen. „Wir sind noch nicht in Konstantinopel. Das wird unser nächster Hafen."
Ich nicke lediglich und schaue in den wolkenlosen Himmel. Ich mochte den Sommer schon immer lieber als den kalten, trostlosen Winter. Wahrscheinlich ist es das ganze Jahr über warm hier.
Also hört meine Odyssee endlich am nächsten Hafen auf. Ich gebe zu, dass ich mittlerweile einfach keine Kraft mehr habe. Ohne Nouel ist es sinnlos geworden. Und ich bin für den Tod weiterer Menschen verantwortlich. Das Blut kann ich abwaschen, aber die Schuld wird ewig bleiben.
Eigentlich habe ich mein Schicksal mittlerweile mehr als nur verdient. Es ist sicher besser so, wenn ich in einem Harem weggesperrt werde.
Lestat geht gemütlich neben mir her, als wäre es ein ganz normaler Spaziergang. Allerdings hat er meine Hand fest im Griff. Mich loszureißen wäre sinnlos. Ich kann ja eh nichts an meinem Leben ändern.
Wir nähern uns dem Hafen und ich sehe die Black Curesana schon von Weitem. Das war's nun. Also schaue ich wieder in den Himmel und genieße einfach noch den Moment. In einem Harem werde ich sicherlich auch die Sonne sehen. Den Büchern nach ist es ein kleiner Palast in einem großen Palast. Lestat hatte von Anfang an recht, als er sagte, dass es mein Schicksal sei und es mir dort gut gehen würde. Und trotzdem hätte ich nichts dagegen gehabt, mit Lestat bis nach Indien zu segeln. Oder bis nach Amerika. Wobei mir Christoph lieber war als Lestat.
Lestat ist stehen geblieben und ich schaue mich wieder um. Wir stehen mittlerweile vor seinem Schiff.
Ich sollte traurig sein und weinen, vielleicht sogar betteln. Aber ich bin innerlich einfach nur leer und abgestumpft. Ich zittere auch nicht mehr. Und trotzdem kommt es mir so vor, als wenn ich nur noch funktioniere, weil ich es muss.
„Möchtest du noch ein wenig spazieren gehen?", fragt Lestat.
Nun schaue ich zurück zum Hafen und hebe dabei unweigerlich die Augenbrauen.
„Ein Spaziergang in den dreckigen Straßen und Gassen? Ich bin barfuß, Lestat."
Er schaut nun auf den Boden, wo meine nackten Füße vom Kleid bedeckt sind. „Dann komm, ich bringe dich zurück in die Kajüte und hole dir Wasser, damit du deine Füße waschen kannst." Er lässt meine Hand nicht los. Auch nicht, als wir das Schiff betreten und er mich an Deck bis zur Tür begleitet, obwohl einige seiner Piraten auf dem Deck sind. Lestat öffnet die Tür und führt mich hinunter, bis zu seiner Kajüte. Dann holt er noch einen kleinen Eimer mit Wasser und Seife. Danach geht er wortlos und schließt ab.
Ich setze mich seufzend auf die Chaiselongue, ziehe den Rock vom Kleid hoch und wasche meine Füße gründlich. Dabei steigen mir nun doch Tränen in die Augen, weil ich immer wieder das Bild von Christos vor Augen habe, wie er nackt auf mir liegt. Obgleich ich die Tränen herunter schlucken will, fange ich an zu weinen.
Allerdings weiß ich doch schon längst wie es ist, einem Mann hilflos ausgeliefert zu sein. Trotzdem fühle ich mich dreckig. Dabei hatte Christos sein Ziel nicht mal erreicht. Es wundert mich ja, dass Lestat bisher nicht überprüft hat, ob ich noch Jungfrau bin.
Nachdem keine Tränen mehr kommen und die Füße trocken sind, gehe ich ein paar Schritte in der Kajüte auf und ab. Ich werde immer unruhiger und bleibe am Schreibtisch stehen. Sind wir wirklich nur noch einen Halt von Konstantinopel entfernt? Panik macht sich in mir breit und ich öffne die Schublade, in der das Logbuch ist. Ich greife sofort danach und sehe, dass darunter einige Briefe liegen.
Die Handschrift von den meisten Briefen kenne ich. Es sind insgesamt fünf Briefe und alle sind an meinen Vater adressiert. Der Absender ist Nouel Durand. Mein Herz klopft schneller, als ich den ersten Brief öffne und meine Finger fangen an zu zittern. Weil Tränen in meinen Augen brennen, schaffe ich es nicht, den Text zu lesen.
Nur allein seine Schrift zu sehen, lässt mein Herz in tausend Teile zersplittern und ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Erneut fange ich an zu weinen und drücke die Briefe an meine Brust, bis ich mich halbwegs beruhigt habe. Seit seinem Tod habe ich nicht richtig um ihn getrauert und ich weiß, er würde wollen, dass ich einen weiteren Fluchtversuch wage.
Aber wofür? Damit noch mehr Menschen sterben? Nein, es hat keinen Sinn mehr. Gar nichts...
„Dein Tod war so sinnlos..."
Mit zittrigen Händen entfalte ich den ersten Brief und lese den Text. Nouel schrieb meinem Vater, dass er mich heiraten und mich zurück nach Marseille bringen wird.
Ein schwaches Lächeln erscheint auf meinen Lippen, denn ich hatte den Antrag ja abgelehnt. Gerade Nouel wusste doch schon jahrelang, dass ich nie heiraten wollte. Also lese ich den nächsten Brief von ihm, der wieder an meinen Vater gehen sollte. Der Text ist ähnlich. Daher lese ich den nächsten Brief und den nächsten. Der Wortlaut wird allerdings von Brief zu Brief fordernder, bis ich den letzten Brief lese.
...
Sehr geehrter Herr Baron de Marchand,
es erfüllt mich mit stolz, Euch mitteilen zu dürfen, dass ich Eure Tochter wohlbehalten zurück nach Marseille bringen werde. Sie wird zu diesem Zeitpunkt mein Eheweib sein und unser gemeinsames Kind erwarten.
Ich erwarte, dass Ihr mich und das Kind anerkennt, anderenfalls wird Eure Tochter einen bedauernswerten Unfall erleiden nach der Geburt. Vielleicht stirbt sie ja auch dabei, wie ihre Mutter. Wer weiß das schon. Dann wäre dieser Sohn der einzige Erbe, den Ihr habt. Überlegt Euch daher gut, wie Ihr Eure Tochter, Euren Enkelsohn und mich begrüßt, wenn wir zurück in Marseille sind.
Nouel Durand
...
Ich setze mich erschüttert auf den Stuhl und lese die Zeilen immer und immer wieder. Bis mir irgendwann klar wird, dass Nouel wohl kaum nach einer anderen Arbeit und Bleibe für uns gesucht hat, sondern diese Briefe an meinen Vater schrieb. Aber woher hat Lestat sie? Wobei ich mir schon denken kann, dass durch Bestechung einfach alles möglich ist.
Wieder schaue ich auf den Brief, bis meine Trauer und Enttäuschung in Wut umschlägt. Ohne zu überlegen, zerreiße ich den Brief mehrmals und lasse ihn zu Boden fallen.
„Scheiß Männer! Es sind alles Schweine! Sie alle!"
Am liebsten würde ich die Öllampe aufdrehen und auf das Bett werfen, damit die Kajüte anfängt zu brennen und hoffentlich auch das ganze Schiff. Aber noch sind wir am Hafen und Lestat hat auch wieder abgeschlossen. Sollte wirklich das Schiff brennen, dann werden all die Frauen im Frachtraum sterben, während die Piraten sich an den sicheren Hafen retten.
Mein Blick fällt auf das Logbuch und ich schlage die letzte Seite auf, die Lestat geschrieben hat. Es ist von gestern, als er sich mit Ote geprügelt hat. Auch Christos taucht darin auf und Lestats Wut, weil Ote zugelassen hat, dass ich Christos' Schwanz lutschen musste.
Warum steht mein Name in diesem Buch?! Bisher hat er nie die Namen der Ware erwähnt und es stachelt meine Wut nur noch mehr an, dass er mich in diesem verdammten Buch erwähnt!
Ich reiße diese Seite heraus und zerreiße sie ebenfalls in kleine Fetzen.
Mein Name gehört da nicht hin! Ich will das nicht! Es reicht, dass er mir alles genommen hat und sich an mir bereichert! Aber ich will nicht auch noch, dass ich Teil dieses Buches werde!
Weitere Seiten reiße ich heraus und lasse sie einfach auf den Boden fallen, während ich einem regelrechten Zerstörungsrausch verfalle. Selbst, als ich alle beschriebenen Seiten herausgerissen habe, höre ich nicht auf, bis das letzte Blatt zu Boden gefallen ist.
Schwer atmend nehme ich das zerfledderte Logbuch und werfe es achtlos auf den Boden. Danach reiße ich andere Schubladen heraus und suche eine Schere oder ein Messer. Wie gern würde ich mir nun die Haare kurz schneiden, damit ich an Wert verliere!
Mittlerweile weiß ich, dass es meine verdammten blonden Haare sind, die hier in dieser Region so viel Wert sind! Aber ich finde nichts, gar nichts! Wütend schreie ich auf und gehe wieder in dem Zimmer auf und ab. „Nein...! NEIN!"
Ich kann nicht mehr... Ich will nicht mehr... Das Maß ist endgültig erreicht! Kraftlos falle ich zu Boden und lande hart auf meinem Hintern.
...
Nach einiger Zeit öffnet sich die Tür und Lestat kommt herein. Er sieht erschrocken zu mir, weil ich noch immer auf dem Boden sitze.
„Was ist pass-" Seinen Satz beendet er nicht, sondern reißt seine Augen weit auf und guckt zu den herausgerissenen Papieren an seinem Schreibtisch. Für einen Moment steht er wie versteinert da.
Ich kann sehen, wie nahe es ihm geht. Wie tief es ihn erschüttert. Gut so! Es soll ihn verletzen, wie er mich verletzt hat! Immer und immer wieder!
Wortlos geht er auf den Schreibtisch zu und greift nach einer der Seiten, die ich aus dem Logbuch gerissen habe. Er liest im Stillen ein paar Wörter und dreht die Seite danach um. Dann greift er nach einem Schnipsel. Es ist ein Schnipsel von Nouels Briefen, wie ich am Papier erkennen kann.
Lestat geht um den Schreibtisch und durchsucht hastig alle Blätter, nimmt sogar sein Logbuch in die Hand, nur um festzustellen, dass dort alle Seiten fehlen. Dann schaut er in die Schublade und zieht die Briefe heraus, die ich an einem Stück gelassen habe. Seine Ader an der Stirn guckt jetzt heraus und er hält wieder inne, nur seine Augen bewegen sich über das Chaos. Er flüstert sehr leise, aber ich verstehe trotzdem die Worte. „Du arrogantes Miststück!
Er schaut zum Fenster und atmet schwer, sagt aber keinen Ton mehr und sieht auch nicht zu mir herüber.
Ich wende den Blick ab und starre auf den Boden. Irgendwie hatte ich mir eine heftigere Reaktion erhofft. Ja, vielleicht habe ich sogar gehofft, dass er so wütend ist, dass er mich umbringt und mich endlich erlöst. Aber diesmal fühlt sich die Vorstellung vom Tod ganz anders an. Komme ich überhaupt in den Himmel? Nouel ist sicherlich auch nicht dort, immerhin hat er mich verraten und ausgenutzt. Auch meine Mutter ist nicht im Himmel, weil sie eine Ehebrecherin war, wie mein Vater immer betont hat.
Komme ich auch in die Hölle? Ich habe so lange nicht mehr gebetet... So lange nicht mehr für meine Sünden um Vergebung gefleht. Ich habe getötet. Kann die Hölle schlimmer sein als das Leben selbst?
Ich schaue wieder zu Lestat auf, weil ich seine Schritte höre. Er geht zur Tür, verlässt einfach den Raum und schließt wieder ab.
Was immer er jetzt macht, es ist egal. Vielleicht lässt er woanders seine Wut raus, weil er mich nicht schlagen darf, denn ich könnte ja an Wert verlieren...
Also bleibe ich einfach sitzen und warte auf das, was kommen mag. Dann geht die Türe wieder auf und Ote betritt den Raum. Er schaut nur kurz zu Lestats Schreibtisch, während er auf mich zukommt. „Du hast es dir anscheinend ziemlich verscherzt mit dem Kapitän. Ich hoffe, du hast jetzt das, was du wolltest!" Dann greift er nach meinem Arm, um mich auf die Beine zu ziehen. „Komm mit!"
Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich bin kurz versucht, mich loszureißen. Ich will nicht zu Ote! Ich will nicht!
Aber ich senke nur den Blick und gehe mit. Was ich will, spielt doch schon lange keine Rolle mehr. Es hat noch nie eine Rolle gespielt. Frauen bekommen nicht, was sie wollen, sondern das, was sie verdienen.
Während wir durch das Schiff gehen, merke ich, dass es wieder ein wenig schwankt. Trotzdem halte ich den Blick stur nach unten gerichtet und bin überrascht, als wir plötzlich im Frachtraum stehen.
Ote öffnet die Zelle, in der Nouel war und ich auch einige Zeit nach der Sache in Griechenland. Dann lässter mich los. „Los, geh rein. Das hast du dir selbst zuzuschreiben."
Ich gehe an ihm vorbei, aber diesmal senkt Ote den Blick, wirkt enttäuscht und schüttelt leicht mit dem Kopf, bevor er die Tür hinter mir schließt.
Wahrscheinlich ist er ebenso wütend wegen dem Logbuch, wie Lestat. Dabei ist es nur Papier! Nur Papier! Ich frage mich nun sogar, warum ich nicht jede Seite in mehrere Einzelteile zerrissen habe. Wollte ich alles bloß schnell hinter mich bringen? Oder hatte mein Unterbewusstsein Angst vor der Strafe?
Ich setze mich auf den Boden, ziehe die Beine an meinen Körper und lege die Arme darum. Wenigstens habe ich nun ein Kleid an und bin auch nicht gefesselt.
Was, wenn ich das Logbuch gar nicht restlos zerstören wollte? Aber warum? Angst? Respekt? Furcht? Oder einfach nur die Worte meiner Mutter, die mir immer sagte, dass man das Eigentum anderer Leute nicht zerstören darf?
Egal, was es auch war, ich sollte mir darüber jetzt nicht meinen Kopf zerbrechen. Es ändert weder etwas an meiner Situation, noch an meinem Schicksal.
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