116 - Bitte wach auf!
Der Sturm hat längst nachgelassen und ich bin müde. Doch Alisea ist bisher nicht aufgewacht und Enrico kam auch noch nicht. Sagte er nicht, er wolle nochmal nach ihr sehen? Vielleicht war ja etwas Ernsteres mit dem eingeklemmten Piraten.
Ich kann mich gerade selbst nicht verstehen, warum mir der eingeklemmte Pirat so egal ist. Das sollte es nicht. Ich bin der Kapitän und muss mich um solche Dinge auch kümmern. Doch ich war nicht einmal am Steuer oder habe mich auf Deck blickenlassen, als der Sturm war. Hoffentlich ist keiner über Bord oder verletzt.
Mein Blick wandert wieder zu meiner Kleinen. Ich sitze noch immer auf der Bettkante und streiche ihr wieder über die Hand. Sie wird nicht wach. Es war nur ein verdammter Moment der Unachtsamkeit und schon habe ich versagt! Wie kann so eine wunderschöne Frau nur so viel Pech haben?
Ich schaue hinter mich zur Tür. Wenn ich jetzt nicht langsam mal rausgehe und meinen Pflichten nachgehe, bringt es Alisea auch nichts. Wer weiß, was mit ihr passiert, wenn ich als Kapitän abgesetzt werde, weil meine Mannschaft mir nicht mehr traut. Weil ich eine Frau über sie stelle.
„Ach verdammt, Lestat!" Rede ich mit mir selbst. „Was ist nur aus mir geworden?" Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Aber ich kann nicht mehr leugnen, dass die Kleine mir unter die Haut geht und ich so sehr hoffe, dass sie bald wieder aufwacht.
Trotzdem streiche ich ihr ein letztes Mal über die Wange und stehe auf. Der Seegang ist ruhig, sie wird nicht aus dem Bett fallen. Allerhöchstens werde ich nicht da sein, wenn sie aufwacht. Vielleicht sitzt sie wieder auf dem Sofa, wenn ich zurückkomme und ich habe mir umsonst Sorgen gemacht.
Ohne nochmal nach hinten zu sehen, gehe ich raus und verschließe die Tür hinter mir. Ich muss mich endlich nach den Schäden und der Mannschaft erkundigen. Auf dem Weg zu Enrico, kommt mir Ote entgegen.
Er bleibt sofort stehen und sieht mich musternd an. „Wo warst du die letzten Stunden? Christos meinte, Alisea sei verletzt. Was ist denn jetzt schon wieder mit ihr?" Er sieht müde aus und seine Kleidung ist noch völlig durchnässt. KeinWunder, dass sein Ton so anklagend ist, immerhin habe ich ihn völlig im Stich gelassen.
Ich straffe meine Schultern, denn ich kann nicht so geknickt vor ihm stehen. Auf seine Frage zu Alisea gehe ich jetzt nicht ein. Wahrscheinlich hält er es auch nicht fürvwichtig. Ich muss jetzt einen klaren Kopf bewahren vor ihm. „Gibt es denn Schäden oder Verletzte?"
„Maurice wurde eingeklemmt, er hat sich ein Bein gebrochen. Enrico meint, dass die Chancen gut sind und er nicht amputieren muss." Ote wischt sich über das Gesicht und gähnt laut. „An Deck war alles gut. Die Black Curesana wurde nur etwas durchgeschaukelt, mehr nicht. Das Unwetter war harmlos. Pepin ist jetzt am Steuer."
„Das hört sich doch gut an", entgegne ich. „Ich werde Pepin dann ablösen gehen." Eigentlich wollte ich zu Enrico, aber ich muss jetzt präsent sein und zeigen, dass ich meiner Mannschaft beiseite stehe. Meine Kleine wird es verkraften, dass ich nicht da bin und mir wird es auch guttun, sie ein paar Stunden aus dem Kopf zu bekommen. Wenn ich es denn schaffe.
Ich drehe mich um, um in die andere Richtung zu laufen.
Ote schließt aber direkt zu mir auf.„Also geht es der Baronesse besser? Christos meinte, sie hätte am Kopf geblutet."
Christos! Christos! Christos! Ich merke wie sich wieder Wut anstaut. Warum erwähnt er ständig Christos? Den geht das doch überhaupt nichts an! „Nein, es geht ihr nicht besser. Sie ist nicht wieder aufgewacht. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Es gab einen eingeklemmten Kanonier. Wurde der nicht verletzt?" Ich schaue, während ich meinen Weg fortsetzen, interessiert zu Ote und hoffe, dass ich damit das Thema Alisea vom Tisch habe. Christos müsste ihm das ja auch erzählt haben, denn er hat ja schließlich Enrico zu dem Notfall gerufen.
„Ja, er liegt im Arztzimmer. Hörst du mir denn gar nicht zu? Er hat sich das Bein gebrochen und Enrico hofft, dass er nicht amputieren muss." Ote schlägt sogar den Wegnach unten ein und will wohl nach diesem Kanonier sehen. Ich bleibe kurz stehen. Verdammt, hat er das vorher schon gesagt? Ich habe scheinbar wirklich nicht zugehört. Aber ich habe auch nicht geschlafen und merke, wie müde ich gerade bin.
Vielleicht sollte ich nochmal kurz nach Alisea sehen, bevor ich...
„Darf ich mal durch?", fragt ein Pirat und deutet auf eine schmale Lücke, durch die er will. Wo kommt der denn her? Ich habe niemanden kommen hören. In meinem Zustand hätte er mich von hinten erstechen können und ich hätte es nicht einmal kommen sehen! Jetzt reicht es aber.
Ich muss wieder klar kommen. „Ich muss auch da lang." Sofort setze ich mich wieder in Bewegung zum Deck. Alisea muss warten! Meine Mannschaft hält mich sonst noch für schwach!
Pepin steht am Steuer und pfeift vergnügt ein Lied, während er tänzelnd mit den Beinen wippt. Ich stelle mich neben ihn. „Lass mich übernehmen und ruh dich etwas aus."
Pepin grinst mich breit an und deutet zum Himmel. „Ich habe ganz gut geschlafen. Bisschen holprig vielleicht. Außerdem geht bald die Sonne unter."
Ich schaue zur untergehenden Sonne und sehe mich dann nach allen Seiten um. Wir sind vom Kurs abgekommen, aber das lässt sich leicht korrigieren. „Wir müssen wenden und zwischen den Inseln Chios und Lesvos durch." Ich zeige nach Osten, da wir aktuell nach Nordwest segeln.
„Du willst doch dem Unwetter nicht nachjagen. Wir machen einen kleinen Umweg. Ich habe schon zu Ote gesagt, dass wir dann höchstens einen Tag verspätet ankommen, aber dafür auf der sicheren Seite sind. Oder wie sind deine Befehle?"
„Wie könnte ich dein Gespür für das Wetter in Frage stellen?"
Pepin lacht kurz auf und haut mir auf die Schulter. „Siehst du? Also ab ins Bett mit dir. Die Nachtschichten mache ich schon."
Die Segel bleiben auch noch, wie sie sind. Morgen früh können wir sie wieder spannen und Kurs auf Smyrna nehmen.
Ich bin hundemüde und eigentlich wollte ich eh zu Alisea zurück. Pepins Angebot klingt zu verlockend und doch stehe ich hier und bewege mich nicht. Ich will nicht zu meiner leblosen Kleinen ins Bett. Die Schuldgefühle, sie nicht festgehalten zu haben, fressen mich auf. Oder ist es etwas anderes? „Pepin, warst du schon mal verliebt?"
„Oh ja. Es gab da mal dieses Mädchen in Venedig, die mich fast dazu gebracht hätte, dass ich Belial und die Crew verlasse." Er seufzt leise und hat ein glückliches, zufriedenes Grinsen im Gesicht.
„Warum hast du es nicht getan?"
„Ich war jung, ich konnte ihr nichts bieten. Daher bin ich weiter mit Belial gesegelt und habe ihr versprochen, dass ich wiederkomme. Aber im Jahr darauf war sie schon verheiratet." Pepin schaut mich kurz an und richtet den Blick dann wieder auf das Meer. „Warum fragst du?"
„Nur so", erwidere ich. „Die Geschichte klingt traurig. Vermutlich wurde sie mit jemandem verheiratet, den sie überhaupt nicht wollte. Du hättest ihn töten können." Ich schaue wieder zu Pepin und überlege mir, ob ich es getan hätte, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre. Vermutlich hat er die See aber auch viel zu sehr geliebt. Man kann keine Frau haben und gleichzeitig ein Pirat sein.
„Ach, sie hat einen anständigen Mann bekommen. Wahrscheinlich ein besserer Mann, als ich es jemals hätte sein können." Pepin grinst nun wieder breit und schaut zu mir herüber. „Ein anderes Mädchen hat mich danach nicht mehr interessiert. Aber wir sind auch zu selten an Land.
„Mich hat auch nie ein Mädchen interessiert. Sie waren für mich immer nur Ware und zum Vergnügen da."
„Und jetzt ist dem nicht mehr so?"
Ich schaue Pepin verwirrt an. „Ähm... also, das habe ich nicht gesagt." Ach, wem mach ich etwas vor? Ich atme laut auf. „Ich weiß es nicht mehr, aber ich bin nunmal nicht irgendein Pirat, der mal eben an einem Hafen aussteigt und sich ein Weib nehmen kann. Es wird nie einen Weg geben für mich." Kurz schockiert mich meine Aussage sogar selbst, aber es stimmt doch.
„Du willst also beides? Frau und Schiff? Dir ist schon klar, dass eine Frau auch ein paar Monate auf dich warten kann, wenn du umher segelst? Alisea hätte da sicher kein Problem mit."
Ich versteife mich kurz, als er ihren Namen erwähnt. Aber es ist doch längst klar, von wem ich rede. Nervös kaue ich mir auf der Lippe herum und stelle dabei fest: „Das würde nie funktionieren. Wer passt denn dann auf sie auf? Zumal ich jetzt erst mal hoffe, dass sie wieder aufwacht."
„Redet ihr von Alisea?"
Ich drehe mich um und sehe Christos auf uns zukommen. Was hat er gehört?
„Was ist mit der Baronesse?", fragt Pepin neugierig. „Warum sollte sie wieder aufwachen?"
Ich seufze kurz. „Sie ist bei dem Sturm gestürzt und hat sich den Kopf gestoßen. Seit dem ist sie nicht mehr aufgewacht.
„Baronesse?", fragt Christos. „Wie kommt ihr an eine Baronesse?" Christos schaut mich mit großen Augen an. Das wusste er scheinbar nicht und geht ihn auch nichts an.
„Das ist eine lange Geschichte und nicht für jedermanns Ohren bestimmt", brumme ich unzufrieden und schiele dabei kurz zu Pepin.
„Hast du nach dem gerissenen Segel geguckt?", fragt Pepin an Christos gewandt.
„Ja, ich habe es den Segelflickern zum Nähen gegeben", erwidert Christos.
„Sehr gut. Wie lange brauchen sie?"
„Gerissenes Segel?", hake ich nach.
Pepin winkt ab. „Nur ein Ersatzsegel. Keine Angst, die Black Curesana ist intakt und voll einsatzbereit."
„Gut, dann werde ich mich jetzt doch mal aufs Ohr legen." Mit dem Satz drehe ich mich um und verlasse die beiden. Ich weiß nicht, ob ich mich in Christos' Gesellschaft weiter zusammenreißen kann. Vor allem in meinem übermüdeten Zustand. Dabei konnte ich das eigentlich immer sehr gut.
Durch meine Erziehung habe ich gelernt mich zurückzuhalten. Deshalb bin ich heute Kapitän der Black Curesana. Ich sollte mich darauf besinnen. Es geht nicht um mich und meine Gefühle, sondern um das Beste für das Schiff und dievMannschaft. Ich habe gar keine Zeit für eine Frau und werde es auch nie haben.
Auch wenn ich Alisea mag, kann das nie funktionieren. Selbst wenn ich mich niederlassen würde. Ich bin ein gesuchter Pirat. Wir wären nirgendwo sicher.
Ich betrete meine Kajüte und gehe direkt zu ihr ans Bett. Sie liegt unverändert da. „Alisea? Hörst du mich?"
Sie regt sich nicht. Ein wenig sieht sie aus wie eine schlafende Statue. Eine wunderschöne Statue. Wie unsere Kinder wohl aussehen würden? Schwarze Haare und blaue Augen oder blond? Ich keuche bei dem Gedanken auf. Nein, was passiert nur mit mir? Selbst wenn ich den Gedanken weiterspinnen würde, sie hasst mich! Ich habe ihren Geliebten getötet und kann nicht verlangen, dass sie sich in den Mörder verliebt! Sie würde mir nicht glauben, was Nouel vorhatte oder ist sogar selbst daran beteiligt. Auch wenn ich etwas für sie empfinde, muss ich das jetzt abstellen. Es ist eine Sackgasse.
Ich drehe mich um und setze mich an meinen Schreibtisch, um das Logbuch zu schreiben, bevor ich mich schlafen lege.
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