106 - Das ist Folter!
Kopfschmerzen hämmern hinter meiner Stirn, als ich wach werde und langsam die Augen öffne. Es ist dunkel und ich will mich auf die Seite drehen. Allerdings kann ich mich nicht bewegen. Weitere Schmerzen kommen hinzu und ich erinnere mich daran, dass meine Füße aufgeschnitten wurden. Oder wurden mir die Zehen abgeschnitten?
Panik steigt in mir auf und ich will mich bewegen. Aber das ist unmöglich. Ich liege auf dem Bauch und meine Arme und Beine sind ausgestreckt und in schweren Fesseln. Nicht mal schreien kann ich, weil mein Mund geknebelt ist. Trotzdem schreie ich. Aber sie werden durch den Knebel geschluckt.
Heiße, bittere Tränen brennen in meinen Augen, als mir klar wird, dass ich wieder an Bord dieses elenden Piratenschiffes sein muss. Immerhin habe ich die Stimme von Enrico gehört, als ich gefoltert wurde. Und Ote hielt meinen Mund zu, damit ich nicht schreie! Ich fange an zu weinen, denn ich wünsche mir im Stillen, ich wäre einen schnellen Tod gestorben, wie Nouel ihn hatte.
Nouel! Ich werde ihn nie wieder sehen! Er ist tot, nur weil ich dieses Abenteuer wollte! Voller Verzweiflung, Wut und Trauer schreie ich in den Knebel hinein und wünschte, ich wäre an Stelle von Nouel gestorben. Denn es ist meine Schuld, dass er gestorben ist. Nur meine Schuld!
...
Ich muss irgendwann eingeschlafen sein, denn ich werde wieder wach, als sich jemand an meinen Füßen zu schaffen macht. Sofort fange ich an zu zappeln. Aber der Fuß ist immer noch in Ketten und er wird zudem noch gnadenlos festgehalten.
„Halte still!", höre ich die Stimme von Enrico. „Ich will nur den Verband wechseln."
Diese Schweine! Sie wollen mich langsam sterben lassen, indem sie die Wunden, die sie mir zufügen, noch behandeln und versorgen! Mir hätte klar sein müssen, dass Lestat mich qualvoll sterben lässt. Er will immer noch mit mir spielen, aber nun kann er seine sadistische Seite voll und ganz ausleben.
Nachdem Enrico fertig ist, nimmt er mir den Knebel aus dem Mund und hebt meinen Kopf etwas an. Dann spüre ich, dass er mir einen Becher an die Lippen hält. „Hier, trink etwas Wasser."
Im ersten Moment öffne ich sofort den Mund, aber kaum spüre ich die kalte Flüssigkeit auf meiner Zunge, spucke ich sie wieder aus.
„Es ist nicht vergiftet." Der Arzt nimmt den Becher und trinkt selbst einen Schluck. Dann hält er mir den Becher wieder an die Lippen. Aber ich öffne sie diesmal nicht.
Wenn Lestat mich über mehrere Wochen hinweg foltern will, dann sterbe ich lieber durch Wassermangel. Das geht schneller. Auch, wenn es Selbstmord ist und ich dadurch in die Hölle komme. Aber an einen barmherzigen Gott glaube ich eh nicht mehr. Nicht, wenn er zugelassen hat, dass ich dieses Schicksal erleiden muss. Mir wurde alles genommen, was mir je wichtig war. Meine Mutter, meine Freiheit, Nouel...
„Du musst etwas trinken, Alisea." Wieder legt er den Becher an meine Lippen, aber ich presse sie fest zusammen. Ich werde nichts trinken!
Selbst Enrico merkt es wohl, denn er lässt seufzend von mir ab. Er stopft mir wieder den Knebel in denMund und erhebt sich dann. Ich spüre allerdings, dass er noch eine Decke über mich legt, bevor ich die Zellentür quietschen höre.
„Ich werde morgen früh wieder nach dir sehen."
Erschöpft drehe meinen Kopf bei Seite und schließe meine Augen. Aber dann sehe ich wieder Nouel vor mir, der heftig aus der Stichwunde am Hals blutet und mich mit großen, angsterfüllten Augen ansieht. Wieder fange ich an zu weinen, weil ich glaube, dass mein Herz zerbricht.
...
Erneut werde ich wach, weil ich spüre, dass sich jemand an meinen Füßen zu schaffen macht. Aber ich hebe nicht einmal den Kopf. Die Kopfschmerzen sind noch stärker geworden und ich weiß aus Erfahrung, dass sie nicht nachlassen werden. Als ich bei Ote war, war es genauso.
Mir wird der Knebel aus den Mund genommen und ich sehe Enrico, der meinen Kopf anhebt. „Hier, trink etwas." Er legt den Becher an meine Lippen und ich spüre, dass ich schwach werde und den Mund öffne.
„So ist gut. Trink noch mehr."
Nein! Nein, ich will nicht! Ich will, dass es aufhört! Also spucke ich wieder alles aus.
„Wenn du so weiter machst, dann muss ich zum Trichter greifen!" Allerdings steht er wieder auf und geht. Aber diesmal hat er mir keinen Knebel in den Mund gesteckt. Und nun merke ich dieses gleichmäßige, rhythmische Schaukeln. Wir haben also wieder abgelegt.
Am liebsten würde ich weinen, aber es kommen keine Tränen mehr. Ich fühle mich völlig leer. Wie eine leblose Hülle. Aber bald bin ich selbst das nicht mehr. Also schließe ich wieder meine Augen und versuche, meine Kopfschmerzen auszublenden und an nichts zu denken. Trotzdem sehe ich immer wieder Nouel. Und meine Mutter. Ich werde sie nicht mehr wieder sehen, weil ich nicht in den Himmel komme.
...
Meine Augen brennen wie Feuer, als ich sie das nächste Mal öffne. Habe ich da etwas gehört? Da ist doch jemand gelaufen? Aber ist das nicht völlig egal?
Ich ziehe einen Moment an den Fesseln, wobei ich nicht weiß, warum. Es macht keinen Sinn. Aber ich habe soviel Sinnloses getan, wie das verfluchte Abenteuer mit Nouel. Dann gebe ich auf und haue meinen Kopf auf den Boden. Aber irgendwer hat mich auf Decken gelegt, weshalb ich nicht mal den Aufschlag richtig bemerke.
Jemand setzt sich neben mich auf den Boden, aber fasst mich nicht an. Was soll das jetzt? Oder haben sie einen neuen Gefangenen zu mir in die Zelle gebracht?
Doch dann höre ich Lestats Stimme:„Alisea, du musst etwas trinken. Es bringt nichts, zu dursten. Früher oder später wirst du dem Drang unterliegen und doch wieder einen Schluck zu dir nehmen. Ich will es aber gar nicht erst so weit kommen lassen, dass du halb wahnsinnig vor Durst wirst."
Ich spüre ich seine Hand, die mit meinen Haaren spielt und sie etwas beiseite schiebt, damit er mein Gesicht sehen kann.
Sofort drehe meinen Kopf auf die andere Seite. Ich will nicht mit ihm reden! Und ich will auch nichts trinken!
Er seufzt laut und packt meine Haare, um meinen Kopf wieder in seine Richtung zu drehen. „Hör auf mit dem sinnlosen Streik. Wenn du heute nichts trinkst, werden wir dir Wasser mit einem Trichter in die Kehle schütten. Verstehst du mich?"
Ich antworte nicht, sondern schließe einfach meine Augen. Er soll endlich gehen, bevor ich ihn noch anschreie. Warum tut er mir das an? Warum? Was habe ich ihm nur getan?!
Lestat lässt mich aber tatsächlich wieder los und steht auf. Ich blinzle müde und sehe nur noch seine Schuhe, als er rausgeht. Dann höre ich ihn sagen: „Wenn sie nichts trinkt, werde ich dich auspeitschen lassen!"
Kurz danach fällt die Tür ins Schloss. Ich weiß genau, dass er jemanden hier herein geschickt hat. Mein erster Verdacht bestätigt sich sofort, als ich Guilia höre: „Alisea! Ich... ähm..."
Ich öffne meine Augen und schaue zu ihr. Sie steht an der Tür und hat einen Krug in der Hand. Ich schlucke schwer, obwohl ich keine Flüssigkeit im Mund habe, die ich schlucken kann. Hab ich richtig gehört? Er will sie auspeitschen lassen? Oder war es nur eine leere Drohung, damit ich kleinbeigebe? So, wie er mich schon in Piräus mit Guilia erpressen wollte. Und am Ende schlug er mich einfach bewusstlos.
Guilia schaut zurück zur Tür und will sich wohl versichern, dass niemand mehr da ist oder will sie mir ein Zeichen geben, dass er uns zuhört? Dann kommt sie langsam auf mich zu. „Alisea, du musst etwas trinken, bitte! Nur einen Schluck." Ihre Miene sieht verzweifelt aus. So habe ich sie noch nie gesehen.
Einen Moment bin ich versucht, ihrem Flehen nachzugeben. Aber ich darf mich nicht erpressbar machen! Ich muss stark bleiben, dann ist mein Leiden in ein, zwei Tagen vorbei. Also drehe ich den Kopf weg und schließe wieder die Augen.
„Nun, gut. Ich verstehe dich. Ich werde mich einfach hier hinsetzen und dir Gesellschaft leisten."
Ich höre das Rascheln ihrer Kleidung und sie stellt den Krug ab.
„Ich habe mitbekommen, dass du etwas angestellt hast, aber was, wurde uns nicht gesagt. Vielleicht ist es auch nur dummes Geschwätz von den Frauen. Lestat sagt dazu nichts. Also... ich habe ihn auch nicht mehr wirklich gesprochen." Sie macht eine Pause, ehe sie weiterspricht: „Dein Verband am Fuß ist rot. Er müsste mal gewechselt werden. Was hast du da gemacht?"
Ich halte die Augen geschlossen und schweige hartnäckig. Ich will, dass sie geht! Sie sollte nicht meine Freundin sein, denn alles, was mir ans Herz wächst, wird mir genommen!
„Aber egal was es war, es macht keinen Sinn das Trinken zu verweigern. Sie werden es dir einfach einflößen irgendwann. Lestat macht sich große Sorgen um dich. Zumindest sah es für mich eben so aus."
Sie legt ihre Hand auf mein Schulterblatt und lässt sie dort einfach schweigend verharren, bis ich die Tür wieder höre.
„Und?", fragt der Arzt. „Hat sie getrunken?"
Guilia nimmt die Hand von mir und ich höre, wie sie aufsteht. Offenbar hat sie den Kopf geschüttelt, denn Enrico seufzt. „Das habe ich fast befürchtet. Ein Versuch war es aber wert."
Die Zellentür schließt sich wieder und ich glaube einen Moment, ich wäre endlich alleine. Allerdings merke ich dann, dass sich jemand an meinen Füßen zu schaffen macht und die Verbände abwickelt. Wahrscheinlich Enrico. Aber dann werde ich wieder allein gelassen und nach einer Weile drehe ich meinen Kopf.
Der Krug steht immer noch da, nicht weit von meinem Kopf entfernt und sofort macht sich heftiger Durst bemerkbar. Aber selbst, wenn ich jetzt schwach werden würde, so könnte ich es nicht leer trinken, weil ich immer noch gefesselt bin.
Aber die Flüssigkeit so nahe und doch unerreichbar neben mir zu wissen, quält mich umso mehr und ich ertappe mich dabei, dass ich es bereue, nicht getrunken zu haben.
...
Ein paar Stunden später... Vielleicht ist es auch schon der nächste Tag. Ich weiß es nicht. Aber ich höre Schmerzensschreie. Sofort spanne ich mich an, denn ich erkenne die Stimme von Guilia.
Tränen brennen in meinen Augen, weil sie nun die Strafe bekommt. Das ist so ungerecht!
Wenig später öffnet sich die Zellentür und ich höre Ketten rasseln. Allerdings werde ich nur auf den Rücken gedreht und Enrico beugt sich über mich. „Trinkst du freiwillig?"
Ich sehe, dass neben Enrico auch Lestat und ein anderer Pirat anwesend sind. Da ich keine Antwort gebe, seufzt Enrico schwer. Er hebt meinen Kopf leicht an und hält einen Becher an meine Lippen. Aber ich presse sie wieder fest zusammen.
„Na schön", grummelt der Arzt.„Also mit Gewalt." Er dreht sich kurz bei Seite und bittet den Piraten, den Wein zu holen. Dann drückt er schmerzhaft seinen Daumen und Zeigefinger in meine Wangen und zwingt mich so, den Mund zu öffnen. „Das wird schmerzhaft, Alisea, wirklich. Du solltest etwas trinken."
Der Arzt kippt mir einen großen Schluck Wein in den offenen Mund, aber ich spucke es sofort wieder aus.
Lestat tritt näher und hält meinen Kopf mit beiden Händen fest. „Mach endlich, Enrico. Sie will es ja nicht anders!"
Erneut wird mein Mund gewaltsam aufgedrückt und dann wird mir etwas zwischen die Zähne gedrückt. Kurz darauf spüre ich wieder Flüssigkeit in meinem Mund. Aber es ist mehr als nur ein großer Schluck!
Es ist zu viel und ich merke, wie es bereits meine Kehle hinunterläuft. Ich will meinen Kopf wegdrehen, aber Lestat hält ihn gnadenlos fest und weitere Flüssigkeit landet in meinem Mund. Ich merke, dass auch etwas in meine Atemwege kommt und fange an zu husten. Trotzdem wird weiterer Wein in den Trichter gekippt. Immer und immer wieder.
Enrico richtet sich etwas auf. „Das reicht für heute." Der Trichter kommt raus und ich huste wieder und wieder. Nur am Rande merke ich, dass die Männer die Zelle verlassen.
...
Der Trichter kommt zwei weitere Male zum Einsatz. Seit wie vielen Tagen ich nun wieder an Bord bin, weiß ich nicht. Aber es ist schrecklich! Es ist Folter!
Von Guilia habe ich nichts mehr gehört und ich hoffe, es geht ihr gut. Tief in meinem Innern weiß ich, dass Lestat ihr verbietet, mich aufzusuchen, damit er mich mürbe macht. Denn im Grunde sehne ich mich nach Gesellschaft. Und ich möchte wissen, wie es ihr geht.
Und dennoch frage ich mich, ob es das alles wert war. Was, wenn Guilia stark verletzt ist? Das war so unnötig...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro