18 | Pizza, Kuchen und eine Erkenntnis.
┊┊alt-J - The Gospel Of John Hurt┊┊
"So eine elendige dumme blöde hässliche Mistmade!" Idas Stimme füllt mein Zimmer, während sie auf und ab geht und mein neugekauftes T-Shirt in ihren Händen knetet. Mein armes T-Shirt.
Ich habe ein bisschen Angst, dass sie den Boden bald durchgelaufen hat und irgendwann nach unten in das Wohnzimmer fällt. Mir ist schon ganz schwindelig von all dem Hin und Her und kann sie kaum noch beobachten.
"Ida, jetzt bleib doch endlich stehen. Mir ist schon ganz schwindelig", grummel ich.
Sie fährt so schnell auf dem Absatz herum, dass ich erschrocke und fast von meinem Drehstuhl falle, auf dem ich inzwischen sitze.
Anfangs habe ich noch den Fehler gemacht und lief neben ihr her. Aber meine Kondition ist bekanntlich nicht die beste und so habe ich es relativ schnell aufgegeben. Niemand möchte ein röchelndes Nilfperd am Boden liegen sehen.
"Ach so? Auf diesem bescheuerten Drehstuhldings kannst du dich stundenlang herumdrehen und da maulst du nicht herum - aber wenn ich ein paar Minuten hin und her laufe, dann wird dir schwindelig? Entspann dich, denk doch auch mal an meinen Schrittzähler. Ansonsten komme ich nie auf meine Zahl. Die Schritte zum Kühlschrank und zurück sind einfach zu wenig."
Ich runzle die Stirn. "Du hast einen Schrittzähler?"
"Ja? Jetzt lenk nicht vom Thema ab. Dieser Nils - was für ein feuchtes Taschentuch! Irgendjemand sollte ihm echt mal eine Lektion erteilen, verdammt."
"Ja, aber wer soll das machen, Ida? Ich kann es nicht. Er hat mich in der Hand, das weißt du. Ich habe keine Ahnung, was er über meinen Vater weiß - aber scheinbar weiß er etwas. Und er könnte damit das Leben meines Vaters zerstören. Das würde ich mir nie verzeihen."
Sie kaut auf ihrer Unterlippe und wirft einen Blick aus dem Fenster. Draußen ist es inzwischen dunkel und die Straßenlaternen beleuchten dezent die Straße. Der Spätsommer kündigt sich langsam an und ich freue mich schon ein bisschen auf den darauffolgenden Herbst mit seinen Regentagen, bunten Blätter und den Wind.
Ich seufze. Mein Magen fühlt sich leer an und ich lege theatralisch eine Hand auf meinen Bauch. "Ich habe Hunger, Ida."
Ihr Kopf bewegt sich in Zeitlupe in meine Richtung. "Hannah." Sie erinnert mich gerade an irgendein Wesen aus einem Horrorfilm.
"Ja?" Ich setze meinen Dackelblick auf und hoffe, dass er wirkt.
"Hast du eigentlich irgendwann mal nicht Hunger?", sie seufzt, "Habt ihr noch was hier? Oder möchtest du dir Pizza bestellen?"
In dem Moment als sie Pizza sagt, weiß sie schon, was ich möchte. Denn sie lacht und erhellt mit ihrem Lachen ein kleines bisschen die Dunkelheit, die sich um uns herum gelegt hat. Schnell bestelle ich online meine Pizza, damit es nicht noch später wird und Papa schimpft, weil ich so spät noch Essen bestelle.
"Ich muss jetzt nur leider nach Hause. Mama möchte morgen in aller Frühe auf den Flohmarkt fahren. Aber die Pizza schaffst du auch alleine, richtig?"
"Liebe Pizza, bist du da? Ich hab viel Hunger, möchte dich nicht schlingen runter. Los komm geeilt, dann haben wir viel Zeit zu zweit." Ich lege meinen Kopf schief und drehe mich einmal im Kreis. Als ich wieder an der Ausgangsposition bin, stehe ich auf und mache lächelnd einen Knicks.
"Du bist verrückt, Hannah." Ida legt mein zerknülltes T-Shirt auf mein Bett und schnappt sich ihre Tasche. Nachdem sie an der Haustür ihre Schuhe angezogen hat, dreht sie sich noch einmal um. "Wir besprechen das noch, wegen Nils, ja?"
Ich nicke und drücke sie an mich. "Danke, dass du mich abgeholt hast und für mich da warst, Ida. Und das obwohl ich vorhin so doof war."
Sie lächelt milde und wuschelt mir durch das Haar. Kurz nachdem Ida unser Haus verlassen hat, kommt die Pizza. Freudestrahlend öffne ich die Haustür und strecke meine Arme wie bei einer Umarmung vor mich. Der Pizzalieferant betrachtet mich sichtlich amüsiert. Hannah, guck, deine Pizza. Und der Lieferant sieht auch nett aus.
"Ich weiß ja, dass Pizza toll ist, aber so hat sich noch niemand auf Pizza gefreut."
"Was?!", rufe ich entgeistert und blicke mich anschließend verstohlen um. Es ist schon zu spät als dass man auf der Straße so herumschreien sollte. Ich drücke ihm dankend das Geld in die Hand, entreiße ihm den Karton und werfe mich mit der Pizza anschließend auf mein Bett. Netflix und Chill mit Bae.
Mein Handy vibriert und ich werfe kauend einen Blick auf das Smartphone. Zwei neue Nachrichten? What the Fruchteis!? Wirft man einmal einige Stunden keinen Blick auf sein Handy, geht die Party ab.
Eine Nachricht ist von Felix. Ich antworte ihm sofort.
Felix: Du kommst morgen vorbei - das steht jetzt ganz sicher, oder? Meine Mama lässt mich fragen, weil sie Kuchen gebacken hat und möchte, dass du dann welchen mitnimmst. :D
Hannah: Ja, das mit morgen steht noch. Kuchen? Ich liebe Kuchen.
Gibt es eigentlich auch Pizzakuchen? Ich beiße hungrig von meiner Pizza ab und öffne die zweite Nachricht. Sie ist von Daniel. Das Pizzastück in meinem Mund wird plötzlich zu einem großen Stück, das sich kaum kauen und runterschlucken lässt. Warum bin ich denn nun so nervös? Es ist doch nur Daniel, Hannah.
Daniel: Hey Han Solo. Ich schon wieder. Ich weiß, ich habe dir erst heute Nachmittag geschrieben, aber ich muss an dich denken. Denn ich esse gerade Pizza.
Hannah: Lustig, ich esse auch gerade Pizza. Was meintest du denn eigentlich damit, dass wir den Hausarrest auch umgehen können? :O
Daniel: Oh, guten Hunger, werte Dame! :D Mh, das wirst du schon noch sehen. ;) Ich werde mich jetzt allerdings noch ein wenig unter die Menschen mischen. Deswegen wünsche ich dir schon mal eine gute Nacht. Bis bald. ;)
Hannah: Bis bald - und viel Spaß, werter Herr. :)
Ich fühle einen leichten Stich des Neides in meiner Brust. Ich möchte auch weggehen. Um meine Gedanken abzulenken und nicht vollkommen im Frust zu ertrinken, schaue ich meine Serie auf Netflix weiter. Immer wieder muss ich feststellen, wie toll Dean doch ist. Den würde ich auch heiraten.
Am nächsten Morgen wache ich verspätet auf und muss mich beeilen, um den Termin mit Felix nicht vollkommen in den Sand zu setzen. Och, Hannah. Stell dir doch einfach mal 'nen Wecker - wie wär's du Trantüte? Papa fährt mich netterweise, denn mit dem Bus hätte ich gefühlte Stunden gebraucht. Papa hält vor Felix' Haus, der schon angespannt an der Haustüre auf mich wartet.
"Mensch, Hannah. Da bist du ja endlich! Wir müssen uns beeilen, damit wir heute fertig werden. Komm schon!"
Felix zieht mich in den Flur, als wäre ich seine Geisel und fühle mich auch ein bisschen so. Ich stolpere über meine eigenen Füße und falle beinahe auf den Boden. Felix fängt mich gerade noch auf. Wie von selbst legen sich seine Hände an meine Hüfte und ich erstarre. Wir sehen uns in die Augen und kurz habe ich Angst. Warum sieht er mich so an? Guck weg, Felix. Guck weg.
Aber dann bricht er in schallendes Lachen aus.
"Mensch, Hannah. Du bist so ein Tollpatsch. Ohne Witz. Jetzt komm, gehen wir hoch."
"Du hast es aber eilig, mein Lieber. Lass sie doch erst einmal ihre Schuhe ausziehen." Felix' Mutter steht in der Küchentür und beobachtet uns belustigt. Adrian versteckt sich hinter ihren Knien und lugt schüchtern hervor.
"Hallo Adrian! Guck mal, ich habe was für dich dabei", sage ich leise und krame in meiner Tasche nach dem Bleistift. Als ich ihn gefunden habe, strecke ich ihm diesen entgegen.
Adrians Augen werden groß, als sie die Ritterfigur entdecken, die sich am Ende des Stiftes befindet.
"Guck mal, Felix. Ein Ritter." Er greift mit seiner kleinen Hand nach dem Stift. Als er merkt, dass ich zu weit weg stehe, kommt er doch hinter den Beinen seiner Mutter hervor und sieht mich schüchtern an.
"Ein Ritter für den Ritter Adrian", erkläre ich. Er nimmt sich den Bleistift und betrachtet ihn.
"Hast du Felix auch einen so schönen Stift geschenkt?", erkundigt er sich neugierig.
"Nein, nur dir", entgegne ich.
"Also bin ich dein allerbester Freund?", möchte er wissen.
Ich werfe Felix einen kurzen Blick zu, der sich nun grinsend an die Wand lehnt.
"Ja, das bist du."
"Superkalifragilistikexpialigetisch!", ruft Adrian und rennt mit dem Stift in die Küche. Beatrice folgt ihm lachend. Mary Poppins?
Felix wendet sich der Treppe zu und stockt, als er merkt, dass ich mich keinen Milimeter bewegt habe.
"Was ist, Hannah?" Er fährt sich mit der Hand durch die Haare und blinzelt verwirrt.
"Was ist ... was ist mit dem Kuchen?" Ich schiebe eine Unterlippe vor und tippe mit der Fußspitze auf den Boden. An der Wand hängen einige Fotos in bunten Rahmen und ich nehme mir vor, sie mir bei der nächsten Gelegenheit näher zu betrachten.
Ein freches Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. "Der Kuchen wartet oben auf dich."
Ich reiße meine Augen auf. "Das klingt pervers wenn du das so sagst."
Sein Lächeln verwandelt sich in ein dreckiges Grinsen. "Wer weiß? Vielleicht war das Absicht? Oben wartet die Belohnung auf dich, Hannah Montana."
"Ich glaube, bei mir daheim ist der Herd noch an. Tschüssi."
Felix lacht nur und läuft die Treppe hoch. Toll, so schnell wie der bin ich nie im Leben. Also, Hannah. gehen wir hoch oder nicht?
Die Neugierde siegt letztendlich und ich betrete mit erhobenen Fäusten das Zimmer. Wie ein Boxer im Ring. Doch Felix hat nicht gelogen. Mein Herz macht einen freudigen Sprung, als ich den riesigen Teller voller Kuchen entdecke. Kuchen!
"Jetzt bin ich erleichtert", entfährt es mir.
"Keine Angst, Hannah. Ich beiße nicht. Höchstens in den Kuchen."
Ich lache und halte mir gleichzeitig die Hand vor den Mund. Verdammt, du sollst nicht ständig so dämlich lachen.
"Ich mag dein Lachen, Hannah." Felix kommt näher und sieht mich an. Was hat er denn heute nur? Warum starrt er denn nur ständig so? Doch der Moment ist vorbei und schon drückt er mir einen kleinen Teller mit einem Stück Kuchen in die Hand. "Hier, als Stärkung. Und dann wird gearbeitet."
"Aye, aye, Captain." Ich setze mich auf einen freien Stuhl und esse glücklich das Stück Kuchen. Verdammt ist das lecker.
Die nächsten Stunden arbeiten wir konzentriert an unserem Projekt. Wir kommen ziemlich gut voran und schaffen es schließlich, alles Notwendige in Reinform zu schreiben. Felix wirft zwischendurch immer mal wieder einen Blick auf sein Handy.
"Machen wir eine Pause?", erkundige ich mich und strecke meine Beine aus.
"Okay."
"Ist alles gut bei dir, Felix?"
"Ja, ich habe nur gerade auf Facebook ein Video gesehen, das mich etwas abgeschreckt hat. Das hat mir grad ein bisschen die Laune verdorben." Er lacht laut auf und holt tief Luft.
"Was für ein Video?", frage ich und richte mich auf. Hoffentlich keine Tierquälerei.
"Über Gleichberechtigung im Bezug auf die Liebe. Wenn ich es nett ausdrücken soll." Er macht Würgegeräusche und ich möchte mich ihm am liebsten anschließen, als ich realisiere was er eigentlich meint. Wie bitte? Spinnt er?
"Du meinst Homosexualität?"
"Bah. Ja. Ich verstehe nicht, wie man so etwas erlauben kann? Ich finde, solche Leute gehören eingesperrt. Ehrlich. Man muss ihnen nur eine Frau - oder einen Mann - auf den Bauch binden. Dann geht das schon. Oder sie müssen eine Therapie machen. Ehrlich. Bah. Ekelhaft."
Ich stehe auf und der Stuhl schabt quietschend über den Boden. "Spinnst du? Du sitzt hier, wie der König von Mallorca und sagst so einen Rotz? Liebe ist Liebe, verdammt. Du hast eindeutig einen Vogel, Junge! Es ist jedem selbst überlassen, wen er liebt und warum. Wenn ein Mann einen Mann lieben will - mir egal, weil es seine Sache ist, verdammt. Wenn eine Frau eine Frau lieben will - mir egal, weil es ihre Sache ist. Es geht dich einen feuchten Kehricht an. Und du hast sicherlich nicht das Recht, über die Liebe anderer Leute zu richten." Wütend fahre ich mir durch die Haare und kann gerade noch ein Quieken unterdrücken, als ich darin hängen bleibe. Aua. "Weißt du, ich dachte, du bist besser als Nils. Ich dachte, du bist anders. Aber du bist genauso ein Vollpfosten mit Luft im Kopf wie er."
Mit diesen Worten schnappe ich mir meine Tasche, stopfe alle Unterlagen hinein und verlasse so schnell wie möglich sein Zimmer.
"Tschüss!", rufe ich in den Flur hinein und kann meine Wut nur für eine kurze Sekunde unterdrücken.
Ich habe noch nie verstanden, warum man über Menschen richten muss. Es ist doch jedem selbst überlassen, wen er liebt, was er anzieht, wie er aussieht. Warum kann man Menschen nicht so nehmen wie sie sind?
Hätte ich einen Felsen und wäre so stark wie Obelix - ich hätte ihn in Felix' Fenster geworfen. Aber so bleibt mir nichts anderes übrig, als wutentbrannt zur Bushaltestelle zu stampfen und große Löcher im Asphalt zu hinterlassen.
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