06 | Salatmädchen und Pizzamonster.
┊┊ Astrid - 2AM ┊┊
Die Straße, die vor uns liegt, ist leer. Nur vereinzelt tauchen verlorene Gestalten aus der Dunkelheit auf und lassen mich kurz in Schockstarre fallen. Toll, Hannah. Vielleicht ist Daniel wirklich ein Mörder und verschleppt dich jetzt in eine dunkle Gasse in der er dich dann seziert.
"Alles gut, Han Solo?" Daniels Stimme hat einen beruhigenden Klang. Aber vielleicht gehört das ja zu seiner Masche dazu. Charmant und beruhigend Frauen aus Clubs mitnehmen und sie dann ermorden. Wie Ted Bundy.
"Was? Äh ja." Reiß dich zusammen, Hannah. Nicht jeder Mann ist automatisch gefährlich.
"Bist du sicher? Du siehst aus, als würdest du mir gleich die Schuhe vollkotzen, dich umdrehen und dann weglaufen." Er mustert mich von der Seite, seine Hände in den Hosentaschen.
Wir schlendern durch die Straßen und haben nicht wirklich ein Ziel, wie mir scheint. Wirklich weit weg vom Club sind wir noch nicht. Kein Wunder, du gehst ja auch wie eine langsame Schnecke.
"Keine Angst. Das letzte Essen ist eine Weile her." Mein Magen ist leer.
"Hast du Hunger?" Er bleibt stehen und sieht mich abwartend an. Er ist aufmerksam.
Ich wiege ab. Entweder er findet es toll, dass ich ehrlich bin und sage, dass ich hungrig bin - oder er findet es abstoßend, weil er nur Mädchen mag, die nach 18 Uhr nichts mehr essen. Nachdenklich beiße ich mir auf die Lippen und betrachte die Straße in der wir stehen. Die Fenster der Läden sind dunkel, bis auf die Fenster einer Apotheke die für einen Hustensaft wirbt und ihr Schaufenster mit bunten Kuscheltieren vollgestopft hat. Bis vor kurzem hatte ich ein Kuscheltier in Form eines Einhorns. Aber jetzt liegt es in der tiefen Dunkelheit meines Kleiderschrankes, der auf magische Weise bis oben vollgestopft ist, aber mir nie das passende Outfit anbietet. Frechheit!
"Hannah?", fragt Daniel leise und stellt sich nun direkt vor mich.
"Ja, ich habe Hunger. Wenn ich ehrlich bin." Nicht nur ein bisschen. Ziemlich. Gerade Alkohol macht mich immer hungrig. Und wenn wir später vielleicht noch sportliche Aktivitäten ausüben, brauche ich jede Kraft die ich bekommen kann. Oh, Hannah. Sportliche Aktivitäten? Hast du es so nötig? Ich betrachte wieder das Apothekenfenster. Man nimmt was man kriegen kann.
"Okay, bist du ein Salatmädchen?"
"Was bitte ist ein Salatmädchen?" Mein Nilpferdlachen hallt von den Wänden der Straße wider.
"Ein Mädchen, das nur Salat isst." Daniel schmunzelt und betrachtet die Häuser um uns herum.
Ich lache. "Oh, nein. Definitiv nicht. Ich bin ein Pizzamonster. Durch und durch."
"Du magst Pizza?"
"Ich mag Pizza nicht. Ich liebe sie."
"Sehr gut. Zufällig kenne ich einen Pizzaimbiss um die Ecke, deren Pizza man wirklich gegessen haben muss."
"Ach wirklich. Ist das so?" Irgendwie mag ich es, wie er mit mir redet. Es ist leicht, locker. Nicht von oben herab. Er ist charmant. Sehr.
Daniel grinst schief und ich kann Grübchen erkennen. Oh Gott. Grübchen. Er ist einfach so attraktiv. Ergeben nicke ich.
Wir schlendern weiter und stehen kurz darauf vor einem eher unscheinbaren Eingang, in dessen Fenster ein blinkendes Schild darauf hinweist, dass geöffnet ist. Daniel hält mir die Tür auf und ich laufe gegen eine Pizzageruchswand. Ich bin im Himmel. Wo ist der Engelschor? Wo ist mein Thron? Verdammt, ich bin die Pizzagöttin!
"Was möchtest du essen, Hannah?"
"Eine Pizza Salami, bitte", sage ich zu dem Mädchen an der Kasse, das uns anlächelt und die Bestellung sofort weitergibt. An ihren Fingern befinden sich Ringe, die im Licht der Lampe funkeln. Daniel bestellt die gleiche Pizza und wir setzen uns an einen Tisch um auf die Bestellung zu warten.
"Ist Salami deine Lieblingspizza?", frage ich neugierig.
Er spielt mit der dem Salz- und Pfefferstreuer, die auf dem Tisch stehen und wirft mir einen kurzen Blick zu.
"Eigentlich mag ich sehr viele Pizzen. Aber Salami ist eine meiner liebsten, ja. Und du?"
"Ich liebe alle Pizzen. Manchmal ist sogar nur eine Margherita äußerst befriedigend."
"Befriedigend also. Interessant." Er grinst verschmitzt und mein Bauch zieht sich zusammen. Flirten wir?
Er wirft einen Blick zum Tresen und ich habe den freien Blick auf seinen Hals, der - nebenbei bemerkt - auch sehr attraktiv ist. Ich habe scheinbar nicht nur eine Schwäche für Hände, sondern auch für einen schönen Männerhals. Aber gut, es gibt auch nichts schöneres, als einen Mann dort zu küssen und seinen Duft zu inhalieren. Und ich mag Daniels Geruch. Ich bin leider schlecht darin, Gerüche zu beschreiben. Aber er riecht nach einem gut duftenden Parfum. Ich mag Männer, die gut riechen. Seine Arme sind nun von der Jacke bedeckt, aber das was ich gesehen habe, hat mir sehr gefallen. Und ich bin mir sicher, dass sein Rücken genauso muskulös ist. Ich seufze und wende den Blick ab. Dabei fällt mein Blick auf den Nebentisch und all das komische Kribbeln im Bauch und die Aufgeregtheit sind wie weggeblasen.
Am Nebentisch sitzt eine Gruppe junger Männer, die uns beobachten. Sie starren uns an. Einer der Kerle sieht mich an und ich fühle mich unwohl. Was glotzt ihr so? Noch nie ein weibliches Wesen gesehen oder wie? Meine Fresse. Daniel bemerkt die Blicke. Seine Wangenmuskeln arbeiten und ich sehe, wie er sich anspannt.
"Wir müssen gehen", sagt er leise und steht auf.
"Was? Nein. Unsere Pizza." Er kann doch nicht von mir verlangen, dass ich auf die Pizza verzichte. Pizza ist mein Leben.
"Hannah. Ich weiß, du liebst Pizza. Aber wir müssen gehen." Du weißt gar nichts über mich, mein Freund. Was in Gottes Namen ist nur los?
"Es dauert doch nicht mehr lange. Entspann dich, Daniel."
Sein Blick verdunkelt sich und seine Wangenmuskeln zucken noch stärker als vorhin. Einerseits wirkt er gerade verdammt einschüchternd, aber andererseits sieht er auch verdammt heiß aus, wenn er so guckt.
Wie es das Schicksal möchte - und es steht im Bezug auf Pizza einfach eindeutig auf meiner Seite - ruft das Mädchen an der Kasse, dass unsere Pizzen fertig sind. Ich kann gar nicht schnell genug reagieren, da hat sich Daniel die Pizzen geschnappt, einen 10 Euro-Schein auf den Tresen geworfen und mich aus dem Imbiss gezogen. Er lässt auch jetzt nicht meine Hand los, als wir durch die Straßen eilen. Erst an einem großen Brunnen macht er Halt und lässt sich auf eine Bank fallen. Außer Atem setze ich mich neben ihn und mustere unsere neue Umgebung. Es ist ein großer Brunnen, der von hellen Lampen beleuchtet wird. Manche Leute, die ich kenne, bräuchten auch so eine Lampe, damit sie endlich die Erleuchtung bekommen. Zum Beispiel der Hackfleischtopf Nils.
"Was zur Hölle war das gerade in dem Imbiss?" Erbost sehe ich ihn an.
"Nichts von Bedeutung."
Ich runzle die Stirn. "Klar, deswegen hast du auch fast im Strahl gekotzt. Du kanntest sie, oder? Wer waren diese Typen?"
"Niemand", entgegnet er. Meine Güte. Hast du deine Tage oder was?
"Ja, sicher. Gib mir bitte meine Pizza." Ich krame in meiner Handtasche nach meinem Portemonnaie und drücke ihm fünf Euro in die Hand. Kauf dir ein Eis und ein Spielzeug, dann verfliegt deine schlechte Laune vielleicht.
"Was ist? Willst du jetzt gehen?"
"Nein. Fliegen." Ich stehe auf und sehe ihn abwartend an. Die Hand, die ich ihm entgegengestreckt habe, um meine Pizza zu bekommen, ignoriert er und steht auf.
"Hannah. Es tut mir leid, okay? Ich ... ich kenne diese Typen in der Tat und unsere Vorgeschichte ist nicht wirklich positiv. Dementsprechend schnell wollte ich aus diesem Laden." Er drückt mir das Geld wieder in die Hand, reicht mir die Pizza und fügt hinzu: "Die geht auf mich. Natürlich bist du frei und kannst jederzeit gehen."
"Willst du, dass ich gehe?"
"Nein, Hannah. Ich möchte, dass du bleibst." Er sieht mich durchdringend an.
Wir essen unsere Pizza. Schweigend. Und das ist in Ordnung. Es ist wie eine stille Übereinkunft, dass wir beim Essen nicht sprechen. Unsere Beine berühren sich und mich macht das vollkommen verrückt. Unruhig rutsche ich hin und her und kann mich kaum auf das Essen konzentrieren.
Seine letzten fünf Wörter sind das, was ich heute hören wollte. Er möchte, dass ich bleibe. Vielleicht ist es für den ein oder anderen unverständlich, wie man einfach mit jemanden mitgehen kann, den man kaum kennt. Aber wenn man so zerbrochen ist wie ich, ist man froh, wenn man sich nicht um seine eigenen Scherben kümmern muss, sondern jemand da ist, der einen einen kurzen Augenblick von allem ablenkt. Scheißegal, ob er die Narben am Körper sieht oder nicht. Die sind ja auch nicht das Problem. Die Narben auf der Seele sind schlimmer. Und die, die kann ich absolut niemandem zeigen. Denn wer würde dann schon bleiben? Ich bin zu kaputt als dass man mich lieben kann. Das ist das, was mir gesagt wurde. Ich bin zu kompliziert. Außerdem habe ich erlebt, dass Menschen einfach gehen, wenn sie merken, dass man zerbrochen ist; wenn man ihnen keinen Profit einbringt. Nicht viele bleiben. Aber ich habe das große Glück eine beste Freundin zu haben, die mich kennt. Gut kennt. Und das reicht mir. Einen Mann werde ich nie - nie - wieder so nah an mich heranlassen, dass er viel über mich weiß; dass er so viel weiß, dass er mich in der Hand hat. Man kann Männern nicht vertrauen. Und dennoch kann ich nicht auf sie verzichten, denn man kann auch ihren Spaß mit ihnen haben. Aber die Liebe? Die Liebe hat keinen Platz in meine Leben. Nie wieder.
Küssen, zum Beispiel, macht richtig Spaß. Außer man hat einen Typen, der beim Küssen meint, Waschmaschine spielen zu müssen und mit seiner Zunge den Schleudergang einzustellen. Oh Gott. Es war einfach eklig. Ich bin in seinem Sabber fast erstickt. Aber er war der festen Überzeugung, er könne gut küssen.
Schnell verdränge ich den Gedanken an Kurt Lehmbach aus der 10a und konzentriere mich auf mein letztes Pizzastück. Laut seufzend sehe ich es an und bin mir sicher, dass man in meinen Augen Herzen sehen kann. Genießerisch beiße ich hinein und schließe die Augen.
"Und? Lecker, oder?" Du bist auch ziemlich lecker, mein Lieber.
"Oh ja. Herrlich." Begeistert nicke ich und Daniel grinst. Mein Blick bleibt an seinen Händen hängen, die ruhig auf der Pizzaschachtel liegen. Wie Daniel wohl küsst?
Er schnappt sich meinen Karton und wirft beide Schachteln in den Müll. Als er stehenbleibt und keine Anstalten macht, sich wieder neben mich zu setzen, stehe ich auf. Plötzlich ist die Luft schwer und ich habe das Gefühl, in seinen Augen zu ertrinken. Unbewusst schließe ich den Abstand. Springen oder nicht springen? Ich entscheide mich für den Sprung und stehe ihm nun so nah, dass wir die gleiche Luft atmen.
Wir starren uns an und ich kann einfach nicht wegsehen. Als wären seine Augen Magneten. Ich will ihn. Ganz. Mein Blick fällt wieder auf seine Lippen und ich spüre ein leichtes Kribbeln an Stellen, die normalerweise nicht so schnell Kribbeln. Mir ist heiß.
"Ich mag deine Augen. Und deinen Mund", platze ich heraus und könnte mir im gleichen Moment die Faust ins Gesicht rammen.
Daniel grinst. "Danke. Die Komplimente kann ich nur zurückgeben." Er legt seine Hände an mein Gesicht und streicht mir sanft über die Wange. Obwohl er mich im Gesicht berüht, zieht sich mein Unterleib zusammen und mein Herz schlägt aufgeregt in meiner Brust. Beruhige dich, Hannah.
Er kommt mir näher, langsam, unerträglich langsam. Und ehe ich irgendetwas anderes erwidern kann, erlöst er mich endlich, und drückt seine Lippen sanft auf meine. Er küsst gut. Verdammt gut. Und in mir erwacht der Hunger. Unbändiger Hunger, der ihm am liebsten an Ort und Stelle die Klamotten vom Leib reißen möchte.
Aber das sähe mit Sicherheit eigenartig aus. So mitten in der Stadt, am Brunnen.
"Verschwinden wir?" Daniels Stimme ist schwer und rau. Ich habe Gänsehaut.
"Ja."
"Gut", murmelt er, nimmt meine Hand und zieht mich in die Dunkelheit.
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