03 | Nachtgeschwindigkeit.
┊┊Lo Air - Day And Night ┊┊
Ich krame in meiner schwarzen Handtasche, die auf Idas Couch liegt, und suche nach meinem liebsten Parfum, das ich mir daraufhin an den Hals und in die Haare sprühe. Da soll es besser halten. Oh, Hannah. Du riechst wie ein Freudenhaus. Aber im Club stinkt es sowieso früher oder später, da fällst du dann auch nicht mehr auf. Kurz werfe ich einen Blick auf mein Handy und sehe, dass mir Felix inzwischen seine Adresse geschickt hat. Ich antworte ihm und schlage 11:00 Uhr vor. Mutig bist du, meine Liebe. Wer weiß, vielleicht ist er ja ein Mörder? Kurz warte ich noch auf seine Antwort. Wenige Minuten später vibriert das Handy und ich habe seine Zusage. Ich muss auf jeden Fall noch im Internet schauen, wie ich zu ihm komme. Nicht, dass ich zu spät komme. Wer weiß, wie er drauf ist, wenn man zu spät zu einem Termin kommt. Ich kann Felix absolut nicht einschätzen und das macht mich wahnsinnig. Doch eigentlich spricht es nicht besonders für ihn, wenn er mit Nils befreundet ist. Außer Nils hat eine geheime freundliche Seite. Und da wäre ich mir nicht so sicher, bei dem Idioten.
Ida ist noch im Bad und ich setze mich auf ihren weißen Schreibtischstuhl. So ziemlich alles in ihrem Zimmer ist strahlend weiß. Er sieht unbequemer aus als er eigentlich ist. Außerdem lässt er sich drehen. Ich mag Drehstühle. Wie ein Kind lasse ich mich im Kreis drehen und versuche, mich auf einen bestimmten Punkt an der Wand zu fokussieren, damit mir nicht schlecht wird. Das wär's ja, wenn du Idas Zimmer vollkotzen würdest. Ich genieße die schnellen Drehungen und habe das Gefühl, dass meine Gedanken gehörig durcheinandergewirbelt werden. Wie alt bist du, Hannah? Drei?
"Hannah, wir gehen auf eine Erwachsenenparty und du drehst dich, als wärst du wieder fünf?" Ida steht am Türrahmen und sieht mich schmunzelnd an. Ich halte den Stuhl an und bleibe einige Minuten still sitzen, damit ich mich wieder ordnen kann. Wenn ich jetzt aufstehen würde, würde ich hinfallen. Und dann hätte Ida wieder etwas zu lachen. Naja, es sei ihr vergönnt. Irgendeinen Vorteil muss sie ja haben, wenn sie mit mir befreundet ist.
"Wann kommt der Bus?", frage ich und spiele mit meinen Haaren, die ich heute mit meinem Lockenstab behandelt habe, sodass sie in sanften Wellen über die Schulter fallen. Eigentlich vollkommen umsonst. Später werden sie mir eh in der Stirn kleben. Bin ich eigentlich die einzige, der es so geht?
"In einer halben Stunde. Wir haben also noch 20 Minuten Zeit", antwortet sie mir und reißt mich aus meinen Überlegungen. 20 Minuten reichen um eine Pizza zu essen. Kurz verfalle ich dem Gedanken, eine Pizza zu verschlingen, aber dann fällt mir etwas anderes ein.
"Gut, Zeit genug um einen Schlachtplan auszuarbeiten, falls Max heute wirklich dort erscheint", sage ich feixend und sehe sie herausfordernd an. Ich würde es dir wünschen.
Ida rollt mit den Augen und verlässt das Zimmer. Sofort springe ich auf und gehe ihr hinterher. Sie steht wieder vor dem Spiegel im Bad und sieht sich wütend an. Ihre blauen Augen funkeln dunkelblau, wie ein wildes Meer an einem Tag des Sturmes. Ach Idaleinchen.
"Ich schaffe das nicht, Han. Er sieht mich doch gar nicht." Ihre Stimme ist nur ein leises, raues Flüstern. Also bitte, dich sieht doch ungefähr jeder Typ aus unserer Schule an, Prinzessin.
"Bitte, Ida. Wie kann man dich übersehen? Du bist wunderschön. Max wäre blind, wenn er nicht erkennen würde, wie toll du bist. Und - nur mal so nebenbei bemerkt - heute im Schulflur hat er dich mit seinen Augen fast ausgezogen."
Sie sieht mich im Spiegel an und ich erkenne, wie sich ihre Wangen etwas rot färben. Wie niedlich sie ist. Wenn sie noch niedlicher wäre, wäre sie die Hauptdarstellerin in einem Katzenvideo.
"Hat er das?", fragt sie hoffnungsvoll und sieht dabei so arm aus, dass ich sie in den Arm nehme und drücke. Männer machen uns Frauen schwach. Absolut. Das ist nicht nur blöd, sondern wahnsinnig gefährlich.
"Ja, Ida. Ich meine, ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Aber seine braunen Augen haben gelodert, als wäre Feuer in ihnen. Und das haben sie nur, als er sich dir gewidmet hat." Ich zwinkere sie an und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. Sie ist viel zu gut für die Welt - und für irgendeinen Kerl. Die sind eh zu dumm um sich mit dem Charakter einer Frau zu befassen.
"Ich bin so froh, dass ich dich habe, Hanni."
"Ich bin froh, dass du mich damals vor Tim gerettet hast. Dem doofen Nudelkopf." Ich muss schmunzeln, als ich an damals zurückdenke. Was wohl aus ihm geworden ist?
Ida lacht. "Ja, da kannst du wirklich froh sein. Wer weiß, was er dir sonst noch angetan hätte."
Noch immer steht Ida im Bad, während ich mir zum gefühlt hundersten Mal die Fotos an ihrer Wand ansehe. Wir kennen uns wirklich schon sehr lange. Unter anderem gibt es ein Foto von Ida und mir, wie wir, mit Eis beschmiert, auf einer Parkpank sitzen und freudestrahlend in die Kamera blinzeln. Wenn ich mir solche Fotos von früher ansehe, wird mir bewusst, wie sehr ich die damalige Zeit vermisse. Damals hat einem noch niemand das Herz gebrochen. Man hatte Hoffnung und irgendwie den Glauben an das Gute. Mensch, Hannah. Du klingst wie eine verbitterte alte Frau. Vielleicht musst du wieder anfangen, an das Gute zu glauben? Möglicherweise sollte ich das. Aber die Jahre haben mir einfach gezeigt, dass einem immer das Herz gebrochen wird. Und darauf habe ich absolut keine Lust mehr. Wirklich absolut nicht. Und man kann auch ohne Liebe Spaß haben. Mal sehen, ob ich heute auch ohne Alkohol Spaß haben kann. Aber ein kleines Gläschen wird ja wohl noch erlaubt sein. Ich kenne meine Grenzen.
Es ist frisch, wie es im Herbst einfach so ist, und wir frieren ein kleines bisschen, als wir an der Bushaltestelle stehen, die nicht weit weg von Idas zu Hause ist, und auf den Bus warten. Wir sind bis jetzt noch die einzigen , die hier stehen. Aber es sind noch zehn Minuten bis der Bus kommt. Bis dahin wird die Haltestelle mit Sicherheit etwas gefüllter sein. Mich durchflutet Vorfreude, denn das ist das, worauf ich mich die ganze Woche freue. Das Tanzen, weggehen, unter Menschen sein, Gedanken ausschalten und einfach nur tanzen. Und vielleicht findet man ja den ein oder anderen netten jungen Mann, der einen anzieht - und vielleicht später auch auszieht? Wenn man dich nicht kennt, würde man denken, du bist ein leichtes Mädchen. Vielleicht bist du das ja auch? Und wenn schon. Es ist mein Leben. Ich zucke mit den Schultern und betrachte das Werbeplakat an der Haltestelle.
Wir werden sehen, ob es dort jemanden gibt. Ich muss schmunzeln und lege den Kopf in den Nacken. Man kann die Sterne ein kleines bisschen sehen. Und irgendwie muss ich an die Sache mit dem Mathe-Unterricht denken und meine Stimmung ist etwas gedrückt. Toll. Mit Felix ein Referat ausarbeiten. Das ist so ... typisch. In Filmen würden sich die Protagonisten jetzt langsam ineinander verlieben, weil sie merken, dass sie sich total gut verstehen.
Bei dem Gedanken muss ich würgen. Bildlich gesehen. Aber kommt schon - das ist einfach nur Banane! Und absolut klischeehaft. Außerdem ginge das sowieso nicht so schnell, dass man sich ineinander verliebt. Ich bin viel zu kompliziert. Und zu kaputt. Selbst wenn ich wollte, würde es also nicht klappen. Tja, Felix. Das wird wohl nichts mit unserer Hochzeit und den fünf Kindern. Sorry.
"Hoffentlich kommt der Bus bald", murmelt Ida und zieht sich ihre Jacke fester um die Schultern. Der Wind ist aufgetaucht und spielt heiter mit unseren Haaren, während er die Luft in Nachtgeschwindigkeit durch die Straßen jagt.
Ich nicke zustimmend und starre auf die Minutenanzeige, die sich seit zwei Minuten nicht verändert. Eigentlich müsste der Bus schon längst da sein. In meiner langen Hose und den zwei Jacken friere ich nicht wirklich. Aber an Idas Stelle hätte ich schon überall Gänsehaut. Als der Bus endlich kommt, fühlen wir uns wie zwei Statuen aus der Antarktis, aber im Fahrzeug ist es mollig warm. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde und wir quetschen uns zusammen in eine kleine Bank. Ich sitze am Fenster und beobachte die Lichter, die draußen vorbeiziehen.
"Woran denkst du?" Ida beugt sich vor und starrt angestrengt nach draußen. Sie runzelt die Stirn, um besser sehen zu könen, aber gibt schließlich auf und sieht mich stattdessen nun direkt an.
"Ich freue mich auf das Tanzen. Und du?" Ich lege meinen Kopf schief und sehe sie neugierig an.
"Ich mich auch. Und ich habe irgendwie die leise Hoffnung, dass Max heute noch kommt."
"Oh, vielleicht kommt er heute ja wirklich noch." Ich muss lachen. Ich bin so albern.
"Mann, Hannah. Warum denkst du nur immer so verdammt zweideutig? Das nervt. Wie alt bist du? Acht?" Ich lache und muss noch mehr lachen, als sie versucht, mich streng anzusehen. Schließlich bricht sie auch in Lachen aus und zusammen füllen wir den schweigenden Bus mit unserem Engelslachen - oder in meinem Fall Nilfperdlachen.
Die Schlange vor dem Club ist lang und ich kann mir ein Stöhnen nicht unterdrücken. Ich möchte am liebsten sofort in den Club und auf die Tanzfläche. Aber der Menschenandrang vor mir verhindert das und ich werde grummelig. So viele Menschen. Menschen, die auf meine Tanzfläche wollen.
Es dauert eine gefühlte Stunde, bis wir endlich bei den Türstehern stehen und ihnen schöne Augen machen. Ja, guck du nur. All das kannst du nicht haben. Du bist zu alt, Herzchen. Kurz habe ich Angst, dass wir wieder weggeschickt werden. Es ist nur eine kurze Sekunde, ein kurzer, aufgeregter Stich ins Herz. Aber ich bin wieder wach und wieder richtig im Hier und Jetzt.
Wir betreten langsam den Vorraum und geben an der großen Garderobe bei einem freundlichen Mädchen unsere Jacken ab. Ich behalte die Chips, gegen die wir die Jacken später wieder zurückbekommen würden, und stecke sie in meine Jeanstasche. Der Bass ist bereits hier im Vorraum ziemlich deutlich zu spüren und meine Knie zittern ein bisschen, weil ich mich so darauf freue, mit Ida die Tanzfläche zu stüren. Am liebsten würde ich diese ganzen Menschen einfach wegschubsen und die Tanzfläche für mich alleine haben. Außer die Menschen hätten Pizza für mich. Dann würde ich sie tanzen lassen. Aber nur dann. Und wirklich nur dann.
Ein Mann schiebt den Vorhang für uns zur Seite und jetzt umringt uns die Musik, die vorher nur gedämpft zu hören war, und hüllt uns in sich ein. Glücklich sehe ich mich um. Obwohl ich so gut wie jedes Wochenende hier bin, ist es jedes Mal aufs Neue so, als wäre ich noch nie hier gewesen. Als wäre es das erste Mal. Und das ist gut so. Denn so kann ich mich jedes Mal aufs Neue vollkommen fallen lassen. So, wie ich es bei einem Mann nie wieder tun kann.
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