Von heute auf morgen
Wenn du mich gestern gefragt hättest, was heute ist, hätte ich eine Antwort gehabt. Ich hätte gesagt, ich stehe am Morgen auf, esse Frühstück und gehe in die Schule. Ich hätte gesagt, ich komme am Nachmittag nach Hause, gehe mit dem Hund und meinem Vater spazieren. Ich hätte gesagt, ich würde meiner Mutter kochen helfen und meiner Schwester bei den Hausaufgaben beistehen, während mein Vater Nachtschicht hat. Ich hätte meinen Alltag beschrieben. Denn wieso sollte er sich ändern? Morgen ist doch kaum anders als heute.
Doch heute habe ich eine völlig andere Antwort. Aber lasst uns beim Anfang beginnen.
Schon das Frühstück hätte ein Indiz sein können. Meine Mutter schaute vom Herd auf und grüsste mich lächelnd. In der Sekunde jedoch zischte es und die Eier, die sie mir täglich zubereitete, brannten schwarz an. Sie machte mir jeden Morgen Frühstück, da sie keine Arbeit hatte und dadurch eine Motivation fand, um aufzustehen. Hastig deute ich auf die Pfanne und sie nahm sie fluchend von der Hitze. Mit dem Spatel versuchte sie, mir den guten Teil des Eis zu geben und entschuldigte sich hundertmal.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf: „Schon okay, Mom." Es gab Schlimmeres als angebranntes Essen. Glaubt mir.
Seufzend setzte Mom sich mit mir an den Tisch. Sie hatte die dunkelblonden Haare locker zusammengebunden und trug noch den Pyjama, wie immer trank sie zuerst Kaffee, bevor sie zu irgendetwas anderem fähig war. Noch war sie ungeschminkt und wirkte etwas verschlafen, wahrscheinlich war sie spät ins Bett gegangen. Ich schminkte mich mit meinen 16 Jahren schon leicht, auch wenn meine Mutter immer fand, ich bräuchte es eigentlich nicht.
Sie schob mir das Brot rüber und sagte: „Du hast noch fünf Minuten, Schatz."
Doch so richtig aus dem Ruder zu laufen begann es erst in der Schule. Ich sass gelangweilt im Physikunterricht, als jemand an die Tür klopfte. In fünfzehn Minuten war endlich Mittagspause. Die Türe öffnete sich und der Rektor streckte den Kopf herein. Erstaunt hob die Klasse den Kopf, froh, dass jemand den Lehrer unterbrach. Entschuldigend betrat der Rektor den Raum und liess den Blick suchend über die Schüler gleiten.
„Julia?", fragte er. Ich starrte ihn an. „Hast du bitte einen Moment?"
Erschrocken nickte ich und tauschte einen Blick mit meiner Freundin neben mir. Was wollte er von mir? Ich hatte doch nichts angestellt? Ich befahl mir aufzustehen und etwas verlangsamt folgte ich dem Rektor aus dem Unterricht.
„Was ist los?", fragte ich mit dünner Stimme. Aus einer dunklen Vorahnung heraus zog sich meine Brust ängstlich zusammen.
„Ich habe ein Telefon von deiner Mutter bekommen", erklärte der bereits ergraute Mann sanft. Seine Augen wirkten besorgt. „Sie wurde in die Klinik eingeliefert."
Mir klappte der Mund auf. Mein Herz raste. Stammelnd versuchte ich, einen Laut herauszubekommen. „W-was... ist passiert?", fragte ich erneut. „Was für eine Klinik?"
Er zögerte, es schien ihm unangenehm zu sein, diese Frage beantworten zu müssen. „Julia, sie wurde mit Depressionen in die psychiatrische Klinik eingewiesen."
Ich schnappte nach Luft, mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Brust und mein Atem ging nur noch stossweise. Seine Worte drangen kaum zu mir hindurch. Depressionen? Meine Mutter? Klinik? Was hatte das alles zu bedeuten?
Wie durch einen dichten Rauch teilte mir der Rektor mit, dass ich nach Hause gehen durfte und dass ich meinem Vater und meiner Schwester anrufen sollte. Er sagte noch mehr, doch die Informationen drangen kaum zu mir durch. Ich murmelte etwas, stolperte in Richtung Zimmer und sagte dann, ich würde gerne nach Hause gehen. Ohne jemanden anzuschauen holte ich meine Sachen und eilte dann mit wackeligen Knien aus der Schule.
Erst, als ich draussen stand und die frische und etwas kühle Luft einatmete, konnte ich wieder normal denken. Doch das, was ich erfahren hatte, gab alles keinen Sinn. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und lief automatisch in Richtung nach Hause. Schnell wählte ich die Nummer meines Vaters. Es klingelte und erwartungsvoll hielt ich das Handy ans Ohr. Doch er ging nicht ran und auch als ich eine halbe Minute lang klingeln liess, bekam ich keine Antwort. Enttäuscht legte ich auf. Wahrscheinlich war er noch bei der Arbeit. Also wählte ich die Nummer meiner jüngeren Schwester und hoffte, dass sie ihr Handy dabei hatte, obwohl es in ihrer Schule verboten war. Es dauerte eine Weile, doch tatsächlich ging sie ran.
„Julia?! Ich kann nicht telefonieren, das weisst du doch!", zischte sie ins Telefon. Sie sprach leise, wahrscheinlich versteckte sie sich im WC.
„Tut mir leid, Silvia, aber du musst so schnell es geht nach Hause kommen", sagte ich und bemühte mich um eine ruhige Stimme. Sie war erst 13 und ich wollte sie nicht zu sehr in Besorgnis versetzen. Eine Weile lang war es still.
„Was? Wieso?", fragte Silvia dann. Sie schien leicht panisch. „Geht's dir gut?"
„Ja", sagte ich. „Aber unserer Mutter nicht."
Allein der Gedanke daran liess wieder Verzweiflung in mir hochkommen. Ich verstand nicht, wie meine Mutter auf einmal Depressionen haben konnte. Ich verstand nicht, wie das alles so plötzlich kommen konnte. Warum hatte ich nie etwas gemerkt? Warum hatte sie nichts gesagt? Oder war das alles ein schlechter Witz?
Meine Schwester reagierte fast schon gefasster als ich. Sie stellte keine Fragen, sondern sagte bloss, dass sie sofort kommen würde und wir uns auf dem Weg treffen würden. Also legte ich wieder auf und änderte den Weg in Richtung ihrer Schule. Dabei rief ich nochmals meinem Vater an, schrieb ihm eine SMS und hinterliess eine Sprachnachricht, aber er nahm nicht ab. Fluchend gab ich nach einer Weile auf und wartete auf Silvia.
„In welcher Klinik ist sie denn?", fragte Silvia verzweifelt. Sie sass auf dem Bordstein und hatte den Kopf in die Hände vergraben, ihre Augen waren geschlossen und ihre Tasche hatte sie neben sich auf den Boden fallen lassen. Ich hatte ihr alles erklärt, was ich wusste, doch das war ja nicht besonders viel.
Auch jetzt zuckte ich mit den Schultern.
„Ich nehme an, in der PTK", erwiderte ich. Die psychisch-therapeutische Klinik war die einzige im Umfeld, die in Frage kommen würde. Vielleicht hätte ich doch etwas länger mit dem Rektor reden sollen. „Soll ich da anrufen?"
Silvia nickte bloss. Sie sass immer noch in ihrer Kauerhaltung da, ihre hellblonden Haare hingen ihr vors Gesicht. Ich setzte mich neben sie, legte einen Arm um sie und googelte mit der anderen Hand die Klinik. Kurz darauf hatte ich eine Nummer. Eine Empfangsdame ging dran.
„Psychisch-therapeutische Klinik, Rebekka Meier, wie kann ich helfen?", meldete sich die Frau förmlich.
„Hallo, hier ist Julia Deutch, ich wollte fragen, ob Sie eine Patientin namens Annita Deutch haben?", fragte ich ohne eine Begrüssung. Ich war zu durcheinander für Höflichkeiten.
„Wie ist denn ihre Beziehung zu Annita Deutch?", fragte die Dame zögernd. „Ich kann nicht einfach so Auskunft zu unseren Patienten geben."
„Sie ist meine Mutter!", schnaubte ich sie an, obwohl sie nichts für die Situation konnte.
Rebekka schwieg kurz, dann beschloss sie offenbar, dass sie mir Glauben schenkte. „Na gut, ich seh mal nach", meinte sie und ich hörte, wie sie an einen Computer ging.
Ungeduldig trommelte ich mit dem Fuss auf den Boden und wartete, bis sie die Informationen fand. Nach einer Weile Stille sagte Rebekka: „Ja, sie wurde heute Morgen auf Rat ihrer Psychologin eingeliefert. Aber wenn Sie wollen, können Sie sie besuchen."
Wieder begann mein Herz zu rasen und mit beinahe bekanntem Schmerz hämmerte es gegen meine Brust. Meine Hand verkrampfte sich um das Handy. „Ja, das wäre gut. Kann ich einfach vorbei kommen?", fragte ich, meine Stimme klang fremd, komisch. Ich schaute zu Silvia, die mich aufmerksam anschaute und dem Gespräch zu folgen schein. Auf meinen Blick hin nickte sie heftig.
Also sagte ich der Dame, dass ich mich auf den Weg machen würde, dankte für ihre Auskunft und verabschiedete mich dann. Während ich Silvia aufklärte und wir uns auf den Weg machten, rief ich nochmals meinem Vater an.
„Das ist echt nervig!", fluchte ich wütend. „Er nimmt einfach nicht ab!"
„Vielleicht ist er am Arbeiten?", schlug Silvia vor. Sie biss auf ihrer Lippe herum und normalerweise würde ich ihr sagen, dass das eine schlechte Angewohnheit war, doch heute liess ich sie.
„Aber er nimmt sonst immer ab!", widersprach ich. Ich hatte ihm auch schon während der Arbeit angerufen und er hatte immer früher oder später angerufen. Was war nun los? Gerade heute, wenn es so wichtig war!
„Vielleicht ist er schon in der Klinik und hat kein Netz oder so?" Silvia schien sich nicht so aufzuregen wie ich, aber andererseits hatte sie nicht schon zehnmal erfolglos versucht ihn zu erreichen.
„Hm, vielleicht", murmelte ich bemüht gefasst. „Wir können ja fragen, ob die Klinik ihn erreicht hat."
Etwa zwanzig Minuten später kamen Silvia und ich also bei der PTK an. Als wir die breite Treppe zu dem Backsteingebäude hochgingen, fasste Silvia mich auf einmal an der Hand, obwohl sie das schon ewig nicht mehr getan hatte. Ich umfasste sie ohne zu zögern und nah aneinander betraten wir das Gebäude. Mit eingezogenen Schultern und scheuen Blicken sahen wir uns darin um, ich fühlte mich winzig und hilflos.
Da entdeckte ich den Empfangstresen und wir steuerten auf die Dame zu, die dort sass. Unsere Schritte hallten in der grossen Eingangshalle, in der ausser ein paar Stühlen nichts und niemand zu sehen war.
Die Dame am Empfang sah uns über eine Brille hinweg an. „Sind Sie Julia Deutch?", fragte sie mich, ihr Blick glitt zu Silvia. Auf ihrem Schild las ich, dass es tatsächlich Rebekka Meier war.
Ich nickte. „Und das ist meine Schwester Silvia", meinte ich und nickte zu meiner Schwester. Sie war etwas kleiner als ich, jedoch immer noch im Wachstum und deshalb nahm ich an, dass sie mich bald einholen würde. Jetzt schaute sie aber verschüchtert und stumm Rebekka an. „Haben Sie eigentlich unseren Vater schon erreichen können?", fragte ich Rebekka hoffnungsvoll.
Die Dame schüttelte bedauernd den Kopf. „Eure Mutter hat mir die Namen eurer Schulen mitteilen können und die Nummer ihres Ex-Mannes, aber wir konnten ihn nicht erreichen."
Ich runzelte die Stirn. „Er ist nicht ihr Ex-Mann", widersprach ich klar. „Sie hat keinen Ex-Mann."
Rebekka schaute verwirrt auf den Bildschirm. „Doch, Annita hat gesagt, es sei nicht mehr ihr Mann", betonte sie zögernd. „Sie sind seit einem Jahr geschieden, aber leben noch an derselben Adresse."
Mir klappte der Mund auf. „Sind Sie sicher?", fragte ich nach. Ich spürte, dass Silvias Hand sich verkrampfte, sie drückte meine Finger schmerzhaft zusammen.
Die Dame nickte bedauernd. „Tut mir leid, ich dachte, Sie wissen das", meinte sie. Ihr Blick war nun besorgt. „Wollen Sie nun ihre Mutter besuchen?"
Ich schaute zu Silvia. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, meine Mutter anzusehen und all den Lügen ins Gesicht zu blicken. Ich wollte mich noch nicht damit konfrontieren, was sie mir alles verschwiegen hatte und was sich in den letzten paar Stunden alles passiert war. Das kam alles aus dem Nichts!
„Ich will wissen, wo Papa ist", meinte Silvia stirnrunzelnd zu mir. „Schliesslich müssen wir irgendwie ins Haus kommen und übernachten und alles."
„Ich habe einen Schlüssel", erwiderte ich schnell. „Aber du hast Recht, wir brauchen seine Hilfe." Ich kaute nun selbst auf meiner Lippe herum und überlegte. „Wir könnten zu seinem Büro gehen."
Rebekka nickte zustimmend. „Gute Idee, Mädels."
Schon als wir uns dem Büro näherten, spürte ich, dass etwas falsch war. Ich packte Silvias Hand, als wir in die Strasse einbogen und auch sie kam näher zu mir. Mein Herz war inzwischen durchgehend auf Rennmodus. Dann sah ich, was falsch war. Da stand die Polizei vor dem Büro meines Vaters. Ich wäre beinahe starr stehen geblieben, aber Silvia zog mich hektisch weiter. Auch sie hatte das Auto gesehen, aber im Gegensatz zu mir beschleunigte sie den Schritt.
„Was ist jetzt los, verdammt?", rief sie mir zu und begann zu rennen. Ich fluchte und rannte ihr nach, vor dem Polizeiauto blieben wir schlitternd und ausser Atem stehen. Silvia beugte sich schon zum Auto und klopfte an die Scheibe.
„Hey, ich suche meinen Vater!", sagte sie dem Polizisten, ohne zu grüssen. Ich seufzte ergeben und stellte mich verlegen hinter sie. „Er heisst Michael Deutch."
Der Polizist schaute sie etwas verwirrt an, doch dann änderte sich sein Blick und das machte mir nur noch mehr Angst. Denn ich erkannte Mitleid in seinen Augen und Mitleid bedeutete, dass er etwas wusste, das uns betraf. „Michael Deutch? Achtundvierzig Jahre alt?"
Silvia nickte beklommen und mein Herz wurde schwer, als er sagte: „Euer Vater ist gerade über Nacht bei uns ..."
Silvia runzelte die Stirn. „Hä? Wieso?" Ich wollte mich vorbeugen und ihr erklären, was das hiess, aber meine Muskeln waren wie gelähmt. Es gelang mir nicht einmal, meinen Finger zu bewegen und es war ein Wunder, dass ich noch atmete. Wenn ich daran dachte, wie heute Morgen alles noch normal gewesen war, konnte ich nicht glauben, dass das weniger als zwölf Stunden her war.
Der Polizist seufzte und rieb sich den kurzen Bart. Dann stieg er aus, schloss die Autotür hinter sich und führte die beiden Mädchen ab der Strasse. Als wir alle auf dem Gehsteig standen, erklärte er: „Herr Deutch wurde gestern Abend betrunken in eine Schlägerei verwickelt. Er und der andere Mann wurden für eine Nacht in Haft genommen und weil sich Herr Deutch nicht an die Regeln gehalten hatte, bleibt er noch zwei weitere Nächte."
Er schaute von mir zu meiner Schwester und wieder zurück. Mit dem Bart und den dunklen, aufmerksamen Augen erinnerte er mich schmerzlich an meinen Vater.
„Was?", hauchte Silvia. Sie hatte nun das Sprechen übernommen. „Er bleibt drei Nächte im Gefängnis wegen einer Schlägerei?"
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Nicht direkt im Gefängnis, bloss auf dem Polizeiposten", korrigierte er.
„Was auch immer!", konterte Silvia genervt. „Beide unsere Eltern sind weg!" Ihre Stimme begann zu zittern und brach mitten im Satz. Sie schaute hilfesuchend zu mir, ich sah, dass sie gegen Tränen kämpfte. Zum zweiten Mal an dem Tag fasste ich sie an der Hand und drückte sie.
„Wir schaffen das schon", murmelte ich ihr zu, obwohl ich mir selbst nicht glaubte. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte.
„Mädels, nehmt meine Visitenkarte", sagte da der Polizist auf einmal. Er langte in die blaue Jackentasche der Polizeiuniform und reichte uns eine kleine Karte. „Wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr mir anrufen und ich werde mein Bestes tun, euch beizustehen."
Silvia starrte auf die ausgestreckte Hand des Polizisten und warf mir dann einen fragenden Blick zu. Ich jedoch gab mir einen Ruck und nahm ihm die Karte ab.
„Okay, vielen Dank", sagte ich ehrlich und versuchte ein bekümmertes Lächeln. „Wir gehen jetzt glaub mit unserer Mutter in der PTK reden ...", murmelte ich dann etwas leiser und wir verabschiedeten uns hastig von dem Mann. Er würde jetzt wahrscheinlich nach Hause gehen zu seinen Kindern und Ehefrau. Eine Ehefrau, die nicht Depressionen hatte und längst geschieden war. Und Kinder, die keinen Vater in Haft hatten. Ich schluckte den Kloss hinunter, der sich nun auch in meiner Kehle bereit machte und legte einen Zahn zu, meine kleine Schwester immer noch an der Hand.
Da wir nicht weit von der Klinik wohnten, nahmen wir auf Silvias Bitte hin die Strassenbahn und gingen schnell zu Hause vorbei. Dort holten wir unseren Hund Jessie ab und gemeinsam mit dem braunen Labrador machten wir uns erneut auf den Weg zu unserer Mutter. Ich wollte sie so vieles Fragen, dass ich die Sätze in meinen Gedanken gar nicht ordnen konnte. Ich wollte wissen, warum sie nicht gesagt hatte, dass sie geschieden war. Ich wollte wissen, warum sie nie etwas von ihrem Therapeuten und ihrer Diagnose erzählt hatte. Ich wollte wissen, warum sie immer fröhlich gelächelt hatte, obwohl sie totunglücklich war. Und ich wollte wissen, warum sie uns nicht erzählt hatte, dass unser Vater festgenommen wurde.
Jessie drängte sich mit einem einzigen, leisen Bellen zwischen uns und ich schreckte hoch, als er meine Hand ableckte. Aus treuherzigem Blick schaute er mich an, leckte etwas weiter und richtete den Blick dann in Silvias Richtung. Er schien zu spüren, dass etwas los war und wollte uns helfen.
Gerührt kraulte ich ihn am Nacken und murmelte: „Ich bin froh, dass du bei uns bist, Kleine. Es ist alles durcheinander geraten, weisst du?"
Silvia hielt die Leine in einer Hand fest und streichelte ihn mit der anderen, mir warf sie kurz einen irritierten Blick zu, doch sie sagte nichts. Normalerweise würde sie mir weismachen, dass Hunde nicht verstanden, was wir sagten, selbst wenn sie unsere Laune spürten. Aber heute sagte sie nichts, denn heute war alles anders.
Als ich eine halbe Stunde später mit Jessie und Silvia aus Moms Zimmer trat, zitterte ich am ganzen Leib. Jessie winselte besorgt und hechelte uns fragend an, als wolle er eine Erklärung für die ganze Situation. Sein Schwanz wippte aufgeregt auf und ab. Doch die Sache war, diese Erklärung wollte ich auch. Wir hatten kaum mit Mom reden können und die wenigen Sätze, die sie gesagt hatte, waren nicht sehr informativ gewesen. Sie hatte schwach ausgesehen und müde, unendlich müde. Wir hatten versucht, eine Konversation anzufangen, ihr etwas zu erzählen, doch sie war kaum anwesend gewesen. Nach einer halben Stunde hatte ich es nicht mehr ausgehalten, in ihre leeren Augen zu schauen, in ihrer Nähe zu sein, wo sie uns so viele Lügen erzählt hatte. Ihr ganzes Leben war eine Lüge gewesen, ihre Ehe, ihre gute Laune.
Erschöpft setzten sich Silvia und ich auf die Stühle in der Empfangshalle und wie auf Knopfdruck begannen die ersten Tränen zu laufen. Ich hatte es bis jetzt ausgehalten, nicht zu weinen, doch nun rannen mir Tränen über die Wangen wie Wasserfälle. Mein T-Shirt durchnässte sich innerhalb weniger Sekunden und ich weinte hemmungslos los. Silvia lehnte sich heftig schluchzend an meine Schulter und in stummem Trost nahmen wir uns in die Arme. Mit dem besorgt winselnden Jessie zu unseren Füssen schluchzten wir haltlos drauf los und hielten uns fest, als wären wir am Ertrinken. Mein ganzes Leben war von heute auf morgen zerbrochen.
Wenn du mich also heute fragst, was morgen ist, habe ich keine Antwort.
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Hallo zusammen :) inspiriert vom Tommorrow-Wettbewerb auf Sweek habe ich diese Kurzgeschichte geschrieben, die behandelt, wie abrupt sich das Morgen ändern kann. Ich hoffe, sie gefällt euch und bin gespannt auf eure Kommentare! <3 :)
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