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12. Juli 1940

Mein Vater pflegte – selbstverständlich in seiner üblichen, leicht pathetischen Manier – immer zu sagen: Hanna, schon seit Anbeginn der Zeit musste unser Volk die größten Qualen erdulden, doch taten wir dies immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die höchste Kunst besteht darin, selbst dem größten Leid noch eine kleine Freude abzugewinnen.

Na ja, wenn sich die Nazis wenigstens wie Barbaren aufführen würden, könnte man sich darüber freuen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Herr uns endlich mal den Messias runterschickt, so hoch wie seit Langem nicht mehr ist. Aber mit ihrem penetrant-höflichen Benehmen lassen sie uns noch nicht mal diese kleine Freude. Zu allem Überfluss scheint der Herr zumindest meine Gebete falsch interpretiert zu haben – ich wollte die Endzeit, keine feldgraue Sintflut.

Seit Neustem bietet sich ein recht bizarres Stadtbild – die Straßen sind geflutet mit Deutschen. Mitten in einem Krieg haben sie ihre Reiselust entdeckt, weshalb die Stadt nun jeden Tag aufs Neue von ‚Touristen' überrannt wird. Gut, man ist daran gewöhnt, dass ständig Leute herumlaufen, auf einmal mitten auf der Straße stehen bleiben und mit großen Augen und weit offenstehenden Mündern die Sehenswürdigkeiten begaffen.

Doch die haben sich wenigstens noch ins Stadtbild eingefügt. Diese zumeist blonden Häufchen mit ihrem nervigen Stiefelklackern stellen dagegen so offenkundig einen Fremdkörper dar, einen Parasiten, der nicht dazu passt und auch niemals dazu passen wird, dass es beinahe schon in den Augen wehtut. Aber diese Kolonnen und Häufchen prägen nun leider das neue Stadtbild.

Wirklich nervig ist allerdings diese fürchterliche Freundlichkeit, mit der sie einen nach dem Weg fragen oder ins Gespräch zu kommen versuchen. Solche Szenen sind mittlerweile omnipräsent – man wird von einem Deutschen aus dem Alltagstrott gerissen, in den man sich in der naiven Hoffnung auf ein wenig Normalität voll Inbrunst gestürzt hat. Und weshalb? Um ihnen so etwas Triviales wie den Weg zu den Touristenattraktionen zu erklären.

Erstaunlicherweise hat es, nachdem sie vor knapp einem Monat Paris besetzt haben, keinerlei Widerstand gegeben. Ich bin mir nicht sicher, was mir lieber gewesen wäre und ich bin da wohl auch nicht die Einzige. Niemand scheint so recht zu wissen, ob man glücklich darüber sein soll, dass die Stadt noch steht oder sich dafür schämen sollte, dass man gegen den deutschen Erbfeind nicht auf die Barrikaden gegangen ist. Da Rachelle und ich zur überwältigenden Mehrheit derer gehören, die sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht erstmal in ihren Wohnungen verbarrikadiert haben, habe ich allerdings darauf verzichtet, mir ein Urteil darüber zu bilden.

Das Stadtbild hat sich verändert und mit ihm auch die enge Rue Racine, die ich gerade herunterlaufe. Normalerweise tummelt sich hier eine bunte Mischung aus Studenten und Professoren, Intellektuellen und Vagabunden; nun präsentiert sie sich aber seltsam leblos. Generell wirken gerade die kleineren Straßen immer noch wie leergefegt. Die Leute kehren nur langsam in die Stadt zurück, denn noch ist die Zukunft nach wie vor ungewiss. Gerade diejenigen, denen die neuen Herren voraussichtlich nicht gerade gnädig gestimmt sein werden, scheinen einen Abschied auf lange Zeit genommen zu haben, wenn sie sich bei ihrer Flucht nicht gar ein letztes Mal der Metropole zugewandt haben, um ein leises Adieu zu seufzen.

Manchmal beschleicht mich in diesen Tagen das Gefühl, als würde ich Paris zum ersten Mal sehen. Alles wirkt so fremd und unbekannt. Der gute Geist der Stadt scheint verschwunden zu sein, als hätten die altehrwürdigen Gebäude, die über die Jahrhunderte schon alles gesehen haben, angesichts dieser Bedrohung dann doch ihr Leben ausgehaucht. Als wäre mit den Parisern vor einigen Wochen die Lebensader dieses einst glitzernden Meeres der Lebensfreude geflohen und das Herz der Stadt nun zu einer grauen Wüste vertrocknet.

Als ich vor dem Bouillon Racine stehenbleibe, überkommt mich stilles Unbehagen. Vor dem Restaurant, das scherzhaft als Kantine der Professoren und Studenten in den nahegelegenen Universitätsgebäuden bezeichnet wird, lungern ein paar SS-Angehörige. Sie rauchen und unterhalten sich, ich schnappe auf, dass sie auf jemanden warten. Beim Anblick ihrer Insignien, dieser beiden blitzförmigen Sigrunen an ihren Kragenspiegeln und dem hämisch grinsenden Totenkopf auf ihren Schirmmützen, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper scheint sich anzuspannen, ich ziehe wie automatisch den Kopf ein und blicke mich leicht ängstlich um, vorsorglich schon mal auf der Suche nach einem Fluchtweg. Nervös umklammere ich meine Tasche, während ich mit zu Boden gesenkten Augen an den SS-Männern vorbeistakse und dafür bete, dass sie das laute, verräterische Pochen meines Herzens nicht hören.

Bonjour, Mademoiselle", grüßt einer von ihnen und tippt sich mit den Fingern an den Schirm seiner Mütze. Beim Klang seiner Stimme, die mein von blanker Angst beherrschtes Hirn kurzerhand in das Knurren eines Wolfs verwandelt, zucke ich zusammen. Kurz hasten meine Augen zu ihm hoch. Mein Gott, er ist so riesenhaft, dass ich den Kopf in den Nacken werfen müsste, um sein Gesicht ohne Weiteres mustern zu können!

Bonjour", murmle ich schnell zurück und rette mich ins Bouillon. Als ich höre, wie die Tür hinter mir zufällt, atme ich erleichtert auf, nur um gleich den nächsten Schock zu erleben. Es ist zum ungeschriebenen Gesetz geworden, dass man die grauen Uniformjacken, die durch die Straßen strömen, ignoriert. Man schaut nicht hin und tut so, als würden sie nicht existieren, bis man gezwungen ist, mit ihnen zu interagieren. Aber jetzt stehe ich hier im Racine und ich merke, wie mir meine Mimik mit einem Mal völlig entgleist.

Als hätte man einen Kübel Eiswasser über mich gegossen, glotze ich die heutigen Gäste des Lokals an und kann es eigentlich nicht so richtig fassen. Ich war beschäftigt mit meinen Studien, ich bin in den letzten Wochen kaum rausgegangen, vielleicht maximal zum Einkaufen. Dort war ich schon wenig begeistert von dem Bild, das sich mir in den Läden geboten hat – Deutsche, die die Geschäfte regelrecht leergefegt haben. Die Soldaten waren insbesondere auf der Suche nach allem, was auch nur ein Volumenprozent Alkohol enthält. Eigentlich kein Wunder, wenn ich den Großteil meiner Zeit mit ihnen verbringen müsste, würde ich auch nicht nüchtern sein wollen. Wie dem auch sei, das Bouillon Racine, für mich ein Lokal, das den Pariser Intellektuellen gehört, ist nun geflutet mit essenden, trinkenden, rauchenden, lachenden, plaudernden Deutschen. Man hört kein einziges Wort Französisch, vielleicht noch, wenn sie bestellen. Überall nur große, blonde, blauäugige Arier in schneidiger, feldgrauer Uniform – zumindest gefühlt. Mir kommt es so vor, als wäre ich wieder in Berlin und nicht mehr in meinem schönen, offenen, liberalen Paris.

Zu allem Überfluss treibt sich hier eine Mischung von Wehrmachts- und SS-Angehörigen herum. Auf die Wehrmacht kann ich noch halbwegs ruhig reagieren, schließlich ist das bloß die reguläre Armee, da ist nicht jeder ideologisch indoktriniert oder zumindest hoffe ich das. Aber schon die bloße Erwähnung der SS, geschweige denn solcher ‚Institutionen' wie dem SD oder der Gestapo lösen bei mir eine Gänsehaut aus. Ich hasse sie aus tiefstem Herzen. Gleichzeitig habe ich eine Heidenangst vor ihnen, was mich wiederum extrem wütend macht, weshalb ich Angst bekomme, dass ich etwas Dämliches anstellen könnte, was mich in echte Schwierigkeiten bringt – und so schaukeln sich meine Angst und meine Wut gegenseitig hoch, bis ich für gewöhnlich einfach weglaufe. Ich rufe mir Rachelles Worte ins Gedächtnis: Ich bin eine französische Staatsbürgerin, die Deutschen können mir gar nichts. Wenn sie mir jetzt noch erklären könnte, wie ich mich selbst dazu zwingen kann, auch daran zu glauben...

„Anne? Anne, hören Sie mich?", dringt plötzlich eine bekannte Stimme zu mir durch. Französisch. Verzweifelt klammere ich mich an den beruhigenden Klang der wenigen Worte.

„Wie bitte? Verzeihung, ich war in Gedanken", entschuldige ich mich und ringe mich zu einem höflichen Lächeln durch. Der Oberkellner, ein älterer, grauhaariger Mann, sieht mir besorgt in die Augen, als wollte er testen, ob ich auch wirklich die Wahrheit sage oder ob da nicht mehr dahintersteckt. Für gewöhnlich laufe ich nicht herum und posaune an jeder Straßenecke heraus, welcher Religion ich angehöre, also weiß er es auch gar nicht. Er hat nie nach meinem Nachnamen gefragt und wir reservieren immer auf Yvettes Namen.

„Das habe ich gemerkt", meint er nachsichtig, ehe er kaum merklich in die Richtung der... ‚Gäste' nickt und die Stimme senkt. „Ein toller Anblick, was?" Ein leiser Hauch von Ironie hat sich in seinen Tonfall eingeschlichen und er lächelt verschwörerisch. „Sind Sie mit Ihren Freundinnen verabredet?"

„Ja, wir haben reserviert auf de Brimont", antworte ich, ohne näher auf den ersten Kommentar einzugehen. Am liebsten würde ich mich sofort wieder umdrehen und hier herausstürmen, völlig egal, was die Leute danach von mir denken. Offen gestanden schlottern mir die Knie. Sie wollen, dass man ihnen sämtliche deutsche Juden, die nach Frankreich geflohen sind, meldet. Im Moment werde ich noch in Ruhe gelassen. Aber es geht das Gerücht um, dass diese Menschen einfach verschwinden sollen. Keiner weiß so genau, was dann mit ihnen passiert, aber ich wage anzuzweifeln, dass es etwas Gutes ist. In Berlin habe ich mal Gerüchte gehört, dass sie die Gefangenen in Lager stecken. Mein Vater kannte jemanden, dem ein Verwandter was von so einem Lager in der Nähe von München erzählt haben will und dass die Menschen da drin zu Tode gequält werden. Ich will nicht herausfinden müssen, ob das die Wahrheit ist oder bloß ein Gerücht.

„Aber natürlich, bitte folgen Sie mir", entgegnet der Kellner, nachdem er die Reservierung überprüft hat, und führt mich hinauf zu unserem üblichen Tisch im ersten Stock. In dem grauen Meer kann ich nur noch einen einzigen weiteren Tisch ausmachen, an dem normal gekleidete Menschen sitzen. Es handelt sich um einige ältere Herren, zu alt, um eingezogen zu werden, womöglich Professoren. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke. Auch sie scheinen sich sichtlich unwohl zu fühlen. Der Ober rückt mir den Stuhl zurecht, ich setze mich, hänge die Tasche auf die Stuhllehne und nehme meinen Hut ab. „Nehmen Sie einen Aperitif?", erkundigt er sich, ich winke ab.

„Wasser, bitte", bestelle ich stattdessen und stiere aus dem Fenster. Ich hoffe wirklich, dass Yvette und Françoise bald hier sein werden. Doch im Moment deutet noch nichts darauf hin. Nervös beginne ich mit dem kleinen Anhänger um meinen Hals zu spielen. Geistesabwesend lasse ich ihn zwischen meinen Fingern hindurchgleiten, während ich mich nicht traue, den Blick von der Straße abzuwenden. Wie gesagt, draußen befinden sich nur wenige Passanten, es gibt also kaum etwas zu beobachten. Und das obwohl wir einen so wunderbaren Sommertag haben. Also muss ich mich damit zufrieden geben, die Pflastersteine auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu zählen. Welch überaus geistreiche und intellektuell anspruchsvolle Tätigkeit.

Wo sind die ganzen Studenten abgeblieben, die sich an einem Freitagnachmittag hier eigentlich tummeln müssten? Wo sind die Autofahrer, die ihre stinkenden, knatternden Gefährte selbst durch die engsten Gassen zwängen? Wo sind die Fußgänger, die im letzten Augenblick zurück auf den Bürgersteig springen und so dem Schicksal, von einem Automobil überfahren zu werden, nur knapp entgehen und ihrer Wut darüber dann lauthals Ausdruck verleihen? Diese graue Tristesse ist ja kaum auszuhalten. Vielleicht sollten Rachelle und ich wirklich für ein paar Tage in den Süden fahren. Der Süden soll ja die sogenannte unbesetzte Zone darstellen, vielleicht tummeln sich dort keine deutschen Soldaten? Dann könnten wir für einen Augenblick der düsteren Realität entfliehen und die schillernden Farben des Südens genießen. Wo bleiben Yvette und Françoise, damit wir gemeinsam nörgeln können?

Der Oberkellner kommt mit meinem Wasser, er legt mir schon mal die Karte hin, doch er weiß, dass ich noch nicht bestellen werde. Meine Freundinnen und ich haben unsere Angewohnheiten. Von diesen festen Ritualen wird unter keinen Umständen abgewichen und sowas Lächerliches wie eine Besatzung kann daran nichts ändern. Ich komme als erstes, dann setze ich mich hin und warte auf die Anderen, währenddessen trinke ich nur Wasser. Yvette und Françoise kommen zumeist 10 Minuten zu spät, meistens würde ich mir die Zeit mit einem Bekannten vertreiben – in der ganzen Stadt gibt es nur eine Handvoll Etablissements, die wir des Öfteren frequentieren, nach drei Jahren kennt man sich untereinander nun mal. Dann kommen meine beiden Kommilitoninnen fast gleichzeitig an und unser Gespräch beginnt damit, dass Françoise sich über die furchtbaren politischen Umstände in diesem Land aufregt. Sie ist Kommunistin mit Leib und Seele, Yvette dagegen ist stockkonservativ – ihr Vater würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie mit den Linken liebäugeln würde. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir Drei befreundet sind. Wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Während Yvette und Françoise ihren Kampf der Ideologien ausfechten, genieße ich es, beide Seiten aufs Korn zu nehmen. Ich bin weder rechts noch links oder sympathisiere mit einer Partei. Irgendwie erscheint es mir in einem Land, in dem ich als Frau kein Wahlrecht besitze, unsinnig, mich auf eine Partei festzulegen oder meine Zeit in erster Linie überhaupt damit zu verschwenden, mich ernsthaft mit einem Parteiprogramm auseinanderzusetzen, wenn doch oberflächliches Wissen bereits genügt, um sich über die absurd-komische Tragödie, die sich französische Parteienlandschaft nennt, lustig zu machen. Selbst wenn ich ein Wahlrecht hätte, wüsste ich nicht, ob ich davon Gebrauch machen würde – ich würde das Wählen in Frankreich vermutlich nicht als meine patriotische Pflicht, sondern als gesellschaftliche Pflichtübung ansehen. Aber die Frage stellt sich ohnehin nicht, da der neue Staatschef, Maréchal Pétain, im neugegründeten État français ganz gewiss nicht als Freund des Frauenwahlrechts gilt.

Wie so oft sitze ich völlig versunken in meinen Gedanken am Tisch und bekomme nicht mit, was um mich herum passiert. Die Tagträumereien sind eine schreckliche Angewohnheit, die mir sogleich zum Verhängnis werden sollen. „Was ist die Welt doch klein", säuselt auf einmal jemand recht leise neben mir, sodass nur ich ihn hören kann. Das Blut gefriert mir beim Klang der tiefen, samtigen Stimme, die mich da soeben auf Französisch angesprochen hat, in den Adern. Das darf nicht wahr sein. Das bilde ich mir ein, das kann nicht wahr sein. Zwischen Berlin und Paris liegen mehrere hundert Kilometer Abstand, wie können wir uns ausgerechnet hier begegnen? Dabei kann es sich doch nur um einen schlechten Scherz handeln! „Weißt du, irgendwie habe ich fast schon damit gerechnet, dass ich dich kleine Ratte in Paris finden würde. Es wundert mich nicht, dass es dich in dieses Drecksloch verschlagen hat."

Ohnmächtige Wut kocht in mir auf. So lasse ich nicht mit mir reden! Mit vor Ekel verzogenem Gesicht fahre ich zu ihm herum, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Auf seinem linken Ärmel leuchten mir zwei weiße Buchstaben auf einer schwarzen Raute entgegen, die mich schlagartig vergessen lassen, dass ich ihm meinerseits einige hasserfüllte Worte entgegenschleudern wollte. Also begnüge ich mich vorerst damit, die Arme vor der Brust zu verschränken – mehr oder weniger zu meinem eigenen Schutz – und ihn abschätzig zu mustern. In seiner üblichen Manier stützt er sich lässig auf dem Tisch ab, beugt sich dabei zu mir hinunter und hat sein charmantes, allwissendes Lächeln aufgesetzt. Insgesamt wirkt er spielerisch, als ob er bloß unschuldig mit mir flirten wollen würde, anstatt mich einzuschüchtern – oder womöglich Schlimmeres.

„Ich habe mit meinen Kameraden gewettet, dass ich es schaffen werde, die Gunst des hübschen Fräuleins, das da so einsam am Tisch neben dem Fenster sitzt, zu gewinnen. Du willst doch bestimmt nicht, dass ich meine Wette verliere, oder?", spottet er nun weiter. Dann hat er den anderen Mistkerlen, mit denen er hier ist, nicht erzählt, wer ich bin? Das sieht ihm nicht besonders ähnlich. Ihn und sein ‚Pflichtbewusstsein' kenne ich nur zu gut. Oder er plant irgendwas Schlimmeres. Am liebsten würde ich ihn vor seinen Kameraden bloßstellen, aber leisten kann ich mir das im Moment nun wirklich nicht. Also deute ich auf einen der beiden Stühle gegenüber von mir und versuche dabei eine möglichst neutrale Miene aufzusetzen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wird noch dreister, falls das überhaupt möglich ist. „Eigentlich würde ich mich lieber neben dich setzen."

Ohne meine Antwort auch nur abzuwarten, tut er das sogleich und schlägt ein Bein leger über das andere. Zunehmend gereizt lasse ich den Blick durch den Speisesaal huschen. Zu meiner eigenen Schande muss ich feststellen, dass es schon eine herausragende Leistung war, ihn nicht sofort zu bemerken – seine Freunde sitzen an einem Tisch in der Nähe und verfolgen die Szene, die sich zwischen Friedrich und mir entwickelt, aufmerksam. Meine Mutter hatte recht, meine Tagträumereien werden mich irgendwann ins Grab bringen.

Unwillkürlich muss ich die Lippen kräuseln und wende den Blick dann doch lieber ab, bevor sie meine Abscheu bemerken. Auch ich schlage die Beine übereinander, drehe mich mit dem Oberkörper zu meinem wenig angenehmen Gesprächspartner und lehne mich mit der Schulter gegen den Stuhl, während ich meine Arme immer noch schützend vor der Brust verschränke. Sein breites Grinsen und die Lässigkeit, mit der er eine Zigarette aus einem Etui herausfischt und ein paar Mal gegen die Tischplatte klopft, ehe er sie sich genüsslich zwischen die Lippen klemmt und mir das dämliche Etui vor die Nase hält, gibt mir wirklich den Rest. „Willst du auch eine?", erkundigt er sich ganz unschuldig. Wie gerne würde ich ihm irgendwas entgegensetzen. Aber er sitzt am längeren Hebel, das wissen wir beide – und er wird die Situation nur allzu gerne ausnutzen, das wissen wir beide ebenfalls.

Deswegen schüttle ich nur stumm den Kopf und beobachte jede seiner Bewegungen aufmerksam, während mich eine aufgebrachte Stimme in meinem Kopf anherrscht, dass ich mir das nicht gefallen lassen soll. Sollte ich wohl auch nicht. Aber will ich wegen meines gekränkten Stolzes wirklich riskieren, im Gefängnis zu landen? Das wäre wohl dämlich. Doch dieser Ausdruck auf seinem Gesicht... Daran erinnere ich mich nur allzu gut und auch daran, dass es nicht besser geworden ist, als ich meinen Kopf wie ein Strauß in den Sand gesteckt habe. Ich bin keine 14 mehr und ich gönne ihm diesen Triumph nicht. Also atme ich tief durch und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. „Weißt du, Friedrich, für einen Goi besitzt du erstaunlich viel Chuzpe", kommentiere ich trocken und lege lächelnd den Kopf schief. „So wie ich dich kenne, hast du um Geld gewettet. Gib mir die Hälfte ab und ich werde dir gerne helfen."

Für einen kurzen, nur allzu befriedigenden Moment blitzt so etwas wie Verwunderung in seinen blaugrauen Augen auf. Dass ausgerechnet ich ihm Konter geben könnte, hätte er nun wirklich nicht erwartet. Das hätte ich früher wohl auch niemals gewagt, aber die Zeiten ändern sich ja bekanntlich. Es gab auch mal eine Zeit, da hat mein Vater ihn zum Schabbes eingeladen, weswegen ich genau weiß, dass Friedrich die Bedeutung all dieser schönen Worte, die ich gerade benutzt habe, nur zu gut kennt und dass er mich dafür und für die Erinnerungen, die sie hervorrufen, höchstwahrscheinlich am liebsten umbringen würde. Die Situation verspricht sogar interessant zu werden, mal sehen, wie weit ich gehen kann, bis er die Nerven verliert.

Nachdenklich zündet er sich die Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und atmet den Rauch in einer großen, gräulichen Wolke wieder aus, welche er einen Moment lang scheinbar fasziniert betrachtet, ehe er erneut meine Wenigkeit fixiert. „Du wagst es, so mit einem Offizier des SD zu sprechen?", hakt er beinahe wie beiläufig nach. Er wirkt ruhig – zu ruhig.

Eigentlich müsste ich jetzt Angst bekommen. Das ist genau die Situation, vor der ich mich gefürchtet habe, er könnte mich ohne Weiteres ins Gefängnis stecken. Doch seltsamerweise bin ich absolut unbeeindruckt davon. Mein Mundwerk verselbstständigt sich mal wieder. „Soweit ich das beurteilen kann, wissen deine Freunde dort drüben nicht, dass wir uns kennen, geschweige denn woher", entgegne ich und kneife die Augen zusammen. „Wie war das nochmal mit Rassenschande?"

Ihm entfährt ein helles, amüsiertes Lachen. Erinnerungen prasseln auf mich ein; eigentlich schöne Erinnerungen, die in der Retrospektive allerdings doch bittersüß wirken. Erinnerungen an bessere Zeiten, in denen ich dieses Lachen öfter gehört habe und in denen es ehrlich gemeint war, nicht so wie jetzt. Einerseits klingt es noch genauso wie früher, andererseits fehlt etwas – die kindliche Unbeschwertheit. Grinsend schüttelt er den Kopf und wendet seine Aufmerksamkeit kurzzeitig dem Aschenbecher auf dem Tisch zu.

„Hör mal, Anne", beginnt er und widmet sich wieder mir zu, meinen französischen Namen spricht er dabei mit einer Mischung aus Spott und Abscheu aus. Ganz unvermittelt beugt er sich zu mir vor, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander trennen, ein stechender Geruch von Tabak schlägt mir entgegen. Woher kennt er diesen Namen überhaupt? Unwillkürlich bildet sich eine Furche zwischen meinen Augenbrauen. Wie viel weiß er über mich? Kennt er meinen Wohnort, weiß er, was ich studiere, in welchem Semester und mit wem? Lässt er mich am Ende gar schon beobachten? Unsicherheit macht sich in mir breit – Unsicherheit gepaart mit dem nagenden Gefühl aufkeimender Furcht. Das Spiel scheint soeben ernst geworden zu sein. „Wir wissen doch beide, dass du dich das nicht trauen würdest."

An dieser Stelle wird sein Blick eiskalt und berechnend. Er positioniert sich so, dass seine Freunde, die uns zweifelsohne immer noch beobachten, seine Augen nicht sehen können, auf seinem Gesicht liegt weiterhin dieses ruhige Lächeln, als würde es ihm irgendein krankes Vergnügen bereiten, mich leiden zu lassen. Kühler Stahl bohrt sich in meine grünen Augen. Wie hypnotisiert starre ich zurück, mein Herz pocht wie wild. Ich fühle mich wie das Kaninchen vor der Schlange.

Ausgerechnet in diesem Moment schießt mir ein ulkiger Gedanke durch den Kopf. Rein äußerlich ist er deutlich gealtert. Damals mit 19 oder 20 war er noch ein halber Junge. Da hatte er noch ein breites, verschmitztes Grinsen und diese neugierig funkelnden Augen, aber davon ist nicht mehr viel übrig geblieben. Sein Gesicht war mal viel weicher, nicht so streng, regelrecht asketisch wie jetzt. Es wirkt sehr kantig mit der breiten, hohen Stirn, der langen, geraden Nase und der markanten Kinnpartie. Seine Lippen sind schmal geworden, als würde er sie ständig aufeinanderpressen, um sie herum hat sich ein harter Zug gebildet. Aber die Methoden sind dieselben geblieben.

In einem Anflug plötzlichen Übermuts beuge ich mich also ebenfalls nach vorne, lächle warm und lege ihm eine Hand aufs Knie. Offensichtlich sprachlos angesichts solch einer Anmaßung wandert sein Blick hinab zu meiner Hand, seine Augen weiten sich ein wenig. „Menschen können sich ändern – vor allem wenn die Umstände es verlangen", erwidere ich mit leicht spöttischem Unterton. Doch die nächsten Worte raune ich ihm todernst zu. „Wenn ich untergehe, gehst du mit mir unter."

Unbändige Wut flackert in seinen zuvor noch kühlen Augen auf. Jetzt ist es aus, ich habe den Bogen offiziell überspannt. Ich werde ein wahres Wunder benötigen, um aus dieser Sache wieder lebend rauszukommen. Meine Güte, warum kann ich auch nie den Mund halten? Doch die Frage ist vollkommen unnötig, ich kenne die Antwort zu gut: Weil ich früher viel zu oft den Mund gehalten habe.

Ich bin mir sicher, dass seine Hand bereits zu seiner Pistole gezuckt ist. Doch anstatt mich sofort abzuführen und in die Kerker der Gestapo zu stecken, beruhigt er sich wieder. Etwas leuchtet in seinen Augen auf, doch es ist verschwunden, bevor ich es näher bestimmen kann. Einer seiner Mundwinkel zuckt nach oben, mit ihm eine dunkelblonde Augenbraue. „Da hast du wohl recht, Menschen können sich ändern", pflichtet er mir bei und lehnt sich wieder zurück, was ich ihm nachmache. Erneut zieht er an seiner Zigarette, wendet diesmal jedoch den amüsierten Blick nicht von mir ab. „Na schön, auf die Konsequenzen können wir wohl beide verzichten. Wie geht es deinen Eltern? Leben sie auch hier?"

„Zuerst soll ich deine Wette für dich gewinnen und jetzt soll ich auch noch deine Arbeit für dich machen?", versuche ich halbwegs scherzhaft vom Thema abzulenken, aber mein Ton offenbart meine Anspannung diesmal nur allzu deutlich. Friedrich könnte durchaus persönliches Interesse daran haben uns verschwinden zu lassen. Dieses zivilisierte Auftreten kaufe ich ihm jedenfalls nicht ab. „Dann wirst du wohl oder übel auch dein Gehalt teilen müssen."

Wie bereits befürchtet, riecht er meine Verunsicherung quasi wie ein Bluthund. Mit einem Mal erlangt er seine Souveränität wieder, ein wissendes Lächeln umspielt seine Lippen und verleiht ihm etwas Raubtierhaftes. „Lass mich dir einen guten Rat geben, Hanna", haucht er, sodass es mir eiskalt den Rücken hinunterläuft. „Halt dich lieber zurück. Sonst wird dich dein vorlautes Mundwerk bald in sehr große Schwierigkeiten bringen." Seine Worte lassen mein Herz schneller in meiner Brust hämmern. Einige Sekunden lang starren wir einander wortlos an, verzweifelt versuche ich meine Atmung halbwegs ruhig und gleichmäßig zu halten, doch vor ihm kann ich nicht verstecken, was mir durch den Kopf geht.

Erneut blitzt etwas in seinen grauen Augen auf – die Gewissheit, dass er weiterhin die Kontrolle innehat. Ich könnte mich ohrfeigen. Am liebsten würde ich wieder anfangen mit dem Anhänger zu spielen, doch ich bin wie festgefroren, sein durchdringender Blick lähmt mich. „Dein Essen geht auf mich. Das dürfte ungefähr deinem Anteil an meinem Wettgewinn entsprechen", zwinkert er mir zu, erhebt sich und rafft seine Uniformjacke. Ein letztes Mal mustert er mich von oben bis unten, wieder liegt eine Mischung aus Belustigung und Überlegenheit in seinem Ausdruck. „Au revoir, ma chère."

Zum Abschied neigt er noch den Kopf, dann verschwindet er zurück an seinen Tisch. Sein Gang ist stolz und erhaben wie der eines Löwen. Unwillkürlich muss ich mich trotzdem fragen, ob der Junge von früher noch irgendwo da drin ist. Aber darüber will ich mir lieber nicht allzu lange den Kopf zerbrechen, sonst reißt die Frage am Ende noch alte Wunden auf. Im Moment muss ich auch so mit mir ringen, um meine Mimik und Gestik halbwegs unter Kontrolle zu halten und nicht in Panik zu verfallen. Womit um alles in der Welt habe ich es verdient, ausgerechnet Friedrich hier zu begegnen?

„Darf man mal fragen, was das eben sollte?", meldet sich plötzlich die strenge Stimme meiner Freundin Françoise. Überrascht fahre ich zu ihr herum. Der Oberkellner hat sie gemeinsam mit Yvette zu unserem Tisch geführt. Erwartungsvoll hat sie die Arme vor der Brust verschränkt, ihre misstrauischen, braunen Augen wandern zu dem SD-Offizier, der gerade noch neben mir saß. Ihr unverwandter Blick spricht Bände. Die Parti communiste français mag sich wegen dieses unsäglichen Pakts zwischen Deutschland und der Sowjetunion mit den Nazis arrangiert haben, aber Françoise vertritt, was die Deutschen angeht, ihre eigene Meinung.

„Setzt euch schon", seufze ich und mache mich gefasst auf das, was nun unweigerlich folgen wird. Der Oberkellner legt uns die Speise- und Weinkarten auf den Tisch, nimmt die Bestellungen auf – Yvette trinkt als Aperitif ein Glas Champagner, Françoise und ich kommen gleich zum Rotwein – und entfernt sich respektvoll.

„Bist du bescheuert, dich von einem von denen bezirzen zu lassen?", echauffiert sich Françoise sofort mit gedämpfter Stimme, als der Kellner außer Hörweite ist. Wild schüttelt sie den Kopf, sodass sich eine widerspenstige, hellbraune Locke aus ihrer Frisur löst und vor ihrem Gesicht herumspringt. Dann sieht sie mich vorwurfsvoll an und senkt ihre Stimme noch weiter. „Ausgerechnet du von allen Leuten solltest doch wissen, dass sie der Feind sind, Anne!"

„Ach, hör doch auf mit deiner Standpauke! Du hast doch gesehen, wie er aussieht, den hätte ich auch nicht abgewiesen", nimmt Yvette mich... auf ihre Art in Schutz. Verschwörerisch zwinkert sie mir zu, was mich sofort rot anlaufen lässt. Wenn die beiden die ganze Geschichte kennen würden... Françoise würde mich umbringen. Bei Yvettes Reaktion bin ich mir nicht sicher, aber Françoise würde das Buttermesser, das da auf dem Tisch liegt, nehmen und mich hier und jetzt damit abstechen.

„Könnten wir das Thema wechseln?", bitte ich die beiden gereizt. Ich kann getrost darauf verzichten, diese ganze Situation auch noch breitzutreten. Friedrichs tiefe Stimme hallt noch immer in meinem Kopf nach und sorgt bei mir für eine Gänsehaut. War es eine Drohung? Bin ich in Gefahr? Sollte ich vielleicht doch die Flucht erwägen? Fragen über Fragen und keine einzige Antwort.

„Wie soll man denn das Thema wechseln, wenn diese dreisten Barbaren überall sind?", erwidert Françoise. Wenigstens beschwert sie sich so leise, dass eine geringe Chance besteht, dass wir die heutige Nacht nicht im Gefängnis verbringen. „Sie übertragen alle Staatsgewalt auf Maréchal Pétain. Ich sage es euch, diese Traditionalisten, die doch allesamt im Mittelalter stecken geblieben sind, werden noch unser aller Ruin! Die haben unser Land mit diesem Waffenstillstand auch so schon verkauft!"

„Oh ja, rufen wir lieber wieder die Kommune ins Leben, alle Macht dem Volk", zischt Yvette sie nun sarkastisch an und rollt genervt mit den blauen Augen. „Die Linken haben dieses Land in den letzten Jahren ins völlige Chaos gestürzt. Seien wir ehrlich, die Dritte Republik ist gescheitert. Wir brauchen einen Neuanfang und jemanden, der wieder für Ordnung in Frankreich sorgt. Ich denke, der Maréchal ist da die richtige Wahl."

„Nein, die Sozialisten hatten kein Rückgrat, deswegen ist die Republik gescheitert. Wenn Blum und seine Schergen echte sozialistische Politik gemacht hätten, dann wäre das alles nicht passiert", entgegnet sie aufgebracht.

„Tja, ich schätze auf eine Sache können wir uns dann wohl einigen: Mieux vaut Hitler que Blum", schnaubt Yvette verächtlich. Besser Hitler als Blum – die antisemitische Hetzparole, die in den letzten Wochen den Aufstieg zum geflügelten Wort erlebt hat. Etwas versöhnlicher wendet sie sich an mich. „Entschuldige, Anne, aber du verstehst, was ich meine, nicht wahr?" Natürlich verstehe ich, was sie meint. Mich würde eher interessieren, was sie noch hinzufügen würde, wenn ich nicht am Tisch sitzen würde.

„Schon gut, es ist ja verständlich. Hitler ist viel konsequenter. Wenn beispielsweise Blum die Spiele von '36 ausgetragen hätte, hätte Hitler sie mit Sicherheit boykottiert", seufze ich etwas theatralisch und winke ab, um die Situation dennoch zu entspannen, was Yvette ein hüstelndes Kichern entlockt. „Ich bin nur gespannt, wie es jetzt weitergeht. Wann sie die Straßen wieder freigeben und die Straßenlaternen wieder anschalten. Im Augenblick ist es noch hell, bevor die Ausgangssperre beginnt, aber der Sommer dauert ja nicht ewig, irgendwann werden die Tage wieder kürzer werden."

„Ich bin eher gespannt darauf, was sie mit unserer Meinungs- und Pressefreiheit anstellen werden", brummt Françoise miesgelaunt. „Unsere Zeitungen lecken Hitler die Stiefel – das kann doch nur eine traurige Parodie sein. Der einzige Lichtblick ist, dass sie L'Humanité wieder publizieren, aber das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sind die Ideen der Französischen Revolution wirklich nichts mehr wert?"

„Doch, wie ich hörte, soll die Guillotine bald wieder in Mode kommen", entwischt es aus meinem Mund, bevor ich mich aufhalten kann. Ich sollte wirklich mein vorlautes Mundwerk zügeln. Meine beiden Freundinnen verstehen die Anspielung sofort, Yvette grinst breit, Françoise dagegen seufzt und schüttelt wieder den Kopf.

„Im Ernst: Wie steht ihr zu de Gaulle?", flüstert Françoise und sieht sich vorsichtig um, als befürchte sie, dass die Deutschen uns belauschen könnten. Als der Kellner mit den Getränken kommt, verstummt sie sogleich und wartet ab, bis er sich entfernt hat, ehe sie das Thema wieder aufgreift. „Ihr habt doch bestimmt von seinem Aufruf gehört, oder?"

Mein Herz macht bei der Frage einen Satz. Yvette und ich werfen uns einen vielsagenden Blick zu. Dieses Gespräch entwickelt sich gerade definitiv in eine Richtung, die keiner von uns beiden angenehm ist. So etwas ist gefährlich – für jede von uns. Wir sollten dieses Thema nicht an einem Ort diskutieren, an dem es nur so von Deutschen wimmelt. „Was denn? Was guckt ihr euch so an?", raunt unsere Freundin uns zu, woraufhin wir beide ertappt die Blicke senken. Kurz nachdem die Regierung kapituliert hat, hat Général de Gaulle von London aus zum nationalen Widerstand gegen die Besatzer aufgerufen. Die Nachricht war eindeutig und sie hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Man muss wirklich hinter dem Mond leben, um noch nichts davon gehört zu haben.

Aber werden die Menschen diesem Aufruf auch wirklich folgen? Im Moment ist es nicht so schlimm wie befürchtet und auch wenn die meisten Leute, die ich kenne, sich über den Anblick der feldgrauen Ratten beschweren, so gibt es keinen zwingenden Grund, sich offen gegen sie aufzulehnen und seinen Kopf für einen General hinzuhalten, den die breite Öffentlichkeit vor wenigen Wochen noch nicht mal kannte. Mal ganz abgesehen davon sind das Schwingen von großen Reden in einem gemütlichen Aufnahmestudio in London und der echte, bewaffnete Widerstand gegen die Nazis hier in Frankreich auch nicht unbedingt dasselbe – Ersteres kann jeder, Letzteres überlegt man sich dann doch zweimal. Zumindest ist das meine Meinung.

„Ihr Zwei seid doch wirklich unglaublich! Sie marschieren hier ein, besetzen unser Land und dann wollt ihr euch einfach so von ihnen unterdrücken lassen? Wollen wir wirklich zulassen, dass sie uns so demütigen wie 1871?"

„Hast du dich hier eigentlich schon mal umgesehen?", knurrt Yvette sie an und lässt nun auch ihre Augen durch den Raum huschen, um sicherzugehen, dass dieses Gespräch auch wirklich unter uns bleibt. „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, worüber du dich so aufregst, im Moment unterdrückt dich keiner. Ganz im Gegenteil, bisher waren sie in Anbetracht der Situation äußerst höflich. Und jetzt hör endlich auf, diese Höflichkeit überzustrapazieren!"

„Was ist mit dir, Anne? Du hast guten Grund, dem Aufruf zu folgen. Auch wenn du mit dem Typen dort gerade geflirtet hast. Aber ich vermute, du hast ihm nicht besonders viel über dich erzählt", wendet sich Françoise schlagartig an mich. Gespannt heften sich die Blicke meiner beiden Freundinnen auf mich. Seufzend spiele ich stattdessen mit dem Rotweinglas in meiner Hand und lasse die rubinrote Flüssigkeit darin herumwirbeln. Am liebsten würde ich gar nicht auf diese Frage eingehen. Darüber habe ich mir nämlich in den letzten Wochen auch schon den Kopf zerbrochen. Françoise redet von aktivem Widerstand. Natürlich wünschte ich, ich wäre so mutig, nach der Waffe zu greifen und den Nazis die Hölle heiß zu machen. Aber ich erzittere schon bei Friedrichs Anblick, was passiert dann erst, wenn einer von ihnen eine Waffe auf mich richtet? Außerdem hat meine Familie schon ihr altes Leben aufgeben müssen, ich will nicht der Grund sein, aus dem wir auch unser neues Leben aufgeben müssten. Wenn ich auffalle, findet Friedrich meine Eltern – egal, ob sie sich in der besetzten oder in der unbesetzten Zone aufhalten. Ich kann's noch so sehr beschönigen, schlussendlich habe ich Angst. Ich will nicht permanent mit dem kalten Atem des Todes im Nacken leben müssen.

„Es hat ja keiner gesagt, dass man sich offen gegen sie stellen muss. Ich werde einfach nicht mit ihnen kollaborieren", antworte ich kleinlaut. Mittlerweile kenne ich Françoise ganz gut. Ihre Familie stammt aus dem Elsass, ihre Eltern sind nach dem Guerre de Quatorze als Arbeiter nach Paris gekommen. Ihren Hof im Elsass haben die Deutschen verwüstet. Meine beiden Freundinnen glauben, dass meine Familie aus Frankreich stammt. Françoise hasst die Deutschen so sehr – wenn sie wüsste, dass mein Vater in Wahrheit auf der anderen Seite gekämpft hat, würde sie kein einziges Wort mehr mit mir wechseln.

„Anne hat absolut recht. Du solltest wirklich auf sie hören, bevor du dich da in irgendwas verstrickst, Françoise!", flüstert Yvette ihr eindringlich zu, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck ehrlicher Besorgnis. Obwohl sich die beiden ständig wegen ihrer politischen Gesinnungen in den Haaren liegen, würde sie nicht wollen, dass unserer Freundin etwas zustößt – und ich will es auch nicht. Sie hat keine Ahnung, mit wem sie sich da anlegen will.

„Ich werde im Moment noch abwarten. Vielleicht kommt André bald wieder und dann entscheiden wir zusammen", seufzt sie. Mit einem Mal wirkt sie deprimiert. André ist ihr Verlobter, auch er ist eingezogen worden und noch nicht wieder zurückgekehrt. Verlobter ist eigentlich noch die Untertreibung des Jahres, die beiden sind seelenverwandt. Sie sind zusammen aufgewachsen, studieren beide, um sich aus dem Arbeiterviertel herauszukämpfen, sind Parteigenossen. Ich kann mir vorstellen, wie sie sich wohl gerade fühlen muss – leer und unvollständig. So eine Entscheidung würden sie normalerweise nur gemeinsam fällen.

„Hast du schon was von ihm gehört?", erkundigt Yvette sich vorsichtig und legt ihr eine Hand tröstlich auf die Schulter.

Auf einmal wirkt meine für gewöhnlich so kämpferische Freundin so, als wäre sie gar nicht mehr richtig da. Ihr Blick ist leer, erst jetzt fallen mir die tiefen Augenringe auf, die von unzähligen schlaflosen Nächten zeugen. Beinahe lethargisch nickt sie und schlingt die Arme um ihren Körper. „Er ist in einem Kriegsgefangenenlager", murmelt sie vor sich hin. „Hab' seinen Namen auf einer der Listen gesehen."

Die Deutschen haben angefangen Listen zu veröffentlichen, in denen die Namen von Soldaten, die gefangen, verletzt oder getötet wurden, verzeichnet sind. Man kann sie öffentlich, quasi auf der Straße einsehen. Von meinem Cousin Pierre und Rachelles Freund Nicolas fehlt noch jede Spur. Unwillkürlich muss ich mich fragen, ob Rachelle und ich wohl auch so aussehen wie Françoise. Irgendwie abgespannt und deutlich gealtert.

„Es wird alles gut, er kommt bestimmt bald wieder", tröstet Yvette sie, doch Françoise schüttelt ihre Hand ab und schnaubt bitter.

„Das hoffe ich für die. Wenn sie ihm was antun, dann schwöre ich, dassich jeden von ihnen...", setzt sie an, besinnt sich jedoch wieder, da dieemotionalen Szenen nun doch die Aufmerksamkeit der Besatzer erregt haben. Zwarlässt sie deswegen den Rest des Satzes in der Luft hängen. Doch wir drei wissennur zu gut, was sie tun wird, wenn André nicht wiederkommen sollte. Und dannwird sie auch keine von uns aufhalten können.

                                                                                  

An dieser Stelle nochmal ein riesiges Dankeschön für all euer Feedback zum Prolog, ich hab mich unheimlich drüber gefreut! (: 

Ich hoffe, euch hat auch das erste Kapitel gefallen. Gefühlt löst sich auch langsam meine Schreibblockade, vielleicht kann ich also bald an dieser Story weiterschreiben^^ War vielleicht eine ganz gute Idee, sie hier auf Wattpad hochzustellen :D

Genug Geschwafel. Danke fürs Lesen und ich würde mich wieder total über euer Feedback freuen (:

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