Ein Tagtraum
„Lotte, was soll der Scheiß, wie spät ist es überhaupt?"
„Pst Liese, du weckst ja alle auf!"
„Lotte, es ist mitten in der Nacht. Wieso hängst du über unserer Schreibtischplatte und drückst dir die Nase an der Fensterscheibe platt."
„Weil ich nicht schlafen kann."
„Lotte, wieso kannst du jetzt wieder nicht schlafen?"
„Keine Ahnung Liese. Aber der Mond scheint wunderschön und sieht aus, wie eine weiße Scheibe am Himmel. Außerdem ist da draußen im Garten wieder das Licht."
„Lotte, du weißt genau, dass das die Taschenlampe von Papa ist. Er will morgen zum Angeln fahren, das hat er doch vorhin beim Abendbrot erzählt. Dafür sucht er jetzt die Regenwürmer."
„Aber Liese, das glaube ich nicht, das hat er doch schon gestern gemacht. Hat er auch beim Abendbrot erzählt. Habe ich genau gehört, dass er zu Mama gesagt hat: „Heidelinde morgen schnappe ich mir ein paar von unseren Kindern und fahre mit denen zum Angeln. Dann hast Du hier ein bisschen Luft. Regenwürmer habe ich gestern schon dafür gesucht."
„Mensch Lotte, wie alt bist du eigentlich?"
„Acht Jahre, genau wie du."
„Mensch das weiß ich doch."
„Warum fragst du dann? - Auf jeden Fall hat er das gestern schon gemacht, da braucht er das heute ja nicht noch mal zu tun."
„Lotte, komm jetzt zurück in's Bett."
„Gleich Liese. - Lieeeese, was meinst du, ob Papa uns morgen mal wieder mitnimmt zum Angeln?"
„Ne, glaube ich nicht."
„Warum nicht?"
„Vielleicht, weil er das letzte Mal drei Tage brauchte um seine Sachen wieder einigermaßen heil zu machen?"
„Liese du bist doof."
„Wieso bin ich jetzt doof? - Du hast doch versucht mit seinen Angelschnüren zu flechten. - Ich habe nur mit am Fluss gesessen und gelesen. Außerdem habe ich genau gesehen, wie du immer einen Regenwurm aus dem Glas genommen hast und wenn du glaubtest wir schauen nicht hin, hast du ihn hinter dich in das Gras geworfen. Du hast nur Glück, dass Papa das nicht gesehen hat."
„Ja genau, Papa hat geangelt und du hast gelesen. Deshalb war mir ja auch langweilig und ich habe was Neues probiert. Ging ja auch. Außerdem bin ich jetzt schon viel älter und wehe du petzt das mit den Regenwürmern. Wieso weißt du das überhaupt, du hast doch gelesen."
„Genau Lotte, das kann ich auch, wenn du vor lauter Langeweile hin und her wanderst und dich ständig mit irgendwelchen Tieren oder Blumen unterhältst. Oder eben Papas Regenwürmer klaust. Meinst du es macht Spaß darauf zu warten, dass er das mitbekommt und der Tag dann versaut ist, weil wir streiten?"
„Mensch Liese, das ist doch schon Wochen her."
„Acht Wochen Lotte, acht Wochen."
„Sag ich doch, ich bin jetzt schon viel älter. Außerdem will von den Jungs keiner mit. Das habe ich gehört, als sie nach dem Abendbrot zusammengesessen sind und rumgetuschelt haben."
„Lotte du nervst, komm jetzt zurück in 's Bett und sei ruhig. Ich will schlafen."
„Ich weiß. Schlaf doch einfach, ich guck noch ein bisschen zum Fenster raus."
Langsam öffnete ich wieder die Augen und wachte auf aus meinem kleinen Tagtraum, da war ich doch glatt ein bisschen eingenickt. Papa und unser Nachbar konnten sich auch gar nicht voneinander lösen, nur ein bisschen lauter waren sie geworden. Das machte aber nichts, ich schloss einfach noch ein bisschen die Augen und genoss die Stimmung. Immer noch war es so ruhig und träge, so dass ich sogar mehr als ein paar Fetzen von der Unterhaltung aus der Bucht nebenan erhaschte, wo mein Vater sich mit dem „Kollegen" unterhielt.
„Sag mal Erwin, benutzt du eigentlich auch bunte Pasten als Köder?"
„Ja, das mache ich. Heute Morgen hat der Pächter erzählt, dass die einzigen Fische, die heute Morgen hier gefangen wurden, alle auf die gelbe Paste gebissen haben."
„Und, hast du es ausprobiert?"
„Ja, habe ich, meine Lütte hat das mitbekommen und hat mir gleich ein Glas gekauft, als sie Kaffee besorgt hat.- Hat aber auch nichts gebracht, hat trotzdem kein Fisch gebissen."
„Deine Lütte?"
„Ja, ich weiß. Sie wird dieses Jahr fünfzig, wird trotzdem immer meine Lütte bleiben."
„Aber angeln tut sie nicht - oder?"
„Sie kann es schon, aber sie mag es nicht. Meine Augen sind nicht mehr so gut und dann hilft sie mir schon. Heute Morgen hat sie mir sogar die Maden auf den Haken gezogen, obwohl das nie ihre Aufgabe war. Ich konnte die kleinen Dinger aber einfach nicht mehr greifen."
„Hast du ein Glück, meine Kinder konnte ich nie dazu bewegen mitzukommen."
„Doch, das war damals eine Möglichkeit Zeit gemeinsam zu verbringen. Die Kleine hat mich aber auch viele Nerven gekostet. Kennst Du da hinten den Fluss, mit den ganzen Biegungen?"
„Du meinst den mit den vielen Trauerweiden, die auf der anderen Seite stehen?"
„Genau, den."
„Ich habe den Fehler begangen ihr an dem Fluss das Angeln beibringen zu wollen. So breit ist er ja nicht. Ich wollte, dass sie es lernt und sie wollte es nicht. Sie war erst acht Jahre alt. Vorher wusste ich gar nicht, mit wie viel Schwung sie schon die Angel auswerfen kann."
„Oho - ich ahne fürchterliches."
„Genau, ich habe eine Stunde gebraucht um die Angel drüben aus der Trauerweide zu befreien und das Schlimmste dabei ist, ich war auch noch selber schuld. Außerdem musste ich immer extra mehr Regenwürmer sammeln und mitnehmen, wenn ich mit den Zwillingen losgezogen bin ...
Au Scheiße, jetzt war ich aber wieder hellwach. Wieso weiß er das? Und wieso hat er nie etwas gesagt? Ansonsten war er doch auch nicht gerade zimperlich im Umgang mit uns.
„... Tierliebhaberin - auf der einen Seite habe ich sie morgens immer mit in den Wald mitgenommen und versucht ihr Respekt vor der Natur einzuflößen, da kann ich ihr ja schlecht auf die Finger hauen, wenn sie auf der anderen Seite ein Herz für Tiere hat. Immer, wenn sie glaubte, ich schaue gerade nicht hin, hat sie einen Wurm genommen und ihn hinter sich in das Gras geworfen. Ich habe mir halt vorher überlegen müssen, ob ich die Mädels oder die Jungen mitnehme. Ein Glas habe ich dann immer schon bei mir behalten. Aber, dass du das ja für Dich behältst, sie weiß nicht, dass ich das weiß."
Ein leises Lächeln huscht über mein Gesicht. Okay, dann werde ich auch mal so tun, als ob hier nichts angekommen wäre, Liese muss ich das aber auf alle Fälle erzählen. Die hält ja auf jeden Fall dicht und außerdem hätten wir damit wieder ein Rätsel unserer Kindheit gelöst. Es kam uns schon immer komisch vor, dass unser Papa an unseren Angeltagen so viel Geduld mit uns Kindern hatte.
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