7. Kapitel
Während ihre Tante in wüste Beschimpfungen ausbrach, sah Keira angespannt ihr Telefon an. Sie nutzte ihr Handy so gut wie nie. Mit wem sollte sie auch schreiben? Oder telefonieren? Natürlich hatte sie noch die Nummern ihrer alten Freunde eingespeichert, aber sie wusste nicht, ob die überhaupt noch aktuell waren und sowieso hatten ihre angeblich besten Freunde sich von ihr abgewandt, nachdem sie sich veränderte. Nun, eigentlich hatte sie sich nicht direkt verändert: Sie war einfach nur Keira geworden. Wie oft hatte sie sich die Probleme ihrer Freundinnen angehört? Sehr oft. Und wie oft hatten sie nach dem Befinden ihrer Freundin gefragt, die sich immer um sie kümmerte und sich für sie verstellte? Gar nicht.
Noch immer wie hypnotisiert, griff sie nach dem Handy und sah auf das Display. Unbekannte Nummer. Stirnrunzelnd stand sie auf und nahm ab. „Hallo?", fragte sie leicht unsicher und hoffte, dass man diese nicht durchs Telefon hören konnte. Keira lief verwirrt zur Treppe und machte dabei einen großen Bogen um den Flur zur Eingangstür. Wenn das jetzt ein Drohanruf ist, nahm sie sich vor, dann wander ich aus und bau mir nen Bunker...
„Hi", sagte eine Stimme, die sie nicht ganz zu ordnen konnte, bei der sie jedoch sicher war, sie schonmal gehört zu haben.
„Wer ist da?", fragte sie misstrauisch und konnte das Zittern in ihrer Stimme gerade so zurückhalten. War das etwa der Mann aus der Bahn? Der Gedanke ließ sie erschaudern und kurz war sie gewillt einfach aufzulegen. Doch sie tat es nicht.
„Ich-" Sie hörte wie sich dieser jemand räusperte. „Hier ist Neo. Du weißt schon, der komische Typ mit den schönen Augen..." Das schöne betont er leicht, aber es wirkte gezwungen fröhlich, wie er sprach. Kurz herrschte Stille. Keira wusste nicht, was sie sagen sollte und Neo wartete offenbar auf eine Antwort. Der seltsame Junge, der sie gewissermaßen gerettet hatte. Plötzlich fragte sie sich, was sie sich gedacht hatte, ihm einfach alles auf zuschreiben.
Weil du gedacht hast, er würde sich nie wieder melden..., beantwortete sie sich ihre Frage selbst.
„Bist du noch dran?", wollte Neo wissen und wirkte ziemlich verunsichert. Offenbar hätte er lieber nicht angerufen. „Hörmal...ich weiß es ist spät, aber..." Er fing an irgendetwas zu stottern, was Keira leicht grinsen ließ.
„Schon gut. Ich war nur überrascht. Wie kann ich dir helfen?", unterbrach sie ihn schließlich und hörte im Hintergrund noch immer, wie Ava lautstark fluchte und Tobias versuchte sie zu beruhigen.
„Ähm...naja das ist ein bisschen...schwierig...zu erklären..." Wieder dieses Gestottere. Wüsste sie es nicht besser, würde sie denken er würde eine Kassette abspielen und die würde sich immer wieder aufhängen.
„Raus damit!", befahl Keira ihm und wartete ungeduldig, doch diesmal kam von seiner Seite nur Schweigen. Genervt verdrehte sie die Augen. Was rief er um, sie sah auf die Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand hing, um 23 Uhr am Abend an, nur um dann nicht auf ihre Fragen zu antworten?!
Schließlich ertönte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.
„Ich weiß das ist viel verlangt, aber..." Gerade wollte Keira einen scharfzüngigen Kommentar abgeben, da redete er schnell weiter, als wolle er es hinter sich bringen, was vermutlich auch so war. „Könnte ich morgen vorbei kommen? Klar wir kennen uns nicht richtig, aber ich brauche deine Hilfe. Oder nicht richtig deine, aber generell und ich dachte mir, dass...Naja du hast ganz okay gewirkt und ich dachte..." Sie achtete nicht weiter auf seine sich verhaspelnden Erklärungen und überlegte. Natürlich war das seltsam, dass er sie fragte, ob er mal vorbeikommen durfte, obwohl sie sich nicht wirklich kannten. Er hatte sie in einem Park aufgelesen, als sie von einem fremden Mann mit einem Elektroschocker bedroht wurde und hatte sie schließlich in seine Wohnung gebracht und dem Mann mit einem Stein das Licht ausgeschaltet. Eigentlich hatte er es verdient, dass sie nun auch ihm half. Vermutlich werde ich das bereuen...
Sie stellte ihr Gehör wieder an und hatte direkt das Gebrabbel Neos wieder im Ohr.
„Es wäre nur wirklich nett und..."
„Na gut. Du kannst morgen um..." Sie überlegte kurz. Ihr Onkel musste ab um acht arbeiten und sie glaubte sich zu erinnern, dass Ava um zehn zu Freunden wollte. „...um Elf kommen..."
„Wirklich?!" Man hörte dem Jungen seine Erleichterung deutlich an, während sich Keira die Brust zusammen zog. Hoffentlich würde sie das nicht bereuen...
„Okay. Danke. Bis morgen, Keira Lane." Sie wollte ebenfalls einen Abschiedsgruß sagen, doch als sie dazu ansetzte, hatte er schon aufgelegt. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und lief zurück in das Wohnzimmer, wo ihre Tante mit neuen Klamotten saß. Entschuldigend sah Keira sie an. Sie war selbst zu irritiert, um darüber zu lachen, dass ihre Tasche drei Schichten Handtücher auf ihren Schoß und unter die Flaschen gelegt hatte.
Stattdessen erklärte sie, sie sei müde und würde nun ins Bett gehen. Ava sah ziemlich erleichtert aus und auch Tobias wirkte nicht so, als würde ihn das gegen den Strich gehen. Mit verwirrenden Gedanken lief sie in ihr Zimmer und legte sich in ihr Bett.
Ihre Gedanken rasten und machten ihr das Einschlafen unmöglich. Plötzlich drehte ihr Kopf sich noch mehr und ihr wurde ein wenig schlecht. Nicht schon wieder..., konnte sie noch denken, bevor sie wieder in die goldene Leere gezogen wurde.
Diesmal hatte sie das Gefühl, dass etwas anders war, aber sie wusste nicht was. Ihr Kopf schien bersten zu wollen und alles tat ihr weh. Diesmal ließ sie sich gleich nieder und verharrte in der Hocke, wartete darauf, dass die Schmerzen aufhörten und sie gehen konnte. Ihre Haut an Armen und Händen wirkte noch bleicher, als bei ihrem letzten Besuch, aber sie wagte es nicht auf ihren Oberkörper zu sehen. Sie fürchtete sich davor, was sie diesmal sehen könnte. Doch irgendwann verlor sie die Kontrolle und plötzlich war es, als hätte man ein Spiel gespielt und übergebe die Steuerung nun an jemand anderen, der den ganzen Spielstand zunichte machte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie von fremder Hand gesteuert werden und nun sah sie doch an sich herab.
Seltsamerweise war kein Blut zu sehen. Ihre Kleidung, ein blütenweißes bodenlanges Kleid, war noch immer sauber: Kein einziger Blutfleck war zu sehen. Auf ihrem Schlüsselbein prankten Wunden, die zwar kein Blut verloren, sich jedoch immer wieder schlossen und zu Narben wurden, nur um dann wieder aufzureißen. Ihr wurde übel.
Doch statt derjenige, der sie steuerte, es dabei beließ, ging er noch einen weiteren, größeren, Schritt. Mit zittrigen Händen, die nicht einmal der Andere kontrollieren konnte, um sie am Beben zu hindern, zog sie den Ausschnitt ihres Kleides noch ein wenig weiter nach unten. Ohne es zu bemerken, hielt sie die Luft an und ließ ihren Blick vom Schlüsselbein an jene Stelle wandern. Jene Stelle, in der ihr Herz saß. Oder sitzen müsste. Es war wieder nicht da.
Diesmal sah die Wunde noch schlimmer aus. Hätte sie sich übergeben können, hätte sie es nun getan. Doch dies war eine andere Art von Welt und hier war so etwas nicht möglich.
Die Wunde hatte sie ausgebreitet, schien sich nun bis zu den Rippen und weiter hinunter zu ziehen, aber das schwarze Loch war noch dasselbe. Doch statt einer glatten Kante, wie beim letzten Mal, bestand der Rand dieser Wunde, diesmal aus Zacken und Kanten. Es sah aus, als hätte jemand Spaß daran gehabt Kerben ein zuschneiden und die Haut war dementsprechend zerfetzt. Nun war sie sich sicher sich übergeben zu müssen und endlich ließ der Steurer sie auf blicken.
Sie dachte sie hätte es diesmal geschafft und würde endlich aufwachen. Doch ihr Körper bewegte sich von allein, stand mit weichen Knien und zittrigen Händen auf und taumelte weiter in die goldene Leere. Keira wollte nicht, aber ihre Beine ließen sie nicht mitbestimmen und so lief sie weiter, schier eine Ewigkeit lang. Vor ihr erstreckte sich die goldene Leere in voller Pracht, ohne Ende und ohne weitere Lebewesen oder andere Dinge, sie war mutterseelen allein.
Endlich wurde ihr Körper langsamer und ihre Augen erfassten einen Gegenstand, jedoch konnte sie nicht ausmachen, was es war. Es schimmerte ein wenig in dem Licht, dass von überall und nirgends zu kommen schien, war ansonsten aber kaum sichtbar. Vorsichtig näherte sie sich dem Gegenstand, wappnete sich für weitere Grausamkeiten und ging langsam in die Knie, um den Gegenstand näher zu betrachten. Er bestand anscheinend aus Glas, weshalb er nicht so gut zu sehen war und sich dem Untergrund, dem goldenen Licht, anpasste. Sie betrachtete die Form genauer und plötzlich war es, als läge sich ein Schalter in ihrem Gehirn um. Sie zuckte erschrocken zurück. Vor ihr lag ein Herz. Nicht dieses Symbol. Nein ein echtes Herz aus einem richtigen Körper. Ein Herz aus Glas.
Nun sah sie auch, dass es noch schwach schlug. Es sah aus, als hole es zittrig Atem, um ihn dann qualvoll wieder aus zustoßen. Ein paar Mal schlug es noch, wurde immer schwächer, der Abstand zwischen den Schlägen immer länger und schließlich blieb es stehen. Ein seltsamer Schmerz durchzuckte sie. Als stände hinter ihr jemand, der ihr einen Dolch ins Rückgrat rammte und sie stellte sich vor, wie er dabei lächelte. Der Schmerz zog sich durch Arme und Beine, durch Brust und Hals und schließlich zum Kopf. Keuchend sackte sie noch weiter ins sich zusammen. Sie hörte ein leises Klirren, wie wenn Glas auf Glas trifft und dann- das Herz zersprang. Explodierte in einem Meer aus Scherben, die im Licht glitzerten und sich über Keira und dem goldenen Nichts verteilten.
Der Schmerz wurde schlimmer und nun wusste sie, wessen Herz es war.
Mein Herz, dachte sie noch bevor alles wieder schwarz wurde, mein Herz aus Glas.
Diesmal schreckte sie weder hoch, noch hatte sie das Bedürfnis zu schreien: Sie lag einfach starr da und bohrte mit ihrem Blick Löcher in die Luft. Sie wusste nicht, warum sie immer in die goldene Leere ging. Eigentlich sollte das nur in bestimmten Situationen geschehen, doch offenbar wurden ihre Besuche regelmäßig. Vielleicht hängt das ja alles mit meinem nicht mehr vorhandenen Glück zu tun, überlegte sie. Vielleicht verschwinden nun auch meine anderen Kräfte nach und nach und das sind irgendwelche Nachwirkungen des plötzlichen Sinneswandels?!
Natürlich war ihr bewusst, dass das Glück nie zu ihren Fähigkeiten gehört hatte - es war einfach da gewesen. Und doch hatte sie es immer als eine Art Bonus betrachtet, wie extra Guthaben für den Handyvertrag. Offenbar war das dann eine Art Betrug, den sie erst jetzt zu spüren bekam...
Sie schüttelte den Kopf und riss ihren Blick von der Decke los. Es war mitten in der Nacht, sie fühlte sich keineswegs ausgeruht und ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch ungefähr sieben Stunden Schlaf hätte, bis Neo kam. Normalerweise würde ihr das reichen, aber da sie a) Neo die Tür nicht im Schlafanzug öffnen wollte und sich b) in Ruhe fertig machen wollte, ohne warten zu müssen bis Ava fertig mit Duschen fertig war. Diese Frau konnte echt Stunden damit verbringen, ihr persönlicher Rekord waren eine Stunde und siebzehn Minuten. Nur das Duschen. Und an dem Tag musste Keira zur Schule, weshalb sie schließlich gerade noch Zeit hatte sich die Zähne zu putzen, da Tobias das andere Bad besetzt hatte, und dann schließlich mit Verspätung und ohne sich gewaschen zu haben mit extrem mieser Laune in Geschichte geplatzt war.
So müsste sie also schon mindestens eine Stunde vor Ava aufstehen und diese am Wochenende immer um 8 Uhr aufstand, hatte sie jetzt noch gerade drei Stunden zum schlafen. Vermutlich noch weniger, für die Zeit in der sie dies alles ausrechnete und ihr Gehirn zwischendurch immer wieder einschlief. Schicksalsergebend seufzte sie und drehte sich zur Wand. Hoffentlich verschwindet Neo schnell wieder...
Doch noch während sie das dachte, wusste sie, dass dem nicht so wäre. Schließlich schlief sie doch noch ein, nachdem ihr Hirn beschloss aufzuhören, ihr zu sagen, wie viele Zeit sie noch ungefähr zum Schlafen hatte und andauernd fragte, ob sie den Wecker gestellt hatte. Doch den hatte sie diesmal wirklich mal gestellt, nachdem sie angekommen war. Erst kurz vor dem Einschlafen fiel ihr ein, dass sie ihn auf um neun gestellt hatte, doch da wurde sie schon in die sanften Wogen des Schlafes gezogen.
In ihren Träumen sah sie immer wieder dasselbe: Ihr Herz, bestehend aus Glas, dass in tausende Glassplitter zersprang. Immer wieder versuchte sie es wieder zusammenzusetzen, aber sie wusste, selbst wenn sie es schaffen würde, die Teile wieder richtig anzuordnen, es wäre niemals wieder wie vorher. Feine Risse würden sich noch immer durch das Herz ziehen, würden Narben bilden, die vielleicht verblassten, aber nie wieder vollständig verschwinden würden.
Neues Kapitel 🎆
Es kann sein, dass in den nächsten Tagen erstmal nichts kommt, da ich gerade ein echt tolles Buch lese, von dem ich mich kaum losreißen kann. Der erste Teil war noch nicht ganz so spannend, aber ich sag euch: der Autor hat echt Fantasie. Es heißt Die Seiten der Welt- Nachtland, von Kai Meyer und ist kein Wattpad-Buch...
Na wie auch immer. Wie immer freue ich mich über alles, was diese Anreihung an Hirngespinste verbessern kann und was euch gefällt.
Und bevor ich es vergesse: Vielen Dank für eure Reads. Ich weiß andere denken 35 sind nicht viele, aber ich freue mich über jeden einzelnen...
Lüb euch,
TatzeTintenklecks😉
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