3. Kapitel
Mit einem leisen Keuchen fuhr sie aus ihrer Ohnmacht hoch. Ihr Herz, dass nun wieder fest in ihrer Brust verankert saß, dachte anscheinend, Keira würde einen Marathon laufen. Ihr Atem war ebenfalls beschleunigt und sie sah ängstlich an sich herunter.
Kein Blut.
Erleichtert atmete sie auf und versuchte ihren Fuß unter dem Nachttisch hervorzuziehen. Schließlich gelang es ihr auch und sie sah mürrisch auf ihren Knöchel, der ein einziges gelbes Kunstwerk war. Spätestens in ein paar Stunden würde das wieder verblasst sein. Zum Glück. Sie wollte niemandem erklären müssen, dass sie sich den Knöchel verstaucht hatte, weil ein Nachttisch darauf gefallen war.
Wie lang war sie ohnmächtig gewesen? Es kam ihr nicht wirklich lang vor, aber als sie auf den Digitalwecker sah, bemerkte sie irritiert, dass fast eineinhalb Stunden vergangen waren. War das nicht immer andersherum? Das einem so etwas sehr lang vorkam, in Wahrheit aber nur einige Minuten vergangen waren? Immer noch total verwirrt stellte sie den Nachttisch wieder auf und lief zu ihrem Schreibtisch. Schon beim Laufen merkte sie, wie der Schmerz nachließ.
Sie sah von ihren aufgeschlagenen Büchern und Heften zur Uhr. Wissend, dass sie sich nun eh nichts mehr merken können, setzte sie sich seufzend hin und blätterte in ihren Notizen. Vielleicht würde sie ja doch nicht ganz versagen, wenn sie sich wenigstens einige Punkte einprägen konnte. Aber egal wie oft sie las: Es war als würde man Wörter in einer anderen Sprache lesen. Man sah, dass dort welche standen, doch die Bedeutung verstand man nicht.
Sonnenlicht kitzelte sie im Gesicht und sie rekelte sich verschlafen. Als das Mädchen die Augen schließlich öffnete, bemerkte sie, dass sie auf ihren Notizen eingeschlafen war. Seltsam.
Dann fiel Keira allerdings ein, dass sie noch bis spät in die Nacht gelernt hatte. Nun konnte Keira sich an keinen einzigen Stichpunkt mehr erinnern, ja selbst das Thema war ihr entfallen. Diese Wirkung hatte Schlaf schon immer auf sie. Vielleicht einer der Gründe, warum sie höchstens mal eine drei schrieb. Selbst wenn sie Stunden lernte oder bereits eine Woche vorher anfing, sobald sie einschlief konnte sie eine gute Note vergessen.
Als ihre Eltern noch am Leben waren, hatte sie sich immer auf ihr Glück verlassen. Sie konnte es schlecht leugnen: Keira hatte übermäßig viel Glück gehabt. Wenn sie bei einem Ankreuztest keine Ahnung hatte und einfach nur irgendwas ankreuzte, konnte sie sich im Nachhinein sicher sein, dass sie mindestens ein Dreiviertel der Aufgaben richtig hatte. Das war allerdings vor ihrer Bekanntschaft mit den Tod ihrer Eltern gewesen. Ihr Glück schien Keira mit ihren Eltern verlassen haben.
Noch immer verschlafen richtete sie sich auf und sah sich in dem lichtdurchfluteten Raum um. Komisch, die Sonne stand bereits sehr hoch. Sie achtete nicht weiter darauf und tapste ins Bad.
Als sie in den Spiegel sah, schreckte sie zurück. Tiefe Augenringe zeichneten sich in ihrem Gesicht ab und ihre Haare sahen aus, als hätte eine Krähe darin genistet. Der Abdruck eines ihrer Bücher zeichnete sich deutlich auf ihrer Stirn ab und irgendwo hatte sie sich einen Kratzer auf der Wange geholt. Sie stöhnte. Schnell putzte sie sich die Zähne, während sie noch gleichzeitig ihr Gesicht wusch und versuchte ihre Haare irgendwie wieder ordentlich zu bekommen. Als sie die Krümel ihres Radiergummi herauszog, gab sie auf.
In Rekordzeit zog sie sich noch um und ging mit einem triumphierenden Grinsen in ihr Zimmer. Sie fühlte sich ausgeruht und war schneller gewesen, als an jedem anderen Morgen bisher. Als sie jedoch auf ihren Wecker sah, erlosch dieses Grinsen und machte einen entsetzten Gesichtsausdruck Raum. Ihre hellen grauen Augen weiteten sich, sie stierten die Ziffern an, wie um herauszufinden, ob das wirklich war.
11:55 Uhr.
„Nein, nein, nein, nein, nein!", schrie sie panisch. Wie hatte sie solang schlafen können? Warum kam Ava nicht wenigstens heute mal auf die Idee sie zu wecken? Und warum verdammt hatte sie nicht daran gedacht ihren Wecker wieder zu stellen?!
Keira stürmte die Treppen herunter und, als hätte das Glück entschieden, ihr endgültig zu zeigen, dass es sie verlassen hatte, stolperte sie und schlug mit dem Kinn zuerst auf dem Boden auf. Ihre Zähne pressten sich aufeinander und Keira dachte sie wollten zerspringen. Ein stechender Schmerz zog sich von ihrem Kinn zum Kiefer und bis zu den Ohren. Als sie den Kiefer erschrocken wieder öffnete wurde ihr übel. Er knirschte und knackte, als würde sie auf Sand kauen. Extrem spitzer Sand, der ihren Schädel zu durchbohren schien. Sie wusste, dass irgendetwas verrenkt sein musste. Wie man wusste, dass man gleich nass werden würde, wenn man ins Wasser ging. Tränen stiegen ihr in die Augen, als eine neue Schmerzwelle durch ihren Kiefer fuhr. Warum? Warum?, dachte sie. Langsam rappelte sie sich auf und krabbelte von den Stufen, auf denen sie noch halb lag. Eine Ecke von ihnen hatte sich unangenehm in ihren Bauch gebohrt und würde wohl einen blauen Fleck hinterlassen, aber das bemerkte sie kaum, da der pochende Schmerz in ihrem Kiefer das einzige war, was sie richtig wahrnahm.
Als sie sich schließlich in das Bad ihres Onkel und ihrer Tante schleppte, war es klar. Ihr Kinn war angeschwollen und färbte sich bereits blau, auch der Ansatz des Kiefers war dick, was sie irgendwie ein wenig wie ein Frosch aussehen ließ. Seufzend beschloss sie, dass sie unbedingt einen Arzt aufsuchen sollte, von allein würde das nicht heilen.
Na, dachte sie bitter, Wenigstens habe ich jetzt eine Ausrede, um nicht in die Schule zu müssen.
Offenbar wollte das Schicksal sie nicht ganz quälen, sodass sie, noch gerade rechtzeitig, eine Bahn erwischte, die sie zum Arzt ihres Vertrauen bringen würde. Er behandelte sie schon seit sie vier Jahre alt war und ihre Eltern haben ihm sogar so sehr vertraut, dass sie ihm Keiras größtes Geheimnis erzählten. Bisher hatte er nie jemandem etwas gesagt und er wurde für Keira der beste und einzige Arzt. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie erst einmal wieder zu ihm gemusst.
Für sie war es damals eine schwere Entscheidung, da Doktor Pokel ein alter und langjähriger Freund ihrer Eltern war und dadurch ein Teil ihrer Vergangenheit. Nach dem Tod ihrer Eltern wurde Keira nicht gern mit der Vergangenheit konfrontiert.
Sie saß einfach nur da und sah aus dem Fenster, während sie Musik durch ihre Kopfhörer und ihrem alten MP3 Player hörte. Obwohl der Sturz mittlerweile eine halbe Stunde her sein musste, tat ihr Kiefer immer noch weh. Es fühlte sich an, als würde jemand versuchen ihr die Backenzähne rauszureißen, obwohl diese dort so festgehalten wurden, dass nichts auf der Welt sie wieder herausholen konnte.
Schweigend ließ sich ein junger Mann neben sie fallen und tippte auf seinem Handy herum. Keira starrte auf die Anzeige der noch kommenden Stationen und entspannte sich augenblicklich. Nur noch eine Station und bei der nachfolgenden konnte sie dann aussteigen. Lange würde sie das nicht mehr aushalten, mittlerweile war der Schmerz zwar nicht mehr ganz so schlimm und sie wusste, dass es nicht lange brauchen würde, um zu heilen, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Wenn wirklich irgendetwas gebrochen oder verrenkt war, wollte sie lieber Doktor Pokel fragen.
Der Mann neben sie sah das Schwarzhaarige Mädchen fragend an,
als sie schmerzerfüllt stöhnte, weil sie ihren Kiefer bewegte.
„Alles in Ordnung?", fragte er freundlich. Keira zuckte mit den Schultern.
„Werde ich ja gleich sehen, wenn ich beim Arzt war...", presste sie als Antwort hervor. Sie drehte sich um, sodass ihr blaues Kinn und ihr geschwollener Kiefer zu sehen waren. Der Mann zog die Augenbrauen hoch und musterte die Verletzung. Unter dem Blick des Manne fühlte Keira sich ziemlich unwohl, deshalb drehte sie sich wieder zum Fenster. Der Zug fuhr nun im Bahnhof ein, nächste Station musste sie aussteigen.
„Wie ist das denn passiert?", wollte der Mann irgendwie amüsiert wissen. Typisch Mensch, dachte sie verärgert über seine Belustigung, jemand tut sich weh, aber es ist lustig oder wie?!
„Die Treppen haben mich angegriffen!", meinte sie sarkastisch. Sie hörte den Mann leise lachen, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern steckte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und stellte die Musik an.
Aus dem Augenwinkel vernahm sie, wie der Mann sich wieder seinem Handy zuwandte und etwas eintippte. Natürlich wusste sie, dass man das nicht tat, aber sie war neugierig und so versuchte sie die Nachricht zu lesen.
...Hab sie gefunden..., konnte sie lesen von dem langen Text lesen, bevor der Mann nach oben scrollte. Den Namen des Kontaktes konnte sie gerade noch lesen: Mein Schatz.
Sie rümpfte die Nase. Vermutlich hatte seine Freundin ihn einkaufen geschickt, damit er eine Handtasche oder so kaufte. Keira war fünfzehn und hatte nie auch nur daran gedacht sich einen Freund zuzulegen, während die Mädchen aus ihrer Klasse von einem zum anderen wechselten. Sie fand einen Freund ziemlich einschränkend und sie liebte nur ihre Freiheit.
Schließlich fuhr der Zug in ihre Station ein und sie sprang auf. Der Schmerz hatte zwar nachgelassen, aber knirschen und knacken tat ihr Kiefer noch immer und sie wollte so schnell wie möglich zu Doktor Pokel. Sie stürmte aus dem Zug und ging zügig zu den Treppen. Einige Menschen sahen ihr verwirrt hinterher, andere wichen ihr aus, wie einem gefährlichen Raubtier. Hätte sie gekonnt, hätte Keira gegrinst. Vermutlich sah sie aus, als hätte sie sich geprügelt mit ihrem blauen Kinn. Sie stieg die Treppen herab und dann nach links und an die frische Luft. Die Praxis von Doktor Pokel lag glücklicherweise ganz in der Nähe.
Sie lief zur Straße und wartete auf einen günstigen Moment sie zu überqueren. Allerdings stand sie dort eine ganze Weile, denn es herrschte dichter Verkehr und die Ampeln schalteten nicht sehr oft auf grün. Schließlich entstand eine kleine Lücke im Teppich aus Fahrzeugen und sie nutzte diese Gelegenheit um auf die andere Seite zu sprinten. Prompt löste sie dadurch ein kleines Chaos aus. Reifen quietschten als ein Auto ruckartig abbremste und überall hupten die Leute genervt in ihren Fahrzeugen. Keira ignorierte die Tatsache, dass sie soeben den ganzen Verkehr zum Stillstand gebracht hatte und lief die letzten Meter mit einer demonstrativen Gelassenheit. Die Autos konnten ihr doch sowieso nichts anhaben...
Schon von weitem sah man die kleine Praxis, deren Name mit großen leuchtenden Buchstaben an der weißgelben Wand blinkte. Die Praxis wirkte eher wie ein kleinerer Eckpub, wenn man den Namen nicht beachtete. Überall klebten Flyer an den Wänden, die ein großes Konzert ankündigten und die Wände waren ziemlich verschmutzt. Doch sobald man durch die schmuddelige Tür trat, war es ganz anders.
Ein leises, sanftes Klingeln erklang beim Eintreten. Die Tür war vermutlich schalldicht, denn sofort verstummte der Lärm von draußen und machte einer entspannenden Stille Platz. Die Dame am Tresen, der direkt gegenüber der Tür stand, begrüßte sie freundlich und bat sie herzukommen. Natürlich kannte sie Keira, schließlich arbeitete sie schon fast so lang wie Doktor Pokel selbst in der Praxis. Wenn sie sich richtig erinnerte, hieß sie Carolin Peters.
„Ich kann mir schon denken, warum du hier bist, Keira!", lachte Carolin gerade und zog so Keiras Aufmerksamkeit wieder auf sich. Anders als bei dem Mann, war das Mädchen nicht verärgert über das Lachen und sie versuchte sogar, so gut wie es ging, der Frau zuzulächeln. „Wie hast du das nun wieder geschafft, hm?"
„Ich habe verschlafen und wollte die Treppe herunter rennen, dabei bin ich gestolpert und habe mich auf meinem Kinn abgestützt", erklärte Keira und diesmal durchzuckte sie nicht wieder ein solcher Schmerz, wie vorher. Es piekte und knackte, aber sie glaubte selbst die Schwellung war bereits ein wenig zurück gegangen. Sie wollte jedoch lieber, dass alles nochmal nach geprüft wurde. Außerdem brauchte sie eine Entschuldigung für die Schule.
„Armes Kindchen. Es ist gerade niemand anderes da, ich hole kurz Doktor Pokel, okay?" Sie zwinkerte ihr kurz zu und trippelte dann zur Tür am Ende des Ganges, der nach rechts führte und wo sich auch der Warteraum befand.
Keira sah sich unruhig um. Sie hasste es irgendwo allein zu sein und sich allein in einer Arztpraxis zu befinden war ziemlich gruselig. Nicht das sie Angst hätte, aber es erinnerte sie immer wieder an die Nacht, als die vier Typen sie in die Gasse gezogen hatten. Unruhig drehte sie ihr Armband um ihr Handgelenk. Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, öffnete sich die Tür und Carolin, gefolgt von Doktor Pokel, trat heraus. Sie lächelte ihr nochmal kurz zu und ging dann in den Raum hinter dem Tresen. Dort schloss sie die Tür hinter sich und gönnte sich vermutlich eine kleine Pause. Doktor Pokel kam breit grinsend auf sie zu und zog sie in eine Umarmung. Normalerweise hatte Keira es nicht so mit Umarmungen, doch bei dem Freund ihrer Eltern machte sie eine Ausnahme.
„Keira! Lang nicht mehr gesehen! Du bist ja sogar noch mehr gewachsen!" Er lächelte wieder und musterte sie von oben bis unten, wie um sie auf weitere Verletzungen abzusuchen.
Doktor Pokel war ein älterer Herr mit schütterem grauen Haar und freundlich funkelnden braunen Augen. Er hatte bereits viele Falten im Gesicht, aber die meisten waren Lachfältchen. Trotzdem schien er seit ihrem letzten Sehen, vor fünf Monaten, ziemlich stark gealtert und er hatte, genauso wie Keira, tiefe Augenringe unter den Augen. Er wirkte sehr müde.
„Na dann. Sehen wir uns mal deinen Kiefer an. Es scheint ja wieder ein wenig abgeschwollen zu sein, aber wir wollen ja kein Risiko eingehen..." Er zwinkerte ihr zu und führte sie, einen Arm um ihre Schulter gelegt, mit sanfter Bestimmtheit in den Untersuchungsraum.
Doktor Pokel öffnete ihr die Tür und sie trat ein. Er folgte ihr und schloss dann die Tür. Im Raum hing der penetrante Geruch von Desinfektionsmittel, den Keira verabscheute, da er sie an das Krankenhaus erinnerte, indem ihre Eltern gestorben und sie überlebt hatte. Trotzdem lief sie zu dem silbernen Untersuchungstisch und setzte sich darauf. Doktor Pokel eilte auch fast sofort zu ihr, nachdem er vielleicht benötigte Materialien zusammen suchte und bereit legte. Danach kam er auf sie zu und betastete vorsichtig und mit kalten Händen ihren Kiefer. Sie zuckte unter der Berührung zusammen, bewegte sich sonst aber nicht. Doktor Pokel führte seine Untersuchung weiter fort und bat sie schließlich: „Mach mal den Mund auf. So weit du kannst!"
Keira folgte dieser Anweisung, aber sie bemerkte schon bald, dass das nicht weit ging. Sie konnte ihn gerade mal ein Stück öffnen, dann war es, als würde etwas sie daran hindern. Vom Schmerz mal abgesehen, war es ihr unmöglich ihn weiter aufzumachen.
„Das hab ich mir schon gedacht...", murmelte der Arzt und fasste noch einmal an Keiras Kinn. „Du hast dir..." Weiter kam er nicht, denn in seinem Kittel klingelte sein Handy. Er verzog das Gesicht, machte aber vorerst keine Anstalten ranzugehen. Er musterte sie mit einem seltsamen Blick, sah ihr in die grauen Augen, die viele gruselig fanden und schien sich ihr Bild einzuprägen. Schließlich fiel ihm offenbar ein, dass er an das Telefon gehen sollte. Er sah sie entschuldigend an und stammelte irgendetwas von „Da muss ich rangehen!" dann rauschte er davon, in den Wartebereich. Warum wirkte er auf einmal so unruhig?, fragte Keira sich irritiert.
Sie wollte nicht lauschen, aber sie musste unbedingt herausfinden, was den Mann, den sie schon so lang kannte und der sie praktisch hatte aufwachsen sehen, so nervös machte. Leise schlich sie zur Tür. Leider hatte Doktor Pokel die Tür hinter sich geschlossen, sodass seine Stimme nur sehr gedämpft erklang, jedoch konnte sie trotzdem einige Worte verstehen.
„...hier...ja...was soll ich jetzt tun?...Nein, das geht doch nicht...ich kann nicht...gut...tschüß!" Was?, fragte Keira sich. Die Wörter, die sie gehört hatte, ergaben keinen Sinn, jedenfalls nicht für sie. Was ist hier? Was geht nicht? Was kann er nicht?
Ihr schwirrte der Kopf, sie war wie erstarrt und ihr war schlecht und diesmal ausnahmsweise nicht wegen der Schmerzen. Nein, die hatten längst nachgelassen. Plötzlich traf ein Gedanke sie wie ein Blitz. Ging es in dem Gespräch etwa um sie? Keira Lane? Auf einmal wollte sie schnellstmöglich hier raus. Wieder auf die Straße, wo ganz ganz viele Menschen waren.
Noch immer stand sie vor der Tür, zum Schlüsselloch geduckt, um so viel wie möglich mit zu bekommen. Doch nun hörte sie Schritte. Sie bewegten sich auf die Tür zu! Schnell rannte sie zurück zum Untersuchungstisch und versuchte dabei noch so leise wie möglich zu sein. Im selben Moment, in dem sie sich wieder setzte, kam Doktor Pokel herein. Er wirkte nun noch nervöser und fuhr sich immer wieder durch die Haare. Nichtsdestotrotz versuchte er zu lächeln, was ihm allerdings kläglich misslang.
„Tut mir leid, das war wichtig. Also um zu deinem Kiefer zurückzukommen: Er ist ausgerenkt. Ich muss ihn jetzt wieder einrenken, sonst kann er nicht heilen. Auch nicht, wenn man so wie du ist." Er zwinkerte, aber es wirkte gezwungen. Wie, als wenn dein bester Freund einen echt lahmen Witz machte und du dich gezwungen fühlst zu lachen. Nicht, dass Keira je übermäßig viele Freunde hatte, schon gar nicht nach dem Tod ihrer Eltern.
Das seltsame Verhalten ihres persönlichen Arztes machte auch sie nervös. Deshalb nickte sie einfach schnell und ließ ihn noch einmal ihren Kiefer abtasten. Sie merkte erst, dass sie ein wenig zitterte, als Pokel sie darauf ansprach. „Keine Angst. Ich kriege den Kiefer schon wieder hin. Ich bin zwar kein Zahnarzt, aber...das schaffe ich doch locker. Außerdem ist dein Kiefer schon wieder gut abgeschwollen, du kannst dich also darauf verlassen, dass er in spätestens zwei Tagen wieder wie vorher ist." Sie wusste, dass das lang dauern konnte, also war sie ziemlich verwundert. Sie fragte aber nur: „Wird das sehr schmerzhaft?" Sie wollte nach Hause. Die ganze Sache war ihr nicht geheuer. Jeder andere Arzt hätte seinen Patienten gut zugesprochen, aber Doktor Pokel hatte sich diese Angewohnheit schon längst abgewöhnt. Die Familie, die jetzt nur noch aus Keira bestand, kannte ihn einfach zu gut und sah, wann er log.
„Ich denke schon. Das Einrenken tut immer weh, egal wo. Aber nur kurz. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr es weh tun wird. Ich habe es noch nie geschafft, mir den Kiefer auszurenken!" Er zwinkerte ihr zu und diesmal wirkte es ehrlicher. Vielleicht verdrängte er das Besorgniserregende.
„Okay!", sagte Keira unsicher und legte sich auf Pokels Befehl auf den Tisch. Er erklärte ihr, dass er sie betäuben müsse, damit sich die Muskeln lockern und es einfacher ist den Kiefer einzurenken. Langsam bekam Keira Angst, also nickte sie nur schwach. In der Schule und Fremden gegenüber schien sie vielleicht verschlossen und vielleicht sogar fies, aber sie kannte Doktor Pokel schon so lang und deshalb konnte sie ihm ihre Angst ohne Probleme zeigen.
Der Arzt holte zwei Spritzen hervor und füllte sie jeweils mit einer Flüssigkeit. Danach kam er zu ihr und spritzte ihr erst die eine, dann die andere Flüssigkeit in ihren rechten Arm.
Sie sollte einige Minuten ruhig daliegen und langsam merkte sie, wie ihr Körper sich entspannte und ein Gefühl der Taubheit sich ausbreitete. Schließlich trat Doktor Pokel wieder heran und nahm vorsichtig den Kiefer zwischen seine Hände. Dann befahl er ihr die Zunge an den Gaumen zu legen und die Luft anzuhalten. Wie in Trance gehorchte sie seiner Aufforderung und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann schloss sie die Augen und legte die Zunge an den Gaumen.
Sie hörte ein Knacken und bemerkte wie ihr Kiefer sich irgendwo wieder einhängte, aber Schmerzen hatte sie nicht. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Der ältere Arzt sah auf sie herunter und lächelte, auch wenn die Augen nicht mitlächelten. „Du hast es geschafft."
Er erklärte Keira noch auf was sie alles achten musste, bis der Kiefer vollständig genesen war und das Mädchen war wirklich froh, dass er gesagt hatte, es wäre in zwei Tagen verheilt. Richtige Ernährung, worauf sie achten musste, wenn sie gähnte oder nieste...Viel zu anstrengend. Sie standen wieder im Warteraum und schwiegen. Schließlich räusperte Doktor Pokel sich und reichte ihr einen Zettel. „Hol dir die Medikamente aus der Apotheke...Oh! Und ich brauche noch deine Krankenkarte."
Keira fiel ein, dass sie die garnicht mitgenommen hatte. „Die habe ich nicht dabei...Aber ich kann sie morgen nach reichen! Ich bin ja sowieso krank geschrieben!" Sie wedelte mit dem Zettel durch die Luft, den der Arzt ihr bereits im Untersuchungsraum gegeben hatte. Das Mädchen war wirklich erleichtert darüber nicht in die Schule zu müssen. Das würde ihr einiges an Ärger in den nächsten Tagen ersparen, vor allem vor dem Nachsitzen verschonte das Zettelchen sie für kurze Zeit.
„Nein. Nein, das musst du nicht. Ich kenn dich ja. Und: Es tut mir leid, Keira!" Er lächelte ein letztes, ehrliches, Lächeln und lief dann in den Raum in dem auch Carolin verschwunden war.
Verwirrt über den letzten Satz, fragte sie: „Wieso sagst du Entschuldigung?" Aber selbst wenn er sie gehört hätte (sie sprach ziemlich leise, da sie noch an den Nachwirkungen der Betäubung zu beißen hatte und das Sprechen nun wieder ein wenig wehtat), er wandte sich nicht noch einmal um. Da ging der langjährige Freund ihrer toten Eltern und Keira hatte ein sehr seltsames Gefühl, dass nicht mit der Betäubung zusammenhing...
So! Ich hoffe ein paar von euch haben bis zum Ende gelesen...Das Kapitel war im Gegensatz zu den anderen wirklich lang...
Naja, was haltet ihr so bisher von der Geschichte generell und diesem Kapitel?
Was denkt ihr hat es mit diesem seltsamen Verhalten von Doktor Pokel auf sich?
Ich weiß die Kapitel sind zwischendurch echt langweilig, aber das gehört einfach dazu und ich möchte die Gefühle von Keira möglichst genau beschreiben...
Ich hoffe es gelingt mir einigermaßen. Hoffentlich hattet ihr viel Spaß beim Lesen des Kapitels und eine schöne Nacht euch!
TatzeTintenklecks
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