17. Kapitel
Am nächsten Tag schwänzte Keira die Schule. Im Notfall würde sie einfach sagen, dass es ihr noch nicht besser gegangen und sie deshalb lieber noch einen Tag Zuhause geblieben war.
Sie wollte sich mit Neo treffen, der, aus irgendeinem Grund ebenfalls nicht zur Schule musste. Keira wusste nicht einmal, ob er überhaupt zur Schule ging.
Jedenfalls kam sie auf seiner Bitte hin zum örtlichen Bahnhof und wartete beinahe eine Stunde. Genervt stand sie am Bahnsteig, den Neo ihr genannt hatte, lief unruhig hin und her und sah dabei immer wieder auf die Uhr. Wenn jemand, den sie kannte, sie jetzt sah, dann wäre klar, dass sie bloß schwänzte.
Endlich kam Neo. Er starrte auf ein kleines Etwas, dass Keira beim Näherkommen als die Postkarte erkannte.
Er rannte direkt in sie herein. Keira, die dachte, er würde vorher stehen bleiben, schwankte überrascht. Sie konnte sich gerade noch so fassen, ohne auf die Gleisen zu stürzen.
„Neo! Pass auf, wo du hinläufst!", fauchte sie ihn an, imaginären Schmutz von der Hose klopfend.
„Tut mir leid, war in Gedanken", erklärte Neo und ließ schnell die Postkarte in seine Tasche verschwinden.
„Sag mal, wo warst du? Warum kommen alle Kerle, die wollen, dass ich zu ihnen komme, zu spät? Ich warte hier schon seit einer geschlagenen Stunde!"
„Tut mir leid, es ging nicht eher. Und was meinst du mit »alle Kerle«?" Neo wirkte sehr müde, aber das war Keira auch. Und schlechte Laune hatte sie ebenfalls.
„Ist egal", wimmelte sie ihn harsch ab. „Was ist jetzt mit der Bahn? Wenn wir jetzt noch eine Stunde warten, hau ich ab und gehe lieber zur Schule!"
Trotz Keiras offensichtlich genervter Stimmung, lachte Neo. Ein warmes, dunkles Lachen. „Also wirklich Keira Lane", tadelte er. „Schwänzt du etwa?"
Keira verschränkte die Arme: „Das Gleiche könnte ich dich fragen."
„Ich geh nicht mehr zur Schule."
„Ach."
Kurze Stille, während Keira verwirrt versuchte sich vorzustellen, nicht zur Schule zu gehen. Natürlich war es die pure Folter, aber es gehörte auch irgendwie zum Alltag und schenkte ihr ein wenig Normalität in ihrem Leben.
„Der Zug kommt. Wir müssen fast anderthalb Stunden fahren. Vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen, du siehst müde aus."
Keira schnaubte und verkniff sich einen Kommentar zu seinen tiefen Augenringen, die trotz seiner dunklen Haut bestens zu sehen waren. „Danke." Sarkastisch sah sie ihn an, überlegend, ob der Grund, dass Neo sie bat, ein wenig zu schlafen, ihre schlechte Laune war.
Die Tatsache, dass ein dicker Mann Keira beim Einsteigen beinahe in die Spalte zwischen Bahn und Bahnsteig schubste, hob ihre Laune nicht wirklich.
Auch einschlafen konnte sie lange Zeit nicht, denn ein Mann telefonierte so laut, dass jeder im Abteil mitbekam, wie wichtig er war. Neo musste sie zurück halten, denn sonst wäre sie auf ihn losgegangen.
Trotzdem konnte sie sich nicht zurück halten, ihn genervt zu fragen: „Können Sie freundlicherweise etwas leiser telefonieren, manche Menschen wollen nicht unbedingt wissen, was Sie geschafft oder nicht geschafft haben!"
Der Mann sah sie zwar befremdet an, telefonierte jedoch tatsächlich weniger laut. Dann konnte Keira endlich für eine Stunde die Augen schließen. Fast sofort fiel sie in einen leichten Schlaf, der ab und zu durch das Ruckeln des Zuges unterbrochen wurde, aber dann schlief sie immer wieder gleich ein.
Als Neo sie schließlich weckte, weil sie gleich aussteigen mussten, fühlte sie sich besser. Zwar noch immer müde, aber nicht mehr dieses unerträgliche müde, sondern diese Müdigkeit, die man jeden Tag nach dem Aufstehen hatte, wenn man wusste, dass man gleich zur Schule (oder zur Arbeit) musste.
Neo zog die noch immer ein wenig verschlafene Keira aus dem Zug, über den überfüllten Bahnhof, hinaus auf die Straße.
Keira wusste nicht, wohin sie gingen, sie wusste auch nicht, wo sie waren, aber sie vertraute Neo jetzt einfach mal. Sie ließ sich mitziehen und achtete nur darauf, nicht auf die Straße zu stolpern oder Neo zu verlieren. Zwar hatte dieser ihr Handgelenk fest umklammert, doch wenn eine Menschenmenge auf sie zu kam, mussten sie ab und zu in verschiedene Richtungen ausweichen.
Keira wusste nicht, wie weit sie gelaufen waren, da winkte Neo plötzlich ein Taxi heran und stieg mit ihr zusammen ein. Er gab eine, ihr unbekannte Adresse, an und der Taxifahrer fuhr schweigend los.
„Warum sind wir nicht gleich in ein Taxi gestiegen?", murmelte Keira mehr zu sich selbst und starrte aus dem Fenster.
„Ich wollte, dass du ein bisschen wach wirst und etwas von der Stadt siehst. Aber müde siehst du noch immer aus und ich bezweifle, dass du in dem Gedränge irgendetwas außer Menschen gesehen hast..."
Sie zuckte leicht mit den Schultern und blickte ihn dann an.
„Du hast mir nicht gesagt, wohin wir gehen." Fragend sah sie ihn an.
„Wir haben hier mal gewohnt. Ich möchte dir meinen Lieblingsplatz zeigen. Dafür müssen wir aber aus der Stadt fahren."
„Oh. Okay." Etwas anderes wusste sie nicht zu sagen. Den Rest der Fahrt starrten beide aus den Fenstern aus ihrer Seite, wobei Keira versuchte den seltsamen Geruch, der im Taxi beinahe greifbar war, zu ignorieren.
Endlich stiegen sie in einer unscheinbaren Straße aus. Hier war es ganz anders als im Zentrum der Stadt. Es wirkte eher wie ein kleines, verschlafenes Dörfchen, aber Neo führte sie, nachdem er das Taxi bezahlt hatte (zum Glück verlangte er nicht, dass Keira etwas dazu legte, denn ihr letztes Geld war für ihr Ticket draufgegangen) weiter, bis die Straße scheinbar ins Nirgendwo führte.
„Wir müssen laufen, nicht wahr?!", wollte Keira wissen, die zwar die frische Luft nach dem Taxi genoss, aber keine Lust auf einen großen Fußmarsch hatte.
„Ja!", lachte Neo. „Es sei denn..." Er musterte sie.
„Sag mal wie viel wiegst du?"
Keira sah ihn empört an. „So etwas fragt man eine Dame nicht!" Neo lachte wieder, diesmal lauter und schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, dass Keira so war wie sie war.
„So meinte ich das doch überhaupt nicht. Ich frage mich nur, ob ich dich tragen soll, so müde wie du immer noch aussiehst..."
„Ach Quatsch, ich kann schon selbst laufen", erklärte Keira bestimmt.
„Okay."
„Aber ich weiß dein Angebot zu schätzen...", fügte sie noch hinzu und bekam immer weniger Lust zu laufen.
„Sag mal, wie lang müssen wir ungefähr laufen?", fragte sie und starrte die Straße an, die scheinbar ins Endlose führte.
„Hm. Vielleicht zwei Kilometer, aber das geht schnell vorbei und..."
„Okay!", unterbrach Keira ihn. „Aber pass auf, ich bin schwer."
Neo grinste belustigt und ließ zu, dass sie mühselig auf seinen Rücken kletterte.
„Also, wenn du schwer sein sollst, dann weiß ich ja nicht, was du unter schwer verstehst. Du bist leicht wie eine Feder!" Zum Beweis sprang er einmal in die Luft. Keira wurde dabei gründlich durchgeschüttelt.
Die Augen verdrehend sagte sie: „Na dann sollte es ja nicht so schwer zu sein, zu galoppieren! Hü hott, Pferdchen!" Enthusiastisch trat sie ihm in die Rippen, was ihn aufkeuchen ließ.
„Aber bitte ohne Sporen!", meinte er und fing langsam an loszutrotten. Keira plapperte ihn dabei voll, erzählte Witze, die sie schon einmal gehört hatte, wobei sie sie nie zu Ende erzählte, weil sie immer vorher lachen musste. Kurz gesagt: Sie fühlte sich mehr als nur gut und es war schön mal wieder so richtig lachen zu können.
Ab und zu trieb Keira Neo an, schneller zu laufen, bis er am Ende wirklich fast rannte und keuchte wie nach einem Marathon.
Vielleicht war es das ja auch, denn, egal wie schwer Keira angeblich nicht war, selbst nach so einer Strecke musste sie ihm vorkommen wie ein Sack Backsteine. Deshalb war Keira so gnädig und stieg kurz vor dem Ziel (was Neo stark hervor hob) von seinem Rücken.
Sie waren an einem kleinen Wald angelangt, der ziemlich dicht aussah. Plötzlich hatte Keira ein murmliges Gefühl im Bauch.
„Aber verschleppen willst du mich nicht, oder?!", scherzte sie und sah Neo an, der ein ernstes Gesicht machte.
„Natürlich will ich das. Nur dafür habe ich dich den ganzen Weg hierher getragen, immerhin hätte ich dich ja unmöglich schon vorher entführen können. Aber jetzt werde ich dich in den Wald verschleppen und dich quälen, weil ich eben Neo der Böse bin!" Er versuchte sich an einem Bösewichtslachen, wie sie immer in Filmen zu hören waren. Dies endete schnell in einem richtigen Lachen.
Keira verdrehte die Augen. „Du bist unmöglich."
Grinsend zuckte er die Schultern. „Ich weiß, unmöglich witzig und gut aussehend, ist für manche einfach zu hoch."
„Zeig mir einfach, was du mir zeigen wolltest!", sagte sie trocken.
Neo deutete eine einladende Geste in Richtung Wald an: „Ladys first!"
„Oh nein!", widersprach Keira. „Du gehst zuerst, du könntest mich hinterrücks erstechen."
Seufzend lief Neo vor. Er bahnte ihnen einen Weg durch das dichte Gestrüpp. Sie liefen immer weiter. Die Bäume waren eher klein: Laubbäume. Aber die anderen Pflanzen rankten sich ziemlich hoch, nicht nur einmal fluchte sie lautstark, weil sie beinahe in einen fast schulterhohen Brennnesselstrauch gestolpert wäre.
Keira dachte schon, sie würden überhaupt nicht mehr ankommen, da lichtete sich der Wald urplötzlich.
Die Bäume wurden weniger, das Gestrüpp verschwand.
Keira ließ ihren Blick jenseits der Bäume schweifen. Ihr stockte der Atem. „Wow!", hauchte sie. Ein wunderbarer Anblick erbot sich ihr. Es sah aus wie in einem Traum oder einem Film.
Eine grüne Wiese erstreckte sich scheinbar bis in die Weiten des Horizonts. Auf der hügeligen Fläche verteilten sich Kirschbäume, die mit ihren rosa Blüten, noch mehr Farbe in das Bild einbrachten. Denn so wirkte das Ganze insgesamt: wie ein gemaltes Bild nach einer Vision eines großartigen Künstlers.
Ein paar der Kirschblüten flogen, vom Wind getragen, durch die Luft. Verzückt beobachtete Keira wie einige auf der Wiese landeten und andere wieder hochgehoben und davon getragen wurden.
„Schön, hm. Meine Mutter hat diesen Ort entdeckt, sie kam oft mit mir hierher." Als Keira Neo ansah, lächelte er wehmütig.
„Warum bist du abgehauen, wenn du deine Mutter offensichtlich so liebst?", fragte Keira vorsichtig.
Neo sah sie mit traurigen, hellblauen Augen an. „Weißt du, manches geht über die Liebe hinaus. Natürlich sagen alle immer »Liebe ist die stärkste Macht« und so einen Kitsch. Aber manchmal ist das eben nicht so. Manche Leute, ich zum Beispiel, sind so egoistisch und erlauben sich, anders zu urteilen. Ich habe in meinem Sinne gehandelt. Und ich würde es wieder so machen, weil es die beste Entscheidung für mich war. Manchmal müssen wir erkennen, dass wir auch für uns sorgen müssen, wir können nicht nur an andere denken. Das habe ich erkannt und bereuen tue ich es nicht..."
Blinzelnd sah Keira ihn an, beeindruckt von seiner kleinen Rede.
Stöhnend rieb Neo sich den Nacken, wie um die Last von seinen Schultern zu wischen. „Wir sollten über etwas Fröhlicheres reden. Immerhin soll das hier ein entspannter Tag werden."
Keira nickte zustimmend, aber in Wahrheit ließen Neos Worte sie nicht los.
Sie wateten durch das knöchelhohe Gras, das ab und zu höher wurde.
Neo ließ sich schließlich unter einem der Kirschbäume nieder, der ihnen ein wenig Schatten spendete. Es war zwar sonnig und warm, aber noch lange nicht wie Sommer, weshalb das Gras angenehm kühl war. Neo lud sich den Rucksack, den er schon die ganze Zeit mit sich schleppte, vom Rücken.
Keira sah ihm dabei zu, wie er sich neben sie fallen ließ und im Rucksack kramte. „Brötchen?", bot er ihr an und nickend nahm sie eines entgegen.
„Was ist drauf?", fragte Neo und holte sich ebenfalls ein Brötchen aus dem Rucksack, welches, genau wie ihres es gewesen war, in einer Tüte lag.
„Du hast mir das Brötchen gegeben, müsstest du doch wissen was drauf ist", sagte sie und biss herzhaft hinein. „Es ist Käse. Hier ist Käse drauf."
„Okay, dann müsste ich jetzt Salami haben..." Nachdenklich biss er hinein.
Keira verdrehte die Augen.
„Na, jetzt wo wir Gewissheit haben, ist ja alles super", erklärte sie ironisch. „Hast du auch was zum Trinken bei?"
Der Junge nickte.
„Ich habe Wasser und Orangensaft. Was möchtest..."
„Orangensaft!", unterbrach Keira ihn.
„...du?"
„Orangensaft", erklärte sie noch einmal.
„Na gut." Er kramte noch einmal kurz. Keira fragte sich, wieso, denn so tief konnte der Rucksack auch nicht sein.
Nachdem sie ihren heiß geliebten Orangensaft bekommen hatte und beinahe die ganze Flasche allein austrank, was Neo aus irgendeinen Grund unglaublich lustig fand (worauf sie erklärte, dass man eine Sucht schlecht eindämmen konnte), redeten sie eine ganze Weile. Ein richtiges, einzelnes Thema gab es nicht. Stattdessen wechselten sie die Themen so schnell wie manche Leute ihre Kleider. Im einen Moment erzählte Keira noch, dass sie Orangensaft mochte, im nächsten ging es darum wie man Gold verstecken könnte.
„Also das einzige, was ich an Gold besitze, ist das hier." Sie deutete auf ihr Armband. „Meine Mutter hat es mir kurz vor ihrem Tod geschenkt. Das würde ich nie im Leben verstecken, es ist ein Teil von mir..."
Auffordernd streckte Neo die Hand aus und nach kurzen Zögern streifte sie sich das Armband ab und legte es in seine Handfläche.
Ihr Freund - ja mittlerweile fand sie, dass sie ihn so nennen konnte - drehte das Armband ein wenig hin und her und betrachtete es genau.
„Der mittlere Anhänger ist verbogen", stellte er fest.
„Hm. Damit habe ich mal einen Typen fast erstochen, also pass lieber auf."
„Dass du mich nicht erstichst?", fragte Neo. „Oder, dass ich mich selbst nicht ausversehen schneide?"
Nach kurzen Überlegen, meinte Keira schlicht: „Beides."
Sie suchte sich eine möglichst weiche Stelle und legte sich hin. So konnte das Mädchen perfekt in die rosa Blüten sehen. Manche von ihnen hatten sich, wie sie nun bemerkte, schon in ihrem schwarzen Zopf, den sie heute trug, verhangen.
Gedankenverloren zupfte sie Grashalme aus der Erde, während Neo weiter ihr Armband betrachtete. Sie wusste nicht, was so interessant daran war, es war nur ein Armband. Zwar mit den gespeicherten Erinnerungen an eine Tote, aber davon gab es viele Sachen auf der Welt, das Armband war nichts Besonderes. Jedenfalls nicht für Neo, nur für sie, Keira, war es von Bedeutung und sie würde es garantiert nie hergeben.
Nach einer Weile legte Neo Keira das Armband wieder um, was sie erst nicht bemerkte und deshalb zusammen zuckte.
„Schon gut. Ich will dich nicht damit erstechen. Ich mach es dir nur wieder um", sagte er belustigt. Keira murmelte etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es war, und ließ zu, dass er ihr den Verschluss einhakte.
Sie hatte es nicht richtig bemerkt, aber jetzt wo sie es wieder um hatte, bemerkte sie, dass es ungewohnt gewesen war das kühle Metall nicht auf der Haut zu spüren.
Eine Weile sagten sie nichts, Neo legte sich ein Stück von ihr entfernt hin und zusammen starrten sie die Blüten an, die langsam und trudelnd nach unten schwebten.
Dann begann Keira zu reden, ohne es richtig mitzubekommen. „Wie ist dein Vater gestorben?"
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sie verwirrt musterte: „Ich habe dir doch gesagt, dass mein Vater nicht tot ist. Er ist nur nicht da."
„Ich weiß. Aber du hast gesagt, für dich wäre er tot. Hast du je darüber nachgedacht, wie er denn gestorben wäre? Ergibt das, was ich hier sage, überhaupt Sinn?" Unsicher lächelnd blickte sie zu ihm herüber, doch er schaute nur nachdenklich weiter nach oben.
„Es ergibt Sinn. Eigentlich sogar sehr viel." Noch immer sah er die Äste des Kirschbaumes an. „In der ersten Klasse habe ich mir wirklich was dazu ausgedacht. Und in den nachfolgenden Klassen auch... Mit sechs habe ich das alles natürlich noch nicht verstanden. Ich habe wirklich an meine Geschichten geglaubt. Wann immer mich jemand fragte, was denn mit meinem Vater sei, sagte ich, er wäre ein Geheimagent und wäre bei seiner Mission, die Erde zu retten, gestorben. Natürlich hatte er sie vorher gerettet. Meine Lehrerin glaubte diese Geschichte nicht, aber sie entnahm meinen Geschichten, dass mein Vater tot sein musste. Sie sprach meine Mutter an einem Elternabend darauf an und sie musste meine Geschichten, vor allen anderen Eltern, richtig stellen. Danach schärfte sie mir ein, die Wahrheit zu sagen. Jetzt sag das mal einem sechs-Jährigen. Jedenfalls dachte ich mir immer neue Geschichte aus, die ich erzählte, wenn man mich fragte. In jeder war er ein Held, der unglücklicherweise ums Leben kam. Nur meinen vertrautesten Freunden erzählte ich, sehr viel später, die Wahrheit. Bis heute waren das zwei, naja mit dir drei, aber ich bin sicher, dass sie es weiter erzählt haben." Er zuckte mit den Schultern, was sie beide an diesem Tag ziemlich oft taten.
„Und was war deine Lieblingssgeschichte?", fragte Keira abwesend und stellte sich noch immer die verschiedenen Szenarien vor: ein kleiner Neo, der mit leuchtenden, hellblauen Augen von den Abenteuern seines Vaters, der ihn und seine Mutter verlassen hatte, erzählt; wie er mit ernstem Gesicht, zwei seiner besten Freunden erzählt, was wirklich passiert ist.
„Ich weiß nicht." Und dann sagte er mit leuchtenden Augen, wie Keira sie sich auch bei dem jüngeren, unschuldigeren Neo vorgestellt hatte:
„Oder doch. Ich glaube meine liebste Lüge war die, in der er eine Bombe entschärfen wollte, es aber nicht schaffte und dann aus einem Flugzeug, zusammen mit der Bombe, sprang, um die anderen Menschen zu retten." Er lachte, als er sah, wie Keira die Augenbrauen hochzog. „Ich hatte eine große Fantasie."
„Wie sind eigentlich deine Eltern genau gestorben?", fragte er vorsichtig nach einiger Zeit. Das Lächeln, dass soeben noch auf ihren Lippen lag, wurde kleiner und schwand dann ganz.
„Das ist schon wieder so ein mieses Thema", sagte Keira und seufzte. „Aber vermutlich ist es nur fair, wenn ich es dir erzähle, du hast mir ja auch deine Geschichte erzählt..."
Neo sah aus, als bereue er die Frage und gleichzeitig wirkte er neugierig. Keira ließ sich Zeit - und dann begann sie zu erzählen.
„Wir waren bei meiner Großmutter, sie lebte in einem Altersheim. Sie ist vor einigen Monaten gestorben. Wir fuhren erst spät in der Nacht los, eigentlich ein übereilter Aufbruch, denn ich hatte einen Streit ausgelöst, nachdem meine Oma eingeschlafen war. Ich sagte, sie solle nicht dort leben, sie könne mit zu uns ziehen, da hätte sie es besser und sie hätte Familie um sich herum. Meine Eltern waren nicht direkt dagegen, aber sie wollten auch nicht das machen, was ich ihnen sagte. Ich war wütend und dumm und..." Keira musste schlucken. Sie schmeckte alle Erinnerungen, all den Schmerz, fühlte ihre Trauer und schmückte ihre Erzählung mit diesem pelzigen, sauren Geschmack auf ihrer Zunge und diese unerträgliche Schwäche ihres, nur noch zitternd pochendes, Herzens. All diese Empfindungen wog sie vorsichtig in ihren Armen hin und her, legte sie dann auf ihre Stimme, drückte sie sanft auf die feinen Fäden des Erzählens. Sie tat es, aber ihre Stimme klang hohl, hohl und leer.
„Jedenfalls fuhren wir dann los. Es war ein weiter Weg nach Hause. Eigentlich wollten wir erst am nächsten Tag fahren, weshalb ich darauf bestand einen Zettel zu schreiben, in dem stand, dass wir vorzeitig aufgebrochen waren. Meine Großmutter war dement, wahrscheinlich konnte sie sich sowieso nicht an unseren Besuch erinnern. Wir fuhren - im Auto fing der Streit erneut an, ganz anderes Thema. Irgendwann hatten wir uns dann auf ein zorniges Schweigen verlegt. Es war meine Schuld. Ich begann wieder damit, mit neuen Argumenten, die ich mir während der Stille zurecht gelegt habe. Wir befanden uns auf dem Weg zur Stadt, auf einer langen, geraden Straße. Ein Auto kam auf uns zu. Mein Vater war abgelenkt, weil ich ihn wieder anschrie. Er vergaß das Fernlicht auszumachen. Ich weiß nicht ob es daran lag. Vielleicht auch daran, dass das Auto viel zu schnell fuhr. Jedenfalls kam das Auto, oder unseres, ehrlich ich kann es dir nicht sagen, von der jeweiligen Fahrspur ab. Wir knallten fontral ineinander. Ich weiß noch, dass ich kurz vor dem Aufprall irgendetwas spürte. Soetwas wie ein Kribbeln am ganzen Körper und dann diese unerträgliche Stille. Erst als der Knall kam, mit dem wir zusammen fuhren, wurde die Stille unterbrochen, aber in diesem Moment kam sie mir wie eine Ewigkeit vor. Als würde ich einen ersten Einblick in den Tod bekommen. Ich glaubte, dort würde mich Leere erwarten, Leere und Stille. Aber dann, als wir zusammen knallten, wusste ich, dass es nicht nur eine Einbildung war. Ich glaube, ich war tot. Die Autos wurden zusammen gedrückt, ich bekam keine Luft, meine Sicht wurde schwarz, ich hörte mich selbst und meine Eltern schreien. Und dann war da nichts mehr außer Stille. Ganz leise wie auf dem Friedhof. Ich wusste, warum, denn der Tod war lautlos. Lautlos und sanft und... gut. Es ist die Bestimmung eines jeden Lebewesens irgendwann zu sterben und in diesem Augenblick hatte ich meine erfüllt.
Es fühlte sich an, als wäre eine unerträgliche Last von meinem Schultern gefallen, ich fühlte mich federleicht. Dann setzte plötzlich Musik ein. Grausame Klänge, die mich beinahe taub machten nach der Stille, obwohl sie ganz leise waren. Sie zeigten mir Leid, Trauer und Wut. Die Klänge des Lebens. Ich wachte auf und war wieder lebendig. Ich fand mich in einem Krankenhaus wieder. Ärzte standen um mich herum und sahen ungläubig auf mich herab. Ich hätte sterben müssen, denn meine Eltern waren es, sie hatten nicht überlebt. Später erfuhr ich, dass meine Eltern noch an Unfallstelle gestorben waren. Es sei ein Wunder, dass ich noch lebe, denn ich lag mehrere Wochen im Koma und hatte zwischendurch immer wieder Herzaussetzer. Ich konnte noch nicht sprechen, der Schock war zu groß und außerdem glaubte ich stumm geworden zu sein, aber hören konnte ich sehr gut. Viel zu viel, dass ich hörte und immer wieder die grässliche Melodie, die mich aus meinem endlosen Schlaf aufweckte. Noch heute habe ich Albträume von ihr. Der Mann mit dem wir zusammen gestoßen waren, so sagten sie mir auf meiner Bitte hin, sei ebenfalls gestorben. Im Krankenhaus. Ich fragte, warum er so schnell gefahren ist." Keira schluckte erneut, sie kämpfte bereits mit den Tränen, aber sie wagte es nicht ihren Redefluss zu unterbrechen, aus Angst danach nie wieder sprechen zu können.
„Natürlich wollten sie mir erst nichts sagen, sie dachten wohl, ich könne ihm die Schuld für alles geben. Doch das tat ich nicht, ich ganz allein war Schuld. Irgendwann schnappte ich auf, dass der Mann auf den Weg ins Krankenhaus gewesen war. Er ist angekommen, nur leider nicht im richtigen Auto. Seine Frau gebar ihr Kind und er wollte so schnell wie möglich zu ihr, weshalb er auch so raste. Ich erfuhr also, dass nicht nur ich meine Familie verloren hatte, sondern eine andere auch ihren Vater und Mann. Nach einiger Zeit, ich weiß nicht wie lang, wurde ich entlassen." Sie lachte bitter auf.
„Lustig oder?! Ich kann mich an alle Einzelheiten erinnern, aber ich weiß weder wie lang ich im Krankenhaus geblieben war, noch ob mich je jemand besucht hatte oder wann genau ich bei meiner Tante und meinem Onkel einzog. Ich erzählte ihnen irgendwann, was passiert war, vor diesem Unfall. Sie sprechen es nie aus, aber ich weiß, dass sie mir die Schuld für den Unfall gaben." Sie stockte.
„Und so endete die traurige Geschichte von Keira Lane, denn die Alte ist tot. Hier vor dir steht die neue Keira Lane, die ihr altes Leben leider nie vergessen wird", beendete sie.
Niemand sagte etwas, sogar die Natur schien kurz in ihrer Geschäftigkeit inne zu halten. Keira mochte diese Stille nicht, es schien auf grausame Art und Weise ihr Erzähltes zu unterstreichen.
Lange Zeit kam keine Reaktion von Neo. Keira dachte es wäre zu viel gewesen, sie hätte schließlich nicht alles erzählen müssen, diese ganzen Details. Es hätte vollkommen gereicht einfach zu sagen, dass ihre Eltern bei einem Autounfall starben. Aber irgendwie...hatte es gut getan. Es hatte gut getan, darüber zu reden, sich all diesen Schmerz von der Seele zu laden. Es schien ihr fast so, als wäre ihre Last nicht mehr ganz so schwer. Vielleicht hatte Neo ihr unbewusst etwas abgenommen. Jedenfalls war Keira froh, es ihm anvertraut zu haben.
Nichtsdestotrotz: Das von seiner Seite nichts kam, machte sie nervös. Sie wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, da tat er etwas Unerwartetes: Vorsichtig, als könne er sie verschrecken, rutschte er näher an sie heran. Er setzte sich auf und sah sie unsicher an. Dann streckte er ihr die Arme entgegen. Erst zögerlich tat sie es ihm gleich und setzte sich hin.
Es war als würde ein Damm brechen. Im einen Moment sah Neo sie noch zaghaft fragend an, im nächsten hielt er eine schluchzende Keira in den Armen.
Und sie hasste sich dafür. Nicht dass es ihr unangenehm war, nein. Sie hatte das Gefühl, Neo vertrauen zu können. Aber sie hatte mit diesem Thema, so glaubte sie, eigentlich schon längst abgeschlossen. Doch jetzt lag sie heulend in Neos Armen, obwohl sie sowieso nichts am Tod ihrer Eltern ändern konnte.
Keira wusste nicht genau wann, aber irgendwann begann Neo ihr sanft über das Haar zu streichen, was sie aus einem unbestimmten Grund ungemein beruhigte.
Schließlich lag sie einfach nur da, mit geröteten Augen, noch immer ein wenig unter ihren Schluchzern bebend, aber froh, dass sie Neo vor einigen Tagen begegnet war.
Sie musste eingeschlafen sein, denn Neo stupste sie wach. Mittlerweile lag sie neben ihm im Gras und eben dieses kitzelte ihren Nacken. Eine steife Brise war aufgekommen und Keira dachte, Neo hätte sie geweckt, damit sie gehen könnten, weil das Wetter schlecht geworden ist. Aber diese Vermutung erwies sich bei seinen nächsten Worten als falsch:
„Da drüben ist ein Mann. Er beobachtet uns schon eine Weile..." Erschrocken fuhr sie nach oben und stieß dabei fast mit Neos Kopf zusammen. Ein Mann?!
Tatsächlich! Dort, am Waldrand, stand jemand und starrte sie direkt an. Von weitem konnte sie keine Einzelheiten ausmachen. Jedoch musste sie das nicht, denn der Mann kam auf sie zu! Er setzte sich langsam in Bewegung, als hätte er alle Zeit der Welt. Keira hatte das Gefühl, dass sie das nicht hatte...
Aus einem Instinkt heraus sprang sie auf und zog Neo mit. Nun konnte sie den Mann besser erkennen. Und sie hätte eigentlich gehofft, sein Gesicht nie wieder sehen zu müssen. Ihr Körper zuckte noch immer vor Elektrizität, wenn sie daran dachte. Der Organisations-Typie hielt sich eine Art Funkgerät an den Mund und sprach herein. Keira verfiel in Panik.
Für einen kleinen Moment kam ihr die lächerliche Idee sich hinter dem Baum zu verstecken, aber ihr müdes Hirn fand sogleich einen besseren Vorschlag: Rennen!
Und genau das tat sie, so schnell sie ihre Beine trugen und den verwirrten Neo hinter sich her schleifend.
Ein neues Kapitel ist da (wurde ja auch Mal Zeit)! Und endlich wird mal eine (zwei, drei?) Frage/n beantwortet 🎉
Ich habe genauso sehnsüchtig auf das Kapitel gewartet wie ihr, hoffentlich. Die Grundidee war da, aber die Inspiration fehlte irgendwie und dann musste ich auch noch dauernd lernen (Mathe fiel heute nicht so gut aus...)
Also, was den Tod ihrer Eltern betrifft: Ja, ich weiß, viele denken jetzt: Klischeeeeeee!
Aber das war von Anfang an schon so geplant gewesen und ich wollte es nicht ändern, weil es anderen nicht gefallen könnte. Zumal es ja wirklich oft zu solchen Unfällen kommt und dieser Unfall und Keiras (angebliche) Schuld noch sehr wichtig sein werden.
Wie immer beantworte ich sehr gerne all eure Fragen und ich wollte noch irgendetwas schreiben, das habe ich aber gerade vergessen...😕
Jedenfalls hoffe ich euch hat das Kapitel gefallen, es war das längste bisher überhaupt, mit 4379 Wörtern (ohne mein Gelaber natürlich 😇)
Ich weiß nicht, wann jetzt ein neues Kapitel kommt, kann auch sein, dass es wieder erst so spät kommt (sorry), aber ich denke es lässt sich irgendwie einrichten es noch zu schreiben, da wir bald mit Allem durch sind...👍
Bis dahin: Ciao Kakou! (Nicht gut, okay 'tschuldige, mein Hirn ist irgendwie verdorrt...)
Eure
TatzeTintenklecks 😘
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