Kapitel 33 - Ava und die schlechteste Nebenrolle, die es zu besetzen galt
Levy betrachtete mich kühl über die glimmende Spitze seiner Zigarette hinweg.
„Und du willst mir jetzt weismachen, dass er nicht da ist?"
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Es war nicht schwer zu erkennen, wie zornig Levy gerade wurde und dass uns der nächste heftige Streit bevor stand. Das galt es unbedingt zu vermeiden, trotzdem konnte ich auf das heutige Event nicht verzichten. Ich probierte es mit Manipulation.
„Was willst du eigentlich von mir? Ich habe diese Geschichte beendet. Du solltest mir vielleicht wenigstens glauben, dass ich sie nicht gleich wieder neu beginnen werde."
Levys maskenhafter Gesichtsausdruck änderte sich kaum.
„Keine Ahnung was ich von dir will", erwiderte er.
„Was soll denn das jetzt heißen?"
„Denk drüber nach Ava! Du hast alles zerstört, was wir uns aufgebaut haben. Ich muss mir wirklich erst darüber klar werden, was ich von dir will."
Keine Frage, meine Gefühle waren deutlich durcheinander gewirbelt worden, und Levy gegenüber hatten sie sich stark abgekühlt. Trotzdem erschreckte und verunsicherte mich seine Äußerung.
„Hatten wir nicht vereinbart, dass wir an unserer Beziehung arbeiten wollen?"
Levy zuckte die Achseln und sagte kühl:
„Doch, das hatten wir wohl. Mal sehen, ob und das gelingt."
***
Ich stand vor dem Wohnzimmerspiegel, unschlüssig, was ich anziehen sollte. Ich wusste nicht einmal mehr, ob es eine gute Idee war, auf dieses Fest zu gehen, denn im Grunde konnte ich Levys Aussage doch nur zustimmen - ich hatte alles zerstört. Wem wäre also geholfen, wenn ich heute Abend Chase über den Weg liefe?
Mein Spiegelbild starrte mir traurig entgegen. Es half nichts, dass das Mitternachtsblau des Oberteils meine Augen regelrecht zum Strahlen brachte und der raffinierte Schnitt meine geraden, athletischen Schultern betonte. Wer würde es überhaupt bemerken? Ich schloss die Knopfleiste der ausgestellten Jeans und drehte mich kritisch einmal um die eigene Achse. Natürlich war mir bewusst, dass, trotz aller Vorbehalte, mich am Ende doch nichts abhielt, heute Abend ins Harrys zu fahren.
Levy war im Bad, als ich mich auf den Weg machte. Angespannt setzte ich mich in meinen Wagen und würgte ihn zwei Mal ab, bevor ich langsam durch die abendlichen Straßen fuhr. Bildete ich es mir ein oder waren weniger Familien in ihren Gärten oder auf ihren Veranden? Hatte nicht letztes Jahr um diese Zeit fast in jedem zweiten Haus ein Barbecue stattgefunden?
Schneller als erhofft fand ich einen Parkplatz. Einige Minuten saß ich unschlüssig da, beobachtete ein junges Pärchen, das Hand in Hand an mir vorbei schlenderte. Schließlich stieg ich aus.
Ich hörte die Musik schon weit bevor ich das Harrys erreichte, dessen ansonsten schmaler Vorplatz mit Hilfe einer Straßensperre - selbstverständlich legal - zu einem recht großen Partyareal umfunktioniert worden war. Palmen in dicken Holzkübeln verliehen dem Ambiente den mediterranen Sommerlook. Damit niemand sich in das kleine Lokal quetschen musste - allenfalls um das WC aufzusuchen - hatte der Wirt draußen eine kleine Bar errichtet, in einem Holzverschlag nur, es gab aber im Grunde alles, was man auch drinnen hätte bestellen können.
Mia erwartete mich bereits. Sie stand ganz in der Nähe des Getränkeverkaufs, eine Margarita in der Hand.
„Hey,", sagte ich ein wenig atemlos, während wir uns umarmten.
Jeremiah, offenbar diesmal in sehr guter Laune, drückte mich ebenfalls an sich, bevor er sich wieder Jamie und Marcus zuwandte, mit denen er in ein Gespräch über das anstehende Spiel der San Francisco 49ers vertieft gewesen war.
„Ich bin so gespannt, wie sie sich am 03. September schlagen werden, wenn sie gegen die New Orleans Saints ran müssen", hörte ich Marcus sagen. Postwendend kamen die Antworten synchron von Jamie und Jeremiah:
„Steve Young macht das locker."
Ich hatte keine wirkliche Ahnung, wer Steve Young war, glaubte aber, dass es ein Spieler der 49ers sein musste.
„Wo ist Chase?", fragte ich Mia leise.
„Er ist im Harrys drinnen, glaube ich. Aber, hör mal Ava, also..."
„Ava? Magst du auch was trinken, ein Bier vielleicht?", unterbrach Jamie unsere kurze Unterredung.
„Ja gern, aber bitte lieber eine Cola, ich bin mit dem Auto da."
Jeremiah legte von hinten den Arm um Mia und rief:
„Das nächste Spiel der 49ers schauen wir alle bei uns, oder was meinst du?"
Mia nickte zustimmend, beugte sich allerdings wieder mit einem dringlichen Gesichtsausdruck in meine Richtung. Und im selben Moment entdeckte ich Chase.
Er stand im Türrahmen des Harrys und beobachtete die Menschenmenge draußen. Ich konnte nicht leugnen, dass er unglaublich attraktiv aussah, obwohl er nur seine obligatorischen Jeans und ein weißes T-Shirt trug, das seine Sonnenbräune perfekt hervorhob. Mit den Haarsträhnen, die ihm lässig ins Gesicht fielen, wirkte er wie ein Surfer, der gerade vom Strand gekommen war.
Mein Herz fing bedrohlich an zu stolpern und ich bemerkte, wie die verräterische Röte meine Wangen färbte.
Seine Blicke schweiften über den Festplatz, bemerkten mich und hielten für den Bruchteil einer Sekunde inne. Dann glitten sie völlig unbeteiligt weiter.
Ich fühlte mich plötzlich vollkommen leer. Das konnte es aber nicht gewesen sein. Ich haderte mit mir selbst, ob ich nicht doch noch einmal das Gespräch mit ihm suchen musste. Doch just in dem Moment, als ich über meinen Schatten springen und geradewegs zu ihm laufen wollte, trat ein Mädchen hinter ihn, legte mit einer vertrauten Geste die Hand auf seinen Oberarm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Nein, bitte nicht, dachte ich verzweifelt
„Das war es, was ich dir sagen wollte!"
Mia sah mich mitleidig an, was alles noch schlimmer machte. Dieser traurige Blick, mit dem sie mich bedachte, ließ die Aussichtslosigkeit irgendwie noch realer erscheinen.
Die Band spielte Songs von Johnny Cash und Simon and Garfunkel, während Chase sich mit Hingabe diesem Mädchen widmete.
Jeremiah, Marcus und Jamie hatten längst einen Themenwechsel vorgenommen. Football war von der beängstigenden Krankheit verdrängt worden.
„In San Francisco überlegt man, eine Ausgangssperre zu verhängen, jedenfalls wenn noch weitere Menschen sich anstecken", hörte ich Marcus sagen, doch die ernsten Worte plätscherten an mir vorbei, wie ein ruhiger Bach, den man nur am Rande wahrnimmt, weil man den tosenden Wasserfall vor Augen hat.
Mia nahm mich am Arm und drängte mich zu einer Bank, die etwas abseits des Geschehens lag.
„Jetzt macht er eben wieder das, was er vorher auch schon gemacht hat. Vielleicht ist das aber gar nicht so schlecht für die Beziehung zwischen dir und Levy."
Sie versuchte, mich mit diesen Worten zu trösten und sie hatte Recht, keine Frage. Nur konnte ich mich über Chase Motivation, den Titel „Arschloch der Saison" zu gewinnen, nicht im geringsten freuen. Traurig hob ich die Schultern.
„Ist es denn wenigstens bei Euch etwas besser? Es sah zumindest danach aus."
„Ach, es ist mal so, mal so. Aber es stimmt schon, heute ist die Stimmung ganz gut und er bemüht sich eigentlich auch."
Das hatte ich bemerkt und ich gönnte es Mia von ganzem Herzen. In Partylaune brachte mich das trotzdem nicht. Stattdessen saß ich neben ihr auf der Bank, hielt mich mit beiden Händen an meiner kalten Cola fest und ließ meine Blicke immer wieder zu Chase wandern. So ganz gegen meinen Willen. Als hätten meine Augen ein Eigenleben entwickelt.
Mittlerweile war die Band zu Nancy Sinatras „These Boots are made for walking" übergegangen und danach versuchten sie sich an Janis Joplin.
Der Himmel hatte sich deutlich zugezogen, dichte Wolkenformationen verdeckten die Sterne. Ein kühler Wind erfasste meine nackten Arme, bis sie sich mit Gänsehaut überzogen.
Als die ersten Tropfen vom Himmel fielen, leerte sich der Festplatz dramatisch.
„Mia, lass uns nach Hause fahren, da braut sich was zusammen", sagte Jeremiah wenig später. Demonstrativ rieb er sich die Oberarme. Marcus und Jamie brachen ebenfalls auf.
Mia sah mich fragend an.
„Kommst du mit? Du kannst gern noch mit zu uns gehen."
Ich schüttelte den Kopf. „Danke, aber nein, ich bin einfach nicht in der Stimmung."
„Ich will dich nicht hier alleine lassen", insistierte sie.
„Wirklich, ich gehe bald, es ist völlig ok", versicherte ich ihr.
Zögernd schloss sie sich Jeremiah an, aber ich sah deutlich, dass sie sich nicht wohl damit fühlte. Trotzdem hätten mich keine zehn Pferde hier wegbewegen können.
Und so saß ich dort auf meiner harten Bank, deren metallene Sitzfläche sich schmerzhaft gegen meinen Po drückte und stalkte meinen Ex-Lover, wobei ich jedem abgehalfterten Detektiv Konkurrenz hätte machen können. Ich scannte die kleinste Bewegung, die Chase machte, analysierte die Art, mit der er den Kopf neigte oder beim Sprechen mit den Händen gestikulierte. Ich sah zu, wie er diesem Mädchen mit dem unspektakulären Gesicht und den Dauerwellen etwas so Lustiges erzählte, dass sie sich vor Lachen krümmte, und ich realisierte schmerzlich, dass er während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal zu mir herüber sah.
Mittlerweile war es fast halb drei Uhr nachts, nahezu alle Gäste hatten das Fest verlassen, und der kalte Regen vermischte sich mit meinen Tränen. Es kostete mich mehr Kraft, aufzustehen und zu gehen, als sitzen zu bleiben und mir noch mehr von dieser schlechten Soap-Opera zu geben, in der ich unfreiwillig die Rolle der tragischen Figur übernommen hatte. Doch irgendwann war selbst ich mir zu schade dafür, und überließ die regennasse Bühne dem neuen Liebespaar.
Als ich zu Hause ankam, waren meine Füße so kalt, dass zwei meiner Zehen sich regelrecht taub anfühlten. Achtlos warf ich meine Slingsandaletten in den Schuhschrank und schlüpfte aus meinen Sachen.
Levy schlief längst, während ich, verstohlen wie ein Dieb, zu ihm unter die wärmende Bettdecke kroch. Ich schämte mich dafür, dass ich jetzt bei ihm Trost suchte, den ich allerdings nicht fand. Stattdessen fühlte ich eine Leere, die mit der Kälte konkurrierte, die meinen gesamten Körper erfasst hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro