Ubbe: York
Ubbe war von der Idee auch noch York einzunehmen überhaupt nicht begeistert. Doch seine Brüder Ivar und Hvitserk bekamen den Hals nicht voll genug und mussten nun nach dem erfolgreichen Sieg über Wessex und den beiden Königen Ecbert und Ælle eine weitere Stadt im Norden Englands angreifen. Ivar war der Meinung, so würde es den Wikingern zukünftig leichter fallen, in England einzufallen und bald das ganze Land einzunehmen und zu besiedeln.
Doch Ivar war fast noch ein Junge und Ubbe war ganz und gar nicht von der Idee angetan, erneut unschuldige Menschen dafür töten zu müssen.
Dennoch zog er mit ihnen. Was blieb ihm auch anderes übrig. Sigurd war tot, Björn war zusammen mit Halfdan zum Mittelmeer aufgebrochen und König Harald hatte andere Pläne für sein Leben und war zurück nach Kattegat gesegelt. Ubbe hatte momentan keinen Ort, an dem er sein musste oder wollte. Also stand er seinen jüngeren Brüdern bei.
Es war ein Leichtes in die Stadt einzudringen. Die paar Bewohner, die sich im Inneren aufhielten wurden von den Wikingern überrascht und Ubbe war es gelungen, das Stadttor schnell für alle anderen Krieger zu öffnen. Ivar war ein schlauer Fuchs und hatte sich einen Feiertag ausgesucht, an dem sich alle Christen in der Kirche aufhalten und ihren Gott anbeten würden. So waren alle auf einem Haufen zusammengepfercht und Ivars Gefolgschaft würde York binnen weniger Stunden eingenommen haben.
Ivar fuhr mit seinem Streitwagen vor zur Kirche, Hvitserk und Ubbe erledigten auf dem Weg dorthin ein paar der unwissenden Bauern oder was auch immer ihre Berufung war. Ubbe wollte darüber gar nicht so genau nachdenken.
Schnell und gekonnt streckten sie die Männer nieder und kamen noch nicht mal richtig außer Atem an dem Kirchentor zum Stehen. Ohne lange zu warten betraten die Wikinger die heilige Stätte und schlichen sich zunächst an die Christen heran. Als sie dann schließlich bemerkt wurden und die erste Frau aufschrie, ging alles ganz schnell. Die Wikinger Krieger und Schildmaiden drangen vor und töteten jede einzelne Seele, die sich in diesem Gebäude aufhielt. Und es war ihnen gal, ob es sich um Frauen, Männer, Kinder, Kranke oder Alte handelte. Auch Ubbe war es egal. Er schlug schnell zu, weil er dieses Gemetzel endlich hinter sich haben wollte. Auch Hvitserk, fast schon wie in Trance, säbelte jeden der Christen um, die sich in seinen Weg stellten. Doch Ivar war der schlimmste der drei Brüder. Er kroch wie eine giftige Schlange auf den am Boden liegenden Priester zu und machte sich einen Spaß daraus, ihm sein Goldkreuz vom Hals runter zu reißen, es einschmelzen zu lassen und den Gläubigen in seinen Mund zu gießen. Ubbe war vieles gewohnt, doch was Ivar manchmal tat, ließ selbst ihn erschauern.
Als der Sieg endlich absehbar war und York ihnen gehörte, verließ Ubbe blutüberströmt die Kirche und wusch sich an einem Wasserloch etwas außerhalb des Zentrums sauber. Er wollte dem Trubel entkommen und nicht mehr an das Getane zurückdenken.
Als er so durch die dreckigen Straßen Yorks lief, bemerkte er im Augenwinkel eine knappe Bewegung. Sofort legte er das Schwert an und ging vorsichtig in den Stall, in dem er Regung wahrgenommen hatte. Und plötzlich sah er im Stroh versteckt ein Mädchen, das sich schützend über einen kleinen Jungen beugte. Sie sah ihn mit großen verängstigten Augen an und versuchte gleichzeitig den Jungen neben ihr mit der Hand abzuschirmen.
„Bitte, tu uns nichts."
Ubbe ließ das Schwert etwas sinken und verlagerte sein Gewicht etwas nach rechts, was den Jungen wohl erschreckte, denn auf einmal begann er zu weinen und zu schluchzen.
Das Mädchen beugte sich zu ihm herunter und bedeutete ihm leise zu sein. Dann sah sie Ubbe wieder mit ihren leuchtend grünen Augen an.
„Bitte verschone uns. Unsere Eltern sind tot und mein Bruder hat sonst niemanden mehr außer mich."
Ubbe legte den Kopf schief. Er hasste es tief in seinem Inneren, dass seine Landsleute diese unschuldige Familie zerstört hatten. Das Mädchen und ihr Bruder konnten rein gar nichts für die Unstimmigkeiten zwischen England und Norwegen.
„Ich werde euch nichts tun", setzte er an, „aber ihr müsst von hier verschwinden. Wenn man euch findet, kann ich nicht für eure Sicherheit garantieren."
Das Mädchen lehnte sich etwas vor und Ubbe konnte ihre langen roten Haare erkennen, die ihr wellig auf die Schultern fielen. Sie sah sehr hübsch aus.
„Aber wie? Ungesehen kommen wir hier niemals raus. Hilf uns, bitte."
„Das kann ich nicht", sagte Ubbe.
„Doch das kannst du. Wenn du uns umbringen wolltest, dann hättest du es bereits getan. Bitte, du bist unsere einzige Hoffnung."
Ubbe überlegte. Er wollte ihr und ihrem Bruder helfen. Er wollte sie am liebsten eigenhändig aus diesem Stall tragen und in Sicherheit bringen, doch das war unmöglich. Die anderen würden dies sofort mitbekommen und verlangen, dass er sie tötete. Vor allem Ivar würde dies wollen.
Also gab es nur eine Lösung.
„Bleibt hier. Haltet euch versteckt. Gebt keinen Ton von euch. Sobald es dunkel ist, komme ich wieder und bring euch aus der Stadt."
„Danke", flüsterte sie und nickte ihm aufrichtig zu.
Ubbe rang sich zu einem knappen Lächeln durch und half ihr dann etwas mehr Stroh über ihren Köpfen zu verteilen, bevor er schließlich davon ging. Er würde schon irgendwie verhindern, dass diese zwei Unschuldigen gefunden und getötet werden würden.
Am Abend gab es eine große Siegesfeier in der Halle der Kirche, wo zuvor noch gemordet und geschändet wurde. Ivar saß wie ein König auf einem Stuhl neben dem Altar der Christen und überblickte das Geschehen belustigt. Hvitserk schaufelte Essen und Wein in sich hinein, als würde es kein Morgen mehr geben. Und alle anderen Männer taten ihm gleich, johlten und vergnügten sich mit ihren Frauen in den dunklen Ecken der Kirche.
Ubbe saß am anderen Ende des langen Tisches, an dem Hvitserk speiste und sah gedankenverloren auf das Essen. Er dachte an das Mädchen und den Jungen und hoffte, dass sie noch immer versteckt im Stroh hielten und darauf warteten, dass er kam und sie retten würde.
„Bruder, es scheint, du bist der Einzige, der sich nicht über die Eroberung von York freuen kann", rief Ivar und riss ihn somit aus seinen Gedanken.
Er hob seinen Kopf an und wurde von seinen beiden Brüdern gespannt beobachtet.
„Wir hätten all diese unschuldigen Menschen nicht umbringen müssen. Sie hätten für uns arbeiten können."
„Du nimmst diese Christen in Schutz?"
„Ich sage nur, dass man sie nicht hätte gleich töten müssen."
„Das ist sehr edel von dir Ubbe, aber du vergisst, dass wir das nun mal so tun. Wir sind Wikinger. Oder gehörst du nicht mehr zu uns? Bist du kein Wikinger mehr?"
Ubbes Augen verzogen sich zu Schlitzen.
„Pass auf, was du sagst Ivar."
Ivar kräuselte seine Lippen und lächelte seinen Bruder provokativ an.
Hvitserks Blick huschte von einem zum anderen hin und her. Er wusste nicht, auf welche Seite er sich schlagen sollte und beschloss stattdessen einfach unbeirrt weiter zu essen.
Ubbe erhob sich und wollte die Kirche verlassen. Er hatte Ivar nicht mehr zu sagen.
„Sie ist tot."
Ubbe hielt abrupt in seiner Bewegung inne.
„Und ihr kleiner Bruder auch. Du wurdest gesehen, wie du sie verschont hast. Da habe ich befohlen, sie zu töten."
Ubbe drehte sich wie in Zeitlupe zu seinem kleinen Bruder an und ballte die Fäuste. Er spürte in seinem Brustkorb die Wut aufkeimen und würde am liebsten laut losbrüllen.
„Das hast du nicht wirklich getan."
Ivar schob seine Unterlippe vor und tat so, als würde er kurz nachdenken.
„Doch, doch, das habe ich. Ich meine, es fiel mir auch nicht leicht, den Befehl zu erteilen. Sie war schließlich wirklich hübsch. Aber wo würden wir denn hinkommen, wenn wir sie verschont hätten? Hm? Wie würde das nach außen hin wohl aussehen, Bruder."
Das war zu viel der Provokation und Ubbe schnellte nach vorne und wollte sich auf den Krüppel stürzen. Er wollte ihm wehtun und zwar so, dass ihm das hässliche Grinsen verging.
Doch er kam nicht besonders weit, denn Ivars Schoßhunde traten vor ihn und hielten ihn grob an den Schultern fest.
„Na, na. Ubbe, warum so wütend?"
„Du bist wahnsinnig Ivar!", stieß Ubbe zornig zwischen den Zähnen hervor. Doch seine Worte ließen den jüngsten Ragnarssohn nur noch breiter grinsen.
„Du bist so weich Ubbe, das wird dir eines Tages nochmal in die Quere kommen."
Ubbe riss sich von Ivars Wachhunden los und bedachte ihn mit einem hasserfüllten Blick. Dann drehte er sich auf der Stelle um und verließ die Kirche. Als er schließlich von der kühlen Nachtluft umschlungen war, sprinte er gen Stall um sich zu vergewissern, dass das Mädchen und ihr Bruder tatsächlich nicht mehr im Stroh versteckt saßen. Doch Ivar hatte die Wahrheit gesagt. Alles was er sehen konnte, war das auf dem Boden verteilte Stroh und ein paar Blutspuren.
Ubbe stöhnte frustriert auf und ließ sich erschöpft auf den Boden fallen.
Er konnte das nicht mehr.
Er konnte Ivar nicht mehr zuhören oder auch nur ansehen.
Er musste von hier fort und zwar so schnell wie möglich.
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