Kapitel 5,6
Jedenfalls bleibt der Bus an der nächsten Haltestelle stehen und Marc trägt sie mehr, als dass er sie stützt. Stolpernd und halb fallend spuckt der Bus sie aus, Tiff ist zu schwach, um auf den Beinen zu bleiben, sinkt niedergerungen in die Hocke. „Tiff, es tut mir so leid.", entschuldigt sich Marc, der versucht, sie wieder hochzuziehen. „Ich kann nichts Schönes sehen", ihre Stimme tonlos. Das ist ihr klar gewesen, auch wenn sie viele schöne Dinge erlebt hat, auch ohne sie zu sehen. Es geht ihr nicht um sich selbst. „Sie kann nichts Schönes sehen.", sie wimmert. „Wen meinst du mit sie?"
„Isaaa! Sie liebt das Zeichnen und Malen. Sie sollte ein weiblicher Picasso, Franz Marc, Leonardo Da Vinci werden, ganz egal! Sie muss Schönheit sehen können, Schönheit von Kunst. Graphitstriche auf Papier, Blätter vollgesaugt mit Wasserfarben, feine Markerstift-Linien. Die Dinge, die sie selbst geschaffen hat, an welchen sie noch arbeitet und die sie noch schaffen will. Und das wird sie niemals wieder."
„Hör mal Tiff." Aber Tiffany will jetzt nicht zuhören, sie will einfach nur brüllen und hassen. Marc greift ihren Arm, hält ihn fest, Tiff reißt sich nachdrücklich los. Er lässt sich nicht beirren, fährt fort: „Schönes kann man doch nicht nur mit den Augen sehen! Die Augen zeigen nur Oberfläche, aber das wirklich Schöne, das ist nur mit dem Herzen spürbar, fast schmerzhaft spürbar."
Irgendwo hinter all dem Zorn in Tiff, ist eine rationale Instanz, die erkennt, dass Marc Wahres sagt. Aber diese Rationalität ist viel zu schwach und unbedeutend gegenüber der Welle aus Emotion, die sie einfach wie eine Wasserpflanze entwurzelt und fortreißt. „Marc", zischt sie, schäumend. „Halt die Klappe! Wie soll Isa denn die Schönheit ihrer Zeichnungen mit dem Herzen fühlen? Zeichnungen sind eben das: oberflächlich! Du verstehst gar nichts.", die Welle bricht endlich, Gischt verteilt sich strömend, verliert ihre Gewalt. „Dann hilf mir zu verstehen.", Marc ist immer noch ruhig und diese Gelassenheit bringt sie auf die Palme.
„Nichts leichter als das", spuckt Tiff aus und lässt ihn stehen, geht zitternd, schnaubend, mit wackeligen Schritten Lux hinterher. Der Wind zerrt an ihnen und sie fröstelt. Zu Hause angekommen, stellt sie fest, dass ihre Mutter noch nicht da ist. Sie muss sich zusammennehmen, um Lux von seinem Geschirr zu befreien, ihre Finger beben, als würde jemand anders sie lenken. Die letzten Ereignisse umkreisen sich in einer Endlosschleife, die Worte seltsam verzerrt und klanglos.
Voller Wut, die Welle zwar gebrochen, aber nicht abgeebbt, sondern durch den Wind verstärkt, trampelt sie die Stufen hinauf und schlittert ins Badezimmer. Schwer atmend streckt sie die Finger aus, berührt fast ehrfürchtig das glatte, kalte Glas des Spiegels, zieht dann eine Schublade auf, packt die Schere mit sicherem Griff. Sie will etwas ändern. Sie will herausfinden, ob Marc das Schönheit-nur-mit-dem-Herzen Zeug wirklich ernst meint. Nicht in Bezug auf Isa, sondern in Bezug auf sich. Sie weiß, dass er ihre Haare mag, und das kalte Metall der Schere verleiht ihrem Ärger einen ganz neuen Glanz.
Sie denkt nicht nach. Nicht, als sie das Geräusch der Schere hört, die sich durch Haare arbeitet, nicht, als der Widerstand plötzlich verschwindet, der die Klingen daran gehindert hat, aufeinander zu fallen und auch nicht, als sie das Landen der umherfliegenden Haare hört, das immer dumpfer wird, je mehr von ihnen den Boden bedecken.
Klirrend legt sie die Schere ab, streicht durch ihre Haare. Sie sind jetzt kurz und irgendwie widerspenstig, als hätte sie stundenlang in Meerwasser gebadet und die Mähne dann im salzigen Wind getrocknet. Der Gedanke gefällt ihr. Noch ein paar Minuten betastet sie das Ergebnis, manche Strähnen sind kaum fünf Zentimeter lang, andere reichen fast bis zu ihrem Kinn. Sie sind unregelmäßig, wild und trotzig.
Nachdem sie die Überreste aufgefegt hat, checkt sie ihr Handy. Nichts, Isa bleibt stumm. Wieder wählt Tiffany ihre Nummer -sie konnte sie vor ihrer eigenen auswendig- spricht ein weiteres Mal auf den Anrufbeantworter. Langsam werden ihre Sorgen übermächtig, das Gefühl im Bauch drückt ihr auf das Herz. Sie beschließt, noch diesen einen Tag abzuwarten, dann wird sie Isa besuchen, ob sie will oder nicht. Tiff vermisst sie.
Aber erstmal ist Marc dran. Sie wählt seine Nummer, er nimmt ab, sie bestellt ihn zu sich. „Äh, hetzt du den Hund auf mich?" sagt er, ein wenig überrascht, dass sie anruft, nach ihrem Abgang vorhin. „Den Hund nicht." Warte nur, denkt Tiff.
Eine halbe Stunde später klingelt Marc. Schwungvoll öffnet sie die Tür. „Seh' das mal mit dem Herzen", ruft sie triumphierend aus.
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