Kapitel 10,9
Am nächsten Morgen hat sie Mendel erfolgreich verdrängt. Stattdessen kreist ihr Denken immer wieder um Marc und ihre Situation. Ihr Verstand ist gefangen in einer sich tiefergerbenden Linie im Gehirn, in die sie ständig abschweift. Sie wird Bio in den Sand setzen und mittlerweile ist es ihr egal. Als sie dann im Klassenzimmer nicht stillsitzen kann, muss sie zugeben, dass es ihr vielleicht nicht ganz egal ist. Tiff schreibt auf der Punktschriftmaschine, langsam und schwerfällig, als hätte sie vergessen, welche Punkte für einen Buchstaben stehen. Aber immerhin schreibt sie. Nachdem sie fast alle Aufgaben beantwortet hat, lehnt sie sich zurück. Ihre Lösungen sind zu fantasievoll, aber sie handelt nach der Devise ,besser etwas dastehen haben, als nichts'. Seufzend gibt sie die Blätter ab.
Fell wärmt ihre Schuhe und die Temperatur überträgt sich auf ihre Füße. Wer will schon einen Jungen, wenn er einen Hund haben kann?
Als sie aus dem Klassenraum tritt und Lux angezogen hat, hört sie Marcs Stimme. Für einen kurzen Moment denkt sie, dass ihr Kopf völlig durchgedreht ist. Sie erstarrt. „Wie geht es dir?", fragt er unsicher. Dann dämmert ihr, dass die reale Person Marcs vor ihr steht. Ihre dritte Reaktion ist Flucht. Sobald sie sich in Bewegung gesetzt hat, kann sie nicht mehr aufhören. Lux springt freudig an Marc hoch. Es ärgert sie und sie gibt ihm den Befehl, sich wie im Dienst zu verhalten. Sofort findet er sich an seinem Platz ein, links neben, ein wenig vor ihr. Er führt sie, konzentriert und jeden Tritt sicher gesetzt. Nach nirgendwo Bestimmtes, Hauptsache sie fühlt sich beschäftigt. „Kann ich mit dir reden?" „Hast du nie Theorieunterricht?" „Was?", es wirft ihn aus der Bahn. „Ob du nie an deiner Schule theoretische Dinge lernst? Ob du immer hier sein musst?" Er bemerkt, worauf das hinausläuft, übergeht ihre genervten Fragen einfach. „Wann hast du heute aus? Wann kann ich mit dir sprechen?" Sie tut es ihm gleich, Ignorieren kann sie auch.
Marc beeilt sich, stellt sich vor sie, versperrt ihr den Weg. Lux läuft unbeirrt um ihn herum, er kennt solche Situationen. Triumphierend hebt sie den Kopf und schreitet an Marc vorbei. Sie hasst es. Den Streit, der eigentlich keiner war. Den Abend, der so schön hätte sein sollen, sich aber in einen Albtraum verwandelt hat. Die Zerrissenheit in ihrem Inneren. Die eine Seite von Tiff will ihm um den Hals fallen und die andere... Ja, was will die andere? Verstehen, warum er ihr wehgetan hat, mit seinen dämlichen Wörtern, mit seinem Zustand, den nicht einmal sie abwenden konnte. Verstehen, sich rächen, ihn ignorieren.
Sie muss abrupt abbremsen. Erst dann bemerkt sie den Grund dafür: Er hat seine Finger um ihr Handgelenk geschlungen und sie angehalten. Tiff will ihn abschütteln, aber dann entscheidet sie anders, dreht sich um und sagt: „Urteile niemals über einen Menschen, den du nicht kennst" Ihr Ton ist so traurig, dass sie fürchtet, sie würde weinen. Aber als sie sich abwendet und Lux den Befehl zum Vorwärtslaufen gibt, ist ihr Gesicht trocken und heiß.
Eine Wüste voller stechender Sandkörner.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro