Kapitel 1
Ein, zwei, drei große Schritte. Einen halben. Nach links drehen, die rechte Hand streicht über Treppengeländer. Kein Lichtschalterklicken. Tiffany hält sich nicht fest, aber spreizt die Finger griffbereit -zur Sicherheit. Vierzehn Stufen durch dunkles Treppenhaus. Stopp.
Sie dreht ihren Körper, vielleicht um neunzig Grad, schreitet voran, fast furchtlos. Ihre Füße treffen genau die Mitte durch den Türrahmen.
Rechts ist der Kühlschrank, sie öffnet ihn. Leises Klicken und das Neonlicht senkt sich über ihr Gesicht. Tiffany greift nach der Milch, schüttet sie in ein Glas, spürt Flüssigkeit an ihren nackten Füßen. Leise flucht sie. Vorsichtig stellt sie das Glas ab, schnappt sich den Lappen und wischt über den Boden. Dann setzt sie sich an den Tisch, stützt den Kopf in die Hand, seufzt. Tiffany trinkt einen Schluck, spürt kühles Rinnsal durch ihren Hals fließen.
Sie hört schlurfende Schritte, ein Licht wird eingeschaltet. Mist! Sie wollte sie nicht wecken. Ihre Mutter bleibt im Türrahmen stehen, als würde sie warten, dass Tiffany Notiz von ihr nimmt. Also hebt sie den Kopf, wendet die Augen in ihre Richtung.
„Tiff, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?", ihre Mutter reibt sich die Stirn, fährt durch verstrubbelte Haare. Tiff kann hören, wie die Knoten widerwillig auseinandergerissen werden. Sie schüttelt den Kopf.
„Albtraum?" Wiederholtes Kopfschütteln. „Findest keinen Schlaf?"
Ein Ton entweicht Tiffanys Hals, eher Wimmern als Zustimmung. Sie räuspert sich, versucht wie ein normaler Mensch auszusehen, der weniger gestört und behindert ist, versucht die Stirn zu entspannen. Allmählich bekommt sie Kopfschmerzen davon. „Alles ok, Mama, ich wollte dich nicht wecken."
„Ich kann auch nicht schlafen.", lügt ihre Mutter. Sie schleicht bemüht unauffällig zur Anrichte und lässt den Lappen leise die restliche Milch aufsaugen. Tiff stellt sich taub.
„Was wünschst du dir zu Weihnachten?", ihre Mutter lehnt sich an die Anrichte. „Beschäftigt dich das so sehr?", sie spürt, dass ihre Mutter innerlich ganz unruhig ist, als wäre sie fast ängstlich vor der vielfach gegebenen Antwort. „Ich will, dass du glücklich bist.", sie nestelt an ihrem Schlafanzug herum. „Mama! Ich bin glücklich...vielleicht nicht zu hundert Prozent-", sie hört, wie angehaltene Luft entweicht, „aber wer ist das schon?"
„Du! Du sollst hundertprozentig glücklich sein!" Tiff wird wütend: „Hör auf damit! Du kannst mich nicht zwingen, du kannst nicht ,sollen' im Zusammenhang mit Glück benutzen!"
Ihre Mutter setzt sich neben sie, legt die Hände flach auf den Tisch, holt Luft:
„Weihnachten muss-...soll-..." Tiffany schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich möchte doch einfach nur, dass Weihnachten wunderschön wird.", sie klingt wie ein weinerliches Kind.
„Jaja, das weiß ich, das wird's auch, mach dich nicht so verrückt, es dauert noch drei Wochen!" „Hmm. Also was...?"
„Weißt du, Mama, ich würde mir so sehr wünschen, dass das Krankenhaus anruft. Aber das ist ein schwer erfüllbarer Wunsch." Sie weiß, dass ihre Mutter ihr nichts lieber als das schenken würde, eine Mitteilung, dass jemand ihr seine Augen spenden wird.
„Ich hätte da noch einen anderen Wunsch, einen, der weniger von Glück oder auch Unglück für jemand anderen abhängt" „Ja?", die Sonne geht auf. „Ich... Mama, er wird dir nicht gefallen." „Sag schon, ich entscheide selbst." Tiffany will ihre Mutter nicht verletzen, sie verdient es nicht. Kurz bleibt sie stumm. Wartet, aber die Worte drängen aus ihr heraus, die Gedanken um das was wäre, wenn... Um den Wunsch, eigentlich ein typischer Kinderwunsch, obwohl er in ihrem Fall bestimmt nicht typisch ist. Sie kann sich nicht zurückhalten.
„Ein Hund. Warte, Mama, bevor du was sagst! Lass mich dir erklären! Es wäre wundervoll. Stell dir vor, ein schöner, treuer Hund bei uns. Ein Freund, ein Helfer. Und um Auslauf brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde ihn überall mithinführen, oder, besser gesagt, er mich! Er wird ständig Bewegung haben. Und-"
„Weißt du überhaupt, wie teuer so ein Hund ist? Auf gar keinen Fall! So viel Verantwortung für-"
Tiffany weiß, was ihre Mutter sagen will, so viel Verantwortung für eine Blinde, das geht nicht. Sie schluckt die bittere, unfaire Anmerkung hinunter, spült mit Milch nach.
So schnell gibt sie jetzt nicht auf. Sie will einen Wunsch, sie kriegt einen! „Vielleicht übernimmt die Kasse einen Teil? Ich habe mich informiert, in manchen Fällen ist das möglich! Bei Schweren sogar wahrscheinlich! Ich meine, vielleicht-", sie spürt, ihre Mutter will sie unterbrechen, beeilt sich, stolpert fast über Worte. Ein entnervtes Seufzen.
„Mama, nein, hör mir zu! Ich weiß, wir haben das Geld nicht, ich weiß, ein Hund ist zu viel Arbeit, zu anstrengend, zu teuer, und der Stock tut es doch auch! Aber nein, du kannst dir das nicht vorstellen, du kannst darüber nicht urteilen! Ein Hund ist die Möglichkeit, unabhängiger und freier zu sein. Ich habe mir Verschiedenes angehört, hast du eine Ahnung, was sie alles können? Gut ausgebildet?" „Tiffany!", eine Stimme nur ein paar Grad wärmer als die Milch.
Tiff hebt die Hand, ihre Finger zittern leicht. „Du hast doch keine Ahnung! Du hast doch keinen Plan, wie schlimm die Dunkelheit mit offenen Augen ist! Wenn du aufwachst, siehst du. Mehr kannst du dir nicht vorstellen."
Die Mutter greift wieder in die Haare, bestimmt kneift sie jetzt die Augen zusammen, denkt nach, verzweifelt. Tiffany wird ruhiger. Jetzt fühlt sie sich schlecht, sie will ihre Mutter nicht damit belasten, nicht finanziell, nicht emotional. Tiff atmet ein und greift durch die Luft, neben sich. Sie gleitet über den Tisch, glattes Eichenholz und begegnet einem Körper, findet Hände, tätschelt sie.
Die Milch ist leer, sie steht auf, im Türrahmen dreht sie sich noch einmal um.
„Hey, Mama, sorry. Es ist nur, naja, das wäre ein Wunsch.
Heißt nicht, dass er wahr werden muss, ja?"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro