Kapitel 1,2
Schweigend laufen sie durch den Eingangsbereich. Sie zwar ein wenig vornübergebeugt, aber triumphierend, er geflügelt. „Muss nach rechts", er will schon abbiegen, dann zögert er und meint: „Man sieht sich" Tiffany bleibt kurz stehen, schüttelt den Kopf. Als das Grinsen verschwunden ist, beeilt sie sich in den Klassenraum.
„Wo warst du? Mann, ich hab' dir so viel zu erzählen!" Isa klingt aufgeregt. Tiffany kennt sie schon ewig, wenn man sie als solche bezeichnen will, ist sie ihre beste Freundin.
„Dann los, ich höre"
„Nein, zuerst du! Du klingst so fröhlich." Isa gleicht ihre Sehbehinderung durch das Talent, jede Gefühlsänderung zu erkennen, aus. Außerdem ist sie ein bisschen zu neugierig. Tiff seufzt, bei Isas Dickköpfigkeit hat sie keine Chance: „Du kennst doch Marc, oder?" Kurz Stille.
„Marc, Marc, Marc", Isa spult durch ihr Gedächtnis, dann: „Stopp, der Marc, der IT-Aushilfe-Marc?"
„Mhhm", zustimmend.
„Waaas? Was hast du so lang getrieben? Oder sollte ich sagen, mit ihm?", Gelächter. Tiffanys Gesicht wird heiß. „Isa! Nein, er ist total verrückt! Wir haben nur geredet." Sie wollte eigentlich nicht, aber jetzt muss sie die Busgeschichte erzählen. Isa kann gar nicht mehr aufhören zu gackern. „Du hast ihn gehauen?" Tiffany seufzt, will endlich das Thema wechseln. „Jaja, ich bin ein böses Mädchen, aber jetzt erzähl doch bitte du! Gleich fängt Mathe an." In zwei Minuten rattert Isa alles runter, Dinge über ein paar Jungs, die nach ihren eigenen Aussagen ,belanglos aber vielleicht auch ernst' werden könnten.
Dann: „Heeey, Tiff, hast du nach Weihnachten schon was vor? Sagen wir, nächsten Samstag? Vielleicht mit Marc?" Tiff schnippt ihr gegen den Oberarm. „Aua!"
„Hör auf mit ihm! Er ist ein ziemlicher Idiot", sie schmunzelt, wird aber gleich wieder ernst. „Wochenende klingt gut, was willst du anstellen?" Isa ist kurz angebunden, will etwas sagen, lacht dann aber nur. Tiffany spürt, es ist etwas Verbotenes, Aufregendes, sie hört es förmlich in der Energie, die Isa versprüht.
Zweifaches Klopfen an der Tür beendet jegliche Gespräche. Ihr Lehrer hat den Raum betreten, er räuspert sich, läuft nach vorne und begrüßt sie. „Lass dich überraschen", flüstert Isa ihr schließlich zu und giggelt.
Die ersten zwei Stunden sind Mathe, dann folgt für Tiffany Sonderunterricht, also Mobilitätstraining. Sie muss an den Infoabend der Blindenschule zurückdenken.
Vor einigen Jahren hatte sie die Schule das erste Mal betreten, Hand in Hand mit ihrer Mutter, die ungewohnten Gerüche hatten sie beängstigt. Sie erinnert sich an die Geräusche der Stühle und das Tasten unerfahrener Blindenstöcke. Jemand fragte, was das Mobilitätstraining sei. Irgendwie hat sich die Erklärung in ihrem Gedächtnis abgespeichert, vielleicht, weil das Wort Mobilität in den Ohren einer blinden Fünftklässlerin eine Art Zauberformel war. Oder vielleicht, weil sie diese so oft geschildert hatte und sie so oft gehört hatte. So oder so ähnlich:
Übungen für Sehbehinderte und Blinde, zum Beispiel zur sicheren Fortbewegung, Sensibilisierung der verbliebenen Sinne oder Orientierung in Räumen. Wieder eine Frage. Wie wird diese ausgeführt?
Meist werden einzelne Schüler und Schülerinnen eingeteilt. Das Training wird individuell auf Sehbehinderte und Blinde angepasst. Der Mobilitätstrainer führt die Kinder beispielsweise nach Draußen, bringt ihnen den Weg zu Schule bei oder die Orientierung in einem Raum.
„Heute zeichnen wir-", der Lehrer reißt sie aus den Gedanken. „Wenn er jetzt einen Punkt machen würde, wäre ich zufrieden.", meint Isa, die Zeichnen liebt und Mathe hasst.
„Isabell! Das wissen wir, sehr zu meinem Bedauern, alle."
Isa, die Zeichnen liebt und Mathe hasst und -nebenbei erwähnt- nicht flüstern kann.
Der Lehrer räuspert sich, fährt fort: „Heute zeichnen wir und zwar in Koordinatensystemen" Allgemeine Begeisterung bricht aus. Isa stöhnt, ein paar Jungs seufzen, leise Aufschreie und Wehklagen sind zu hören. Eine Sache, die Tiffany niemals freiwillig werden würde, wäre Mathelehrer. Demotivierender kann ein Job kaum sein.
Die hölzernen Bretter werden ausgeteilt, Tiffany fühlt die gummiartige Oberfläche, spannt eine Plastikfolie darüber, beginnt mit einem Kugelschreiber zu zeichnen. Diese Methode macht das Gezeichnete tastbar. Isa wirft den Kopf in die Hände, pure Verzweiflung.
Irgendwann fragt sie resigniert: „Kann ich mal abtasten?" Tiff lächelt, schiebt ihr Brett hinüber und lässt sie abschreiben.
Langweilige neunzig Minuten später klingelt es endlich. „Meine Gebete wurden erhört!", ruft Isa aus, springt auf, gemeinsam verlassen sie den Klassenraum, halborientierungslos und halborientiert. Zusammen gehen sie durch die Tür, rechts steht ein Gefäß, wo alle Blindenstöcke gesammelt werden. Tiffany streicht kurz über die Griffe, erspürt den eigenen, er ist mit einem glatten Anhänger markiert.
„Du hast jetzt Mobi?", fragt Isa. „Genau, was steht bei dir an?"
„Kunst", Isas Stimme läuft vor Freude fast über. So lustlos, wie sie in Mathe war, so motiviert ist sie jetzt. Isas Fächer finden manchmal getrennt von Tiffanys statt, denn Isa ist nicht ganz blind. Sie kann Dinge wie Lesen, aber nur auf speziellen Bildschirmen mit großen Buchstaben, sagt sie. Sie besitzt fünfzehn Prozent Sehkraft, und ,fünfzehn sind besser als nichts'.
„Na, dann viel Spaß!", lacht Tiff.
Sie trennen sich, Tiff wendet sich der Treppe zu. Sie spürt die Stufen, schreitet im Rhythmus des klackenden Blindenstocks. Klack. Immer rechts laufen, dicht am Geländer entlang, so kommt es zu keinen Kollisionen. Klack. Plötzlich berührt der Stock etwas anderes als steinige Stufen.
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