8. | Ida
Am Sonntagnachmittag durften wir für zwei Stunden das Schloss verlassen. Ich hatte zwar immer noch mit Rücken,- Kopf- und Nackenschmerzen zu kämpfen, dennoch freute ich mich, endlich wieder nach draußen zu gehen und etwas anderes als die Küche zu sehen. Ich vermisste es, in der Uni zu sitzen und im Labor Experimente zu machen, ich vermisste meine Familie und Freunde, sogar das U-Bahn-Fahren.
Anders als Lene wollte ich unbedingt wieder zurück. Aber ich konnte niemanden um Hilfe bitten. Alle würden mich für verrückt erklären und wenn ich Pech hätte, würde ich das Schloss verlassen müssen. Leider hatte Frieda geplant, mir das Dorf, das nur wenige Meter entfernt vom Schloss begann und das Schloss wie eine Mauer umgab, zu zeigen.
„Ich kann dir meine Familie vorstellen", sagte sie aufgeregt und ich wollte sie nicht enttäuschen, also stimmte ich zu. Dorothea und Martha, die wie Lene Stubenmädchen waren, wollten ebenfalls ihre Familie besuchen. Was Lene geplant hatte, wusste ich nicht. Ich vermutete aber, dass sie Zeit mit dem zweiten Diener Weber verbringen wollte, obwohl dieser lautstark verkündet hatte, er wolle seine kranke Mutter besuchen.
Herr Fasting, der erste Hausdiener, hatte mir erzählt, dass er seinen Bruder treffen wollte, der aus Deutsch-Ostafrika zurückgekehrt war. Dies fanden alle Bedienstete außer ich spannend und jeder hatte ihn dazu aufgefordert, am Abend von dem Treffen zu erzählen. Ich wusste noch vom Geschichtsunterricht, dass die deutsche Kolonialgeschichte ein sehr dunkles Kapitel war und deswegen wollte ich die Erzählungen nicht hören.
Von Fräulein Meier hatte ich erfahren, dass sie mit der Mamsell in die Kirche gehen wollte, um dort zu beichten. Sie war traurig gewesen, als Frieda und ich heute Morgen nicht wie alle anderen Bediensteten, der Herzog und seine Mutter den Sonntagsgottesdienst besucht hatte.
Frieda war nicht mitgekommen, weil sie die Küche putzen musste und ich war ebenfalls im Schloss geblieben, um ihr zu helfen, weil ich ehrlicherweise auch nicht interessiert an einem Kirchenbesuch war.
Wir befanden uns jetzt auf dem Weg ins Dorf. „Ich habe sechs Geschwister", erklärte Frieda mir, „Ludwig, Ferdinand, Johann, August, Berta und Gisela. Ludwig ist der älteste und Gisela ist die jüngste. Ich bin das drittälteste Kind. Ludwig und Ferdinand leben etwas weiter weg, weil sie bereits verheiratet sind."
Während wir durch das Dorf gingen, erfuhr ich, dass nur noch ihr Vater lebte - ihre Mutter war vor sechs Jahren bei der Geburt ihrer Schwester Gisela gestorben. Sie klopfte an die morsche Holztür. Die Hütte, in der vier ihrer sechs Geschwister gemeinsam mit ihrem Vater lebten, war winzig. Es roch nach Urin und Schweiß.
Vier Kinder kauerten auf einer kleinen Pritsche. Sie sahen unterernährt aus. Es brach mir das Herz. „Frieda!", rief ein Junge, den ich auf ungefähr 10 Jahre schätzte. Alle Kinder trugen zerrissene Kleidung, die ihnen teilweise zu groß waren. Der Junge rannte auf Frieda zu und sie schloss ihn in ihre Arme. „August", sagte Frieda glücklich. „Wo ist Vater?"
„Er hat neue Arbeit gefunden", antwortete August. Er rückte von ihr ab und betrachtete mich. Die anderen drei Kinder saßen noch auf der Pritsche und starrten mich mit großen Augen an. „Frieda, wer ist das?", fragte er argwöhnisch.
„Das ist Ida, sie ist ebenfalls Küchenmädchen", stellte sie mich vor und ich lächelte ihren Geschwistern zu. Augusts Gesicht entspannte sich. „Ich würde euch gerne Muckefuck anbieten, aber Vater hatte kein Geld", sprach ein Junge, der etwas älter als August schien.
„Nicht schlimm, Johann, ich persönlich mag kein Muckefuck", sagte Frieda und drehte sich zu mir. Leider hatte ich keinen blassen Schimmer, was Muckefuck war. „Alles gut, ich auch nicht", stimmte ich zu. „Wie geht es euch?", wollte Frieda wissen. August sah unsicher zu Johann und den anderen beiden. Das mussten wohl Berta und Gisela sein. „Vater ist böse auf mich", sagte Berta mit leiser Stimme und begann zu weinen.
Frieda ging auf ihre Schwester zu und nahm sie in den Arm. „Warum?", hakte sie nach. "„Weil ich ihm kein Geld geben will, um Bier zu kaufen", schluchzte Berta. „Er droht, sie in ein Heim zu schicken", sagte Johann. Ich sah ihn erschrocken an. Was war das für ein Vater?
Frieda ließ Berta los und holte aus ihrer Manteltasche einen Schein hervor. Das musste wohl die Währung sein. „Hier. Mein Lohn vom letzten Monat", sie überreichte den Schein an ihre Schwester. „Versteck das Geld unter deinem Kissen. Wenn es schlimmer wird, geht zur Krämerin, sie verkauft auch alte Kleidung, die noch sauber und ordentlich ist. Dann kann Johann versuchen, eine Arbeitsstelle beim Herzog zu finden."
Ihre Geschwister nickten. „Wisst ihr, wann Vater wiederkommt?", fragte Frieda. August schüttelte den Kopf. „Er ist seit Sonnenaufgang weg." Meine Sorge war es, dass der Vater gar nicht zurückkommen würde und die vier Kinder allein lassen würde. Frieda schien es genauso zu gehen. „Wir müssen gleich wieder gehen", bedauerte sie. „Ich werde die Mamsell fragen, ob sie mal nach euch schaut, in Ordnung?"„Ja", erwiderte Johann. „Danke, Frieda."
Mir tat es weh, Friedas Geschwister allein zurück zu lassen. Sie sahen hungrig aus und besonders die zwei Mädchen schienen krank zu sein. Aber ich konnte ihnen nicht helfen. Ob der Herzog wusste, dass in seinem Herzogtum Kinder beinahe verhungerten? Vielleicht interessierte es ihn gar nicht. Auf dem Rückweg sprachen Frieda und ich nicht, wir waren beide bedrückt.
„Danke, dass du mitgekommen bist", murmelte Frieda, als wir das Schloss betraten. „Gerne", antwortete ich. „Ich wünschte, ich könnte ihnen helfen." Frieda lächelte mich traurig an. „Ich wünsche mir das auch."
Als wir am Schloss ankamen, herrschte dort Chaos. Frieda und ich gingen zur Küche, wo sich Fräulein Meier befand. „Was ist passiert?", erkundigte sich Frieda. „Ach, ihr werdet es nicht glauben. Lene und der Weber hatten eine Liaison und wurden von der Mamsell erwischt. Herrje, wie unerhört!"
Frieda warf mir einen belustigten Blick zu, pflichtete Fräulein Meier aber bei. „Ja, das ist wirklich unmöglich! Dürfen sie noch hier arbeiten?" „Frieda! Natürlich nicht", sagte die Köchin entrüstet. „Die Mamsell ist ganz außer sich vor Wut. Die Herzogin möchte kein neues Stubenmädchen und auch keinen zweiten Diener. Nun müssen Martha und Dorothea die Zimmer zu zweit putzen und Herr Fasting ist der einzige Diener."
„Oh je. Da haben sie viel zu tun", sagte ich mitleidig und Fräulein Meier nickte. „Das stimmt."
Der restliche Tag verlief wie immer. Heute durften wir früher ins Bett. Ich war müde wie jeden Abend. „Mir tun Lene und Weber leid", flüsterte Frieda. „Stell dir mal vor, Gustav und ich wären es gewesen. Verstehst du jetzt, warum wir uns nicht mehr treffen können?"
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