19. | Ida
Mein Herz klopfte wie verrückt. Zum zweiten Mal hätten wir uns fast geküsst. Fast. Was würde beim nächsten Mal passieren? Gäbe es überhaupt ein nächstes Mal?
All diese Gedanken plagten mich, als wir schweigend ins Schloss zurück gingen. „Danke, dass du mir den See gezeigt hast", sagte ich, als wir ankamen. „Bitte", antwortete er. „Bis bald. Schlaf gut."
„Danke. Du auch."
Dann ging ich zurück in die Kammer, wo Martha, Dorothea und auch Frieda auf mich warteten. „Was macht ihr denn hier?", fragte ich verblüfft. „Wir haben dich gesucht", erwiderte Frieda. „Wo warst du?"
„Ich war im See schwimmen", entgegnete ich. „Allein?", fragte Dorothea verwundert.
„Nein, ich..." Ich zögerte, doch dann entschied ich mich dazu, es ihnen zu sagen. „Ich war mit dem Herzog dort."
„Das kann nicht sein", sagte Martha sofort. „Der Herzog hatte seine Verlobte und ihre Eltern zu Besuch." „Sie sind nicht mehr verlobt", erklärte ich ihr. „Warum nicht?", wollte Dorothea wissen. „Etwa wegen dir? Das hast du uns ja gar nicht erzählt."
„Nein!", verteidigte ich mich. „Es ist gar nichts passiert! Wir verstehen uns gut. Das ist alles."
Leider schienen sie mir das nicht zu glauben, denn alle drei blickten mich skeptisch an. „Ida, ist dir bewusst, dass es keine gute Idee ist, dich allein mit dem Herzog zu treffen?", fragte Martha mit einer sanfter Stimme.
„Wie gesagt, es ist nichts passiert!"
„Er könnte dich jederzeit des Hauses verweisen, weil du mit ihm sprichst, ohne dass er dich dazu aufgefordert hat. Er müsste nicht einmal einen Grund angeben und schon wärst du weg. Und mit einem schlechten Gesindebuch nimmt dich niemand. Also pass auf dich auf und versuch am besten, ihm aus den Weg zu gehen", antwortete Dorothea für Martha, die mich ungläubig anstarrte.
„Wir wollen nicht, dass dir etwas zustößt", fügte Frieda hinzu. „Es mag ja sein, dass schlussendlich alles gut geht und ihr Freunde bleibt, aber es kann auch gewaltig schief gehen. Wir alle kennen solche Fälle und wir wollen dich davor beschützen."
„Das ist wirklich nett von euch", sagte ich. „Danke, dass ihr euch Sorgen um mich macht. Aber das ist nicht nötig. Ich schätze Arthur nicht so ein, dass er mich ohne einen Grund kündigt."
„Du nennst ihn beim Vornamen?", keuchte Martha. „Bist du dir sicher, dass ihr nur Freunde seid?"
„Ja, warum?" Ich sah sie verunsichert an. „Ich fand es auch erst ungewöhnlich, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt."
Dorothea räusperte sich, bevor sie antwortete. „Weil Bedienstete nie den Vornamen eines Adeligen benutzen. Nie. Selbst, wenn sie sich schon ewig kennen, wie zum Beispiel die Mamsell, die schon lange hier arbeitet. Selbst viele verlobte oder sogar verheiratete Adelige siezen sich."
„Und was bedeutet das jetzt, dass ich ihn beim Vornamen nenne? Er hat es mir angeboten."
„Oh, ich dachte, das käme von dir aus", kam es von Frieda. Dorothea nickte zustimmend. „Entweder er will dich heiraten oder er möchte mit dir nur ein dummes Spielchen spielen, damit er dir später zeigen kann, wie viel Macht er über dich besitzt. Ich tippe auf das Letztere", sagte Martha.
Ich verschluckte mich beinahe. „Seid ihr euch sicher?" Schließlich wusste ich, dass ich ihnen vertrauen konnte. Sie waren in diesem Jahrhundert aufgewachsen.
Ich hingegen kannte nur das 21. Jahrhundert. Wieder einmal verspürte ich Heimweh und wollte zurück nach Hause. Ich vermisste meine Vorlesungen, die Experimente im Chemielabor, die nächtlichen Treffen mit meinen Kommilitonen und selbst das U-Bahn-Fahren um kurz vor acht, wenn alle Schüler die Plätze belegten und man sich durch das Gedränge quetschen musste.
„Ja", erwiderte Dorothea jetzt. „Aber ich glaube, wir sollten schlafen gehen. Es ist spät." Frieda nickte und verabschiedete sich. Auch Dorothea ging eine kurze Zeit später. Als Martha und ich in unseren Betten lagen, fragte ich sie wieder, ob ich mich von Arthur fernhalten sollte oder nicht.
„Ja", lautete ihre Antwort. „Ich kenne einige, bei denen sich zunächst eine Freundschaft mit einem Adeligen entwickelt hat und es am Ende schlecht für die Bedienstete verlief."
Mit einem mulmigen Gefühl wachte ich am nächsten Tag auf. Nach dem Frühstück erklärte mir die Mamsell, dass das Treffen mit dem Raumgestalter vorerst abgesagt wurde.
„Die Herzogin ist ganz außer sich", seufzte sie. „Der Herzog hat die Verlobung einfach aufgelöst!"
„Was passiert mit den Räumen?", traute ich mich zu fragen. „Werden sie trotzdem möbliert?"
„Natürlich! Es soll alles fertig sein, wenn der Herzog sich erneut verlobt, damit die Hochzeit so schnell wie möglich stattfinden kann."
Sie schickte mich zu Dorothea, um ihr zu helfen. Doch am Nachmittag klopfte es plötzlich und der Hausdiener Herr Fasting trat ein.
„Eine dringende Bitte der Mamsell", sagte er. „Der Bruder des Herzogs wird jede Sekunde eintreffen."
„Jetzt schon?", Dorotheas Stimme klang verwirrt. „Stellen Sie keine sinnlosen Fragen, Fräulein Deschel", schimpfte Herr Fasting ungeduldig. „Beeilen Sie sich!"
Die Mamsell wies uns an, sich in Zweierreihen auf den Innenhof zu stellen. Neben uns standen Arthur und seine Mutter. Aus dem Augenwinkel merkte ich, wie er mich unauffällig ansah.
Auf einmal hörte ich Pferdewiehern und wie aus dem Nichts erschienen mehrere Schimmel und eine große, schwarze Kutsche. Kurz vor Arthur und seiner Mutter kam die Kutsche zu stehen und ein junger Mann, der Arthur von der Statur her etwas ähnlich sah, kam heraus.
Er hatte jedoch dunkelblonde Haare.
Hinter ihm stieg eine kleine Frau mit hellbraunen Haaren und einem dunkelblauen Kleid aus. Arthurs Mutter beäugte die Frau kritisch. „Das ist Julius, der Bruder des Herzogs. Er lebte zuvor in Schwerin. Man munkelt, er habe das Geld seines Bruders verschwendet. Und anscheinend hat er seine neue Geliebte mitgebracht", wisperte mir Frieda, die neben mir stand, ins Ohr.
„Wie schön, dass du da bist, Julius", sagte Arthur, aber ich merkte an seiner monotonen Stimme, dass er sich nicht freute. „Ich begrüße dich und..." Er sah seinen Bruder fragend an.
„Das ist Maria", Julius nahm die Hand der Frau und drückte sie kurz. Maria blickte ihn lächelnd an. „Maria Todorova aus dem bulgarischen Fürstentum. Sie lebt seit 1878 in der Nähe von Schwerin."
„Seit dem Aprilaufstand also", meldete sich Arthurs Mutter zu Wort. „Spannend. Ich hoffe, es bleibt dieses Mal bei nur einer Begleiterin, Julius." Sie lächelte kokett.
Julius erwiderte ihr Lächeln nicht. „Sicher doch, Maman", sagte er und presste die Lippen aufeinander.
„Seit wann kennt ihr euch?", erkundigte sich seine Mutter weiter. „Seit vier Monaten", entgegnete Arthurs Bruder.
„Kann sie auch sprechen?"
„Ja", sagte Maria, aber es war wohl zu leise, denn die Herzogin reagierte nicht. Oder sie hatte beschlossen, Maria konsequent zu ignorieren.
„Spricht sie überhaupt Deutsch?", wollte die Herzogin wissen. „Natürlich", jetzt war Marias Stimme etwas lauter. „Ich lebe seit schon seit 21 Jahren hier."
„Man wird ja wohl fragen dürfen", die Herzogin klang verärgert. „Maman, ich denke, wir sollten etwas essen. Julius und Maria sind bestimmt hungrig von der langen Reise", sagte Arthur beschwichtigend und daraufhin nickte Julius dankbar.
Die vier gingen in den Speisesaal und die Mamsell wies uns an, ein Gästezimmer für Julius und ein Gästezimmer für Maria vorzubereiten.
Als ich spätabends das Buch zurück zu Arthur bringen wollte, traf ich auf Julius.
„Hallo. Ich kenne Sie gar nicht", sagte er zur Begrüßung und musterte mich. „Sie sind eine Bedienstete, nicht wahr?"
„Ja", entgegnete ich. „Ich möchte Sie nicht weiter stören, aber könnten Sie das Buch Ihrem Bruder überreichen?"
Julius senkte den Blick. „Ich befürchte, der Zeitpunkt ist gerade schlecht, Fräulein... Oh, Verzeihung, ich habe nicht nach Ihrem Namen gefragt."
„Fräulein Kaufmann", sagte ich.
„Also gut, Fräulein Kaufmann, ich würde ihm das Buch gerne geben. Aber leider bespricht mein Bruder gerade mit meiner Mutter, ob meine Begleiterin das Schloss verlassen soll oder nicht. Ich denke, ich bin da unerwünscht. Sie sollten es lieber allein versuchen. Wahrscheinlich steht Herr Fasting vor der Tür, ihm können Sie das Buch geben."
„In Ordnung, danke", antwortete ich und eilte weiter. Doch Herr Fasting war nirgends zu sehen. Ich hörte nur Arthurs Mutter laut sprechen. Sehr laut, sodass ich jedes einzelne Wort verstehen konnte. Ich blieb einige Meter vor der Tür stehen. Es ging immer noch um Maria Todorova, Julius' Begleiterin.
„Maman, ich verstehe nicht, was dein Problem ist!", rief Arthur verzweifelt. „Was hast du gegen Maria?"
„Ich bitte dich, Arthur. Denk doch mal nach. Wie sieht das denn aus? Der Kaiser wird denken, wir hätten allesamt den Verstand verloren, weil der zweite Sohn von Kehlenbach eine Partnerin hat, die geistig geschädigt ist. Und das nur, weil sie vor über 20 Jahren ihre Heimat verlassen musste, obwohl sie damals gerade mal vier Jahre alt war und sich eigentlich nicht mehr daran erinnern kann. Du kannst mir nicht erzählen, dass man dadurch so viele Schäden bekommt, sodass man den Alltag allein nicht schafft."
Arthur holte tief Luft. „Hör gefälligst auf, so über Maria zu sprechen. Maria hat als Kind grausame Szenen miterlebt, die sie nicht vergessen kann. Julius sagt, sie hat schlimme Alpträume deswegen und und noch viel mehr. Ich finde es schrecklich, dass du so über sie sprichst. Du wirst nicht verstehen, wie sie sich fühlt, weil du nie in solch einer Situation warst. Wir sollten alles dafür tun, damit es ihr in diesem Schloss gut geht."
„Wie sprichst du denn bitte mit mir? Ich bin deine Mutter. Du solltest respektvoll mit mir umgehen, Arthur. Ich bin jedenfalls froh, dass Johanna nicht so eine ist. Und noch froher bin ich, dass Julius momentan keine Absichten hegt, die Frau zu heiraten. Ich glaube, ihm wird das bald zu anstrengend mit ihr und schon wird er sie ersetzen. So ist Julius eben, du kennst ihn ja."
Arthurs Antwort verstand ich nicht mehr, weil ich in diesem Moment Schritte hörte. Schnell legte ich das Buch vor die Tür und lief zurück in die Kammer, wo Martha bereits schlief.
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