Sorgen
Als Selina erwachte, befand sie sich in einem nur schwach beleuchteten Raum. Es dauerte eine Weile bis ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten. Anhand der Geräusche und der Bewegungen war ihr jedoch recht schnell klar wo sie sich befand und das bedeutete nichts Gutes. Undeutlich konnte sie auch Stimmen hören und langsam stieg wieder die Panik in ihr auf. Sie versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, was eigentlich passiert war. Da war dieser Mann, der ihr am Friedhof den Weg versperrt hatte. Obwohl waren es nicht nicht sogar zwei? Den zweiten Mann hatte sie nicht gesehen, weil er hinter ihr gestanden hatte. Dann erinnerte sie sich wieder an das Gelächter und den Namen, der ihr auch jetzt wieder einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sie war verloren. Sie saß auf einem Schiff fest, welches sie gerade weit weg von Julian und der Seawind höchstwahrscheinlich geradewegs in Hölle brachte. Ihr Schicksal schien besiegelt zu sein.
Wie ein gehetztes Tier lief Julian auf dem Deck in und her. „Irgendwas müssen wir doch tun können, Herr?", fragte Thomas besorgt. Julian stoppte und sah ihn an. „Seht zu, dass die Seawind so bald wie möglich wieder auslaufen kann. Ich werde inzwischen versuchen, mehr über die Chester und die Männer, die Selina entführt haben, herauszufinden.", antwortete Julian und verließ eilig das Schiff. „Also los! Ihr habt gehört, was der Herr gesagt hat. Legt euch ins Zeug!", trieb der Kapitän die Männer an. Die Informationen, welche Julian in den nächsten Stunden zusammentrug, verwirrten und beunruhigten ihn immer mehr. Er verstand nicht, was genau die dunkle Mission der beiden Männer auf der Chester war, aber es musste mit Selina's Vergangenheit zu tun haben. Er wusste nur, dass sie im Auftrag eines reichen, einflussreichen Mannes entführt worden war. Doch wer der Mann war und wo hin man Selina bringen würde, wusste er nicht. Doch eines wusste er, er musste so schnell wie möglich nach Hause, seine Tochter in Sicherheit bringen und dann nach Selina suchen. Und er würde erst aufhören, wenn er sie gefunden hatte. Irgendwie fühlte er sich schuldig.
Als er abends in ihrer Kammer stand, war es ihm als würde er jeden Augenblick ihre Schritte und ihre sanfte Stimme hören. Er hatte lange gebraucht, Eliza zum Einschlafen zu Bewegen. Nun hoffte er, in Selina's persönlichen Sachen irgendeinen hilfreichen Hinweis zu finden. Jedoch fühlte er sich wie ein Eindringling, während er ihre privaten Sachen durchsuchte. Sie würde es sicher nicht billigen, aber er hatte nichts anderes und klammerte sich an jede noch so kleine Möglichkeit mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Gerade jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie wenig er doch über sie eigentlich wusste.
Zwei Tage später war die Seawind wieder auf See. Die Chester hatte nun inzwischen einen Vorsprung von fast einer Woche und ihr Ziel war nach wie vor unklar. Daher hatte Julian beschlossen auf direktem Wege zurück nach Dunston zu segeln und nachdem er seine Tochter in Obhut gegeben hatte, von dort seine Suche zu beginnen. Die folgenden Tage vergingen quälende langsam und er musste sich schon sehr anstrengen, schon wegen seiner Tochter, nicht in Trübsinn zu verfallen. Er bemühte sich, seine Tochter zu unterhalten und sich mit ihr zu beschäftigen. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nun mal Selina nicht ersetzten. So waren sich Julian und seine Tochter schnell einig, dass Selina einfach durch nichts und niemanden ersetzbar war. „Papa?", Eliza schaute ihren Vater fragend an. „Was ist, Prinzessin?" „Du bringst uns doch Selina wieder zurück?" „Das habe ich vor. Ich werde zu mindest nichts unversucht zu lassen, versprochen.", er sah sie entschlossen an. Dabei hatte er noch keine Ahnung, ob er sein Versprechen würde am Ende auch einlösen können. „Wenn Selina wieder zurück ist, kannst du sie dann nicht heiraten, damit sie dann nie mehr weggeht? Selina hat gesagt, das geht nicht." Julian musste lächeln. „So, hat sie das. Hat sie auch gesagt, warum das nicht geht?" „Sie hat gesagt, das reiche Männer keine Gouvernanten heiraten. Das passt nicht, hat sie gesagt.", antwortete Eliza mit trauriger Stimme. Julian verstand, was Selina damit gemeint hatte. „Damit hat sie sicherlich nicht ganz unrecht. Aber weißt du noch, was der alte James immer gesagt hat, wenn ich gesagt habe ‚Das geht nicht!'?" Eliza schüttelte den Kopf. „Er hat dann immer gesagt ‚Geht nicht, gibt es nicht.' und ‚Was nicht passt, wird passend gemacht'." Er lächelte Eliza aufmunternd an. „Dann möchte ich, dass du sie heiratest bitte.", sie sah ihren Vater flehend an. Der strich ihr liebevoll über den Kopf. „Und was, wenn sie aber gar nicht uns heiraten will? Wir müssen sie schon vorher fragen, ob sie das überhaupt möchte." „Ich werde sie direkt fragen, wenn sie wieder da ist.", lächelt Eliza hoffnungsfroh. „Tu das!", antwortet Julian lächelnd.
Selina hatte irgendwann das Zeitgefühl verloren, da in ihr Gefängnis unter Deck nur wenig Licht eindrang. Menschen bekam sie nur ebenfalls nur wenig zu Gesicht und wenn, dann sprachen diese kaum ein Wort mit ihr. Irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie das Gefühl, dass das Schiff sich nicht mehr bewegt und in einem Hafen angekommen zu sein schien. Sie wurde aus ihrem Gefängnis an Deck gebracht. Ihre Augen mussten sich erst nach dem tagelangen Dämmerlicht unter Deck wieder an das helle Tageslicht gewöhnen. Sie kniff die Augen zusammen und konnte zunächst nichts sehen. Man zerrte sie von Bord und setzte sie in eine Kutsche. Dort sass sie einem älteren Mann gegenüber, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser musterte sie sehr genau mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. „Sie sind also Miss Selina Linnard? Die Tochter von Mrs. Elisabeth Linnard?" Seine Stimme hatte ein leicht arroganten Unterton. Sie sah ihn direkt an. Seine Kleidung ließ vermuten, dass es sich um einen höheren Bediensteten eines Adeligen handelte. „Kann schon sein.", antwortete sie etwas schnippisch, „Und wer sind sie?" „Ich bin der Privatsekretär des Freiherrn von Golem.", antwortete der Mann ihr gegenüber und es klang in ihren Ohren wie eine Drohung. „Und wo bringen sie mich jetzt hin?", fragte Selina weiter. „Das werden sie schon früh genug erfahren.", war die knappe Antwort. Er schien genug von ihren Fragen und wandte sich mit einem geringschätzigen Blick von ihr ab. Für den Rest des Weges saßen sie sich schweigend gegenüber.
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