Disziplin
Der Wind blies konstant aus Nordwest und trieb die Seawind vor sich her. Selina saß mit Eliza in der Kajüte und übte mit ihr Rechenaufgaben. Seit sie losgefahren waren, war sie weitestgehend isoliert. Mr. Glendish begegnete sie selten und wenn dann sprach er nur das Notwendigste mit ihr. Die meiste Zeit hatte sie bisher mit Eliza unter Deck verbracht. Nur Abends, wenn Eliza bereits schlief, stand sie an der Reling und sah auf das weite Meer hinaus. Die ersten Tage hatte Selina auch ein wenig mit Seekrankheit zu kämpfen, doch sie hatte es sich schlimmer vorgestellt. Überraschend schnell hatte sie sich an das Leben auf einem schwankenden Schiff gewöhnt.
Eines Abends begegnete sie Thomas an Deck. „Guten Abend, Miss. Herrliche Abendluft, nicht wahr?", lächelte er sie freundlich an. „Ja, wunderbar. Ich liebe es.", erwiderte Selina ebenfalls mit einem Lächeln. „Es gibt nichts schöneres.", bestätigte Thomas. Da erschien plötzlich Mr. Glendish. „Haben Sie nicht noch etwas zu tun statt hier Schwätzchen zu halten?", fuhr er Thomas an. „Ja, verzeihen sie, Sir.", antwortete dieser kleinlaut und eilte davon. Mr. Glendish sah Thomas kurz nach, dann wendete er sich wieder Selina zu. Diese erwartete ihre Strafpredigt, doch Mr. Glendish sah sie nur tadelnd an, schwieg jedoch. Bevor Selina etwas sagen konnte, dreht er sich um und sagte noch leise: „Sie sollten hier oben nicht allein herumlaufen. Es könnte gefährlich sein als einzige Frau allein unter Männern." Es klang eher besorgt als vorwurfsvoll. Selina erschien es beinahe so, dass sie und ihr Wohlergehen Mr. Glendish doch nicht völlig gleichgültig war. Sein Verhalten wurde immer rätselhafter. Selina sah ihm nachdenklich nach. Im Grunde hatte er ja recht, es war nicht ganz ohne Risiko als einzige Frau hier alleine unter Männern. Aber sie hatte sich bis jetzt darüber nicht all zu viele Gedanken gemacht. Sie sah sich um. Der Kapitän stand neben seinem Steuermann am Ruder, die anderen Männer gingen ihrer Arbeit nach, sprachen und scherzten miteinander. Nur einer der Männer schien sie zu beobachten, doch als er ihren Blick bemerkte, wendete er sich rasch wieder seiner Arbeit zu. Plötzlich fühlte sie sich unwohl hier oben und eilte wieder in ihre Kajüte, die sie auch am nächsten Tag bis spät nachmittags nicht mehr verließ.
Eine laute Auseinandersetzung an Deck ließ sie aufhorchen als sie mit Eliza zusammen ein Bild malte. Sie stand auf und ging zur Tür. „Wo gehst du hin, Selina?" „Ich möchte nachschauen, was da oben los ist. Du bleibst bitte schön brav hier und arbeitest weiter an dem Bild. Ich komme gleich wieder." Eliza nickte und nahm wieder den Pinsel. Selina lief zum Niedergang und lauschte. Sie konnte die Stimme des Kapitäns vernehmen, die anderen Stimmen kannte sie nicht. Neugierig stieg sie Treppe rauf und blieb im Schutz des Niederganges stehen. Sie wusste nicht um was es ging, aber sie sah, dass einem der Männer das Hemd herunter gerissen wurde und er bäuchlings an den Mast gebunden wurde. Zum ersten Mal sah sie wie jemand ausgepeitscht wurde. Bei jedem Schlag zuckte sie sie zusammen. „Sie sollten das nicht sehen. Aber Disziplin und Loyalität ist unabdingbar an Bord. Jeder Verstoß gegen die Regeln muss entsprechend sofort bestraft werden, ansonsten sind am Ende Schiff und Mannschaft dem Untergang geweiht.", hörte sie plötzlich neben sich Mr. Glendish mit gedämpfter Stimme sagen. Sie war ein wenig erschrocken, als sie ihn plötzlich neben sich sprechen hörte, denn sie hatte seine Anwesenheit zuvor nicht bemerkt. Er stand neben ihr am Niedergang und Selina sah ihn irritiert an. Er fuhr fort ohne sie dabei anzusehen: „Es dient ebenfalls der Abschreckung und erzeugt Respekt bei der Mannschaft." „Verstehe.", murmelte sie und kehrte nachdenklich zurück unter Deck. „Was war denn passiert.", fragte Eliza neugierig als Selina wieder die Kajüte betrat. Sie überlegte kurz und wählte dann ihre Worte mit Bedacht: „Einer der Männer war ungehorsam. Und wenn man ungehorsam ist, dann wird man dafür bestraft." Eliza sah fragend Selina an: „Und hat es ihm dann leid getan?" „Ich denke schon." Selina lag in dieser Nacht noch lange wach. Sie dachte über die Ereignisse lange nach. Sie konnte die von Mr. Glendish vorgebrachten Gründe für solch drakonische Strafen in gewisser Weise verstehen, dennoch fand sie es grausam. Und noch etwas beschäftigte sie. Mr. Glendish hatte zum ersten Mal sie direkt und in einem normalen Tonfall angesprochen, aber dennoch hatte er sie dabei wieder nicht angeschaut. Sein Verhalten war und blieb für sie nur schwer verständlich.
Es war ein herrlicher Sonnentag und Selina beschloß, den Unterricht an Deck zuverlegen. Dafür sprach sie mit Kapitän Highflower darüber, als Mr. Glendish gerade nicht in der Nähe war. "Kapitän, darf ich sie etwas fragen bzw. um etwas bitten?" "Gerne, was kann ich denn für sie tun, Miss Linnard?", fragte der Kapitän interessiert. "Ich würde bei dem schönen Wetter den Unterricht gerne an Deck in der Sonne abhalten. Ich möchte allerdings so wenig wie möglich den Ablauf hier stören. Daher frage ich sie, wo wir uns einrichten könnten ohne dass wir irgendwem im Weg sind?" Selina sah den Kapitän bittend an. Dieser dachte kurz nach, dann zeigte er auf das Achterschiff. "Dort oben auf dem Achterdeck stören sie am wenigsten und können sie sich gerne etwas einrichten.", antworte der Kaptitän und wendete sich danach direkt wieder seiner Arbeit zu. Kurze Zeit später, sie hatte sich gerade mit Eliza auf dem Achterdeck niedergelassen, da erschien Mr. Glendish. "Was machen sie hier oben?", fragte er leicht verärgert. Bevor Selina etwas erwidern konnte, war Eliza schon zu ihrem Vater gelaufen: "Aber Papa, es ist soooo schönes Wetter und unten ist es so dunkel. Da kann ich gar nicht so gut lernen. Nicht böse sein. Wir sind auch ganz brav und stören niemand. Sogar Kapitän Highflower hat es erlaubt, sagt Selina." Eliza drückte sich an ihren Vater, dessen Ärger direkt wieder verflogen war. Er nahm sie auf den Arm. "Na, wenn sogar der Kapitän nichts dagegen hat, dann kann ich auch nichts dagegen haben. Dann genießt die Sonne und sei schön fleissig, Spätzchen.", lächelte er sie an und stellte sie wieder auf den Boden. Er nickte Selina kurz zu und verließ wieder das Achterdeck. Selina war erleichtert und Eliza dankbar, denn sie hatte schon wieder mit einer Strafpredigt gerechnet, aber Eliza verstand es gut mit ihrer kindlichen Unbekümmertheit, ihren Vater immer wieder milde zu stimmen.
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