Versprechen
Versprechen
Plötzlich wachte sie auf. Sie wusste nicht ob sie das Geräusch nur geträumt hatte, oder ob es Wirklichkeit war. Der Sommerwind bauschte die Vorhänge wie Segel, die sich unruhig bewegten. Das silberne Licht des Mondes zeichnete gespenstische Schatten in den Raum......
Langsam öffnete sie ihre Augen und blinzelte um ihren Blick zu fokussieren. In der Ferne hörte sie die Kirchturmuhr.
Dreiundzwanzig Uhr, wie das schwarzhaarige Mädchen verärgert feststellte. Da wollte sie einmal früh schlafen gehen und dann so was. Sie hob den Kopf und versuchte auszumachen, was sie geweckt hatte, doch der Raum war leer. Nur die Spinne, die sie schon vor Wochen töten wollte, aber nicht ran kam, kauerte in ihrem Netz links über ihr und schlief.
Oder was Spinnen in der Nacht so taten.
Absolut nichts war zu sehen oder zu hören. Geschlagen schloss das Mädchen die Augen und rollte einfach kurzerhand aus dem Bett, wissend, dass sie so oder so für eine Weile nicht schlafen würde. Mit einem lauten Knall landete sie bäuchlings auf dem Boden und rappelte sich auf, ehe sie den Staub von ihrem mintgrünen Pyjama klopfte und barfuß durchs Zimmer stapfte um ins Bad zu verschwinden. Vor dem Spiegel blieb sie stehen und sah auf ihr Spiegelbild, das durch die zerzausten pechschwarzen Haare nur noch grotesker als sonst aussah. Zwei verschiedenfarbige Augen sahen ihr entgegen. Das rechte war von einem satten Grün, doch das andere war blau welches durch das hereinfallende Mondlichtlicht silbern schimmerte.
Ihr Name war auch nicht das, was die Gesellschaft als 'normal' bezeichnete. Arely war ein Name, der selten irgendwo zu lesen war. Als sie als kleines Mädchen gefragt hatte, warum sie so komisch hieß, antworteten ihre Eltern nur mit kryptischen Worten, die sie sogar heute noch nicht verstand.
Ihr Name bedeutet Versprechen und ist ein Versprechen das älter ist, als sie sich vorstellen könnte.
Mit Trauer, dachte sie an diese Menschen zurück, die vor 3 Jahren spurlos verschwanden und nie wieder auftauchten. Wie eine Seifenblase, die ein Stück Luft in sich einschloss und es freigab, sobald die dünne Seifenschicht platzte. Ein dämlicher Vergleich, doch sie brachte es mit diesen Leuten in Verbindung. Da war keine Vergangenheit, keine Zukunft. Niemand wusste von den beiden, bis sie plötzlich da waren. Mit einem Kind.
Mit ihr.
Keine Aufzeichnungen. Keine Geburtsurkunde, keine Dokumente jeglicher Art. Nichts. Auf ihrer Suche nach den beiden Personen stieß sie auf Leere. Auf Menschen, die nie existiert hatten. Erst vor einem Jahr gab sie auf. Was machte es für einen Sinn nach Menschen zu suchen, die anscheinend nie existiert haben? Arely schüttelte den Kopf und versuchte die Erinnerungen zu verdrängen. Sie loszuwerden und wieder ganz hinten in ihrem Bewusstsein zu verstauen. Sie spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und verließ das Bad wieder. In ihrem Zimmer stellte sie sich vor das Fenster und sah hinauf zu dem rötlich schimmernden Vollmond. Heute Nacht war Blutmond, aber noch hatte er nicht die volle Intensität erreicht. Arely lächelte etwas in sich hinein. Er war immer da. Egal was geschehen war, was geschah oder was geschehen wird.
Der Mond war immer da.
Beschützend.
Wachend.
Leitend.
Wie eine Katzenmutter, die über ihre Jungen wachte. Seit sie denken konnte, stand sie nachts immer am Fenster und sah nach draußen. Doch heute war etwas anders. Etwas zog an ihrem Verstand, wollte sie in den Wald zerren. Anfangs war es nur ein leichter Drang, doch mit der Zeit die verging, wurde es stärker. Immer fester, wurde die seltsam vertraute Kraft, die sie in den Wald zog.
Arely gab sich geschlagen und ging durch die Hintertür und stand direkt vor dem Wald. Das Mädchen sog die nächtliche Luft ein und schloss nur kurz die Augen. Sie fühlte sich nicht mehr so eingeengt. Nein, sie fühlte sich frei wie schon lange nicht mehr. Viel zu lange hatte sie Zeit in diesem Haus verbracht. Der Geruch von Holz und frischem Gras erfüllte die Luft und weckte ihre Sinne. Arely fror nicht, im Gegenteil, ihr war warm. Sie fühlte sich beschützt. Geborgen, hier, unter dem blutenden Mond. Der aufkommende Wind brachte die Blätter der Bäume zum Rascheln und die verschiedensten Geräusche hallten durch die Nacht.
Arely öffnete ihre Augen. Hätte sie sich selbst in diesem Moment gesehen, dann hätte das seltsame Mädchen vielleicht bemerkt, dass ihre Augen, nur für eine Sekunde, blutrot schimmerten, wie der Mond der hoch über ihr seine Bahnen zog.
Arely grub ihre nackten Zehen in die Erde und stieß sich mit aller Kraft ab. Mit unglaublicher Geschwindigkeit rannte sie auf den Wald zu, während ihre Haare hinter ihr herwehten, wie eine schwarze Wolke. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie lief oder was ihr Ziel war. Es war wie ein uralter Instinkt der sie führte und leitete. Sie kam nicht mal dazu sich zu wundern, oder sich gar Sorgen zu machen. Auch wenn sie es versuchte. Jeder Gedanke wurde zurück in die hintersten Ecken ihres Unterbewusstseins gedrängt und dort im Keim erstickt. Jeder ‚normale' Mensch wäre allein schon vor dem dunkeln Wald zurückgeschreckt, während sie geradewegs hineinlief. Doch weder kam ihr der Wald dunkel vor, noch war sie normal. Sie lief einfach nur und hatte das Gefühl, als würde sie nie wieder stehenbleiben, als würde sie ewig laufen. Äste verfingen sich in ihrem Haar und teilweise verlor sie auch ein paar an Büschen, die ihre Äste wie Krallen nach dem Mädchen ausstreckten, als wollte der Wald sie aufhalten. Steine bohrten sich in ihre Fußsohlen und schnitten die empfindliche Haut dort auf. Doch eine seltsame Leichtigkeit hatte Besitz von ihr ergriffen.
Könnte Arely im Moment klar denken, würde sie ihren besten Freund dafür verantwortlich machen. Einfach aus dem Grund, weil er mal etwas in ihren Drink gemischt hatte und die gesamte Geschichte damit endete, dass sie am nächsten Tag in ihrem Garten aufwachte und ein Schaf vorfand.... Das wäre nicht so schlimm gewesen, wäre da nicht die Tatsache, dass sie gar kein Schaf besaß.
Arely lief und lief und lief. Mittlerweile hatte sie die Orientierung vollständig verloren, aber es war ihr egal. Schlitternd kam sie vor einer Ruine zum Stehen und sah sich um. Zart strichen ihre Finger über die verwitterten Steine. Es war die Ruine eines alten Hauses, wie es aussah, aber sie hatte nie von irgendwelchen Ruinen hier im Wald gehört. Nur eine alte Legende existierte, doch sie interessierte sich nicht so für Legenden. Ja, sie mögen ein Körnchen Wahrheit enthalten, aber im Endeffekt waren Legenden nichts anderes als Märchen in ihren Augen.
„Ich kenne diesen Ort...", murmelte das Mädchen. Ihre Schritte hallten an den verfallenen Wänden wieder und mit jedem Schritt hinterließ Arely einen blutigen Fußabdruck aber die Schmerzen blieben aus. Warum auch immer, seltsamer war, dass sie diesen Ort kannte. Doch sie könnte schwören, dass sie noch nie hier gewesen war. Sie war in ihrem Leben nie so tief in den Wald gelaufen wie heute. Stille beherrschte den Ort und selbst die Waldgeräusche waren verstummt. Arely richtete ihren Blick nach oben. Die Decke der Ruine war nicht mehr intakt, nur ein Teil klammerte sich verzweifelt an die Wand, gehalten von den Wurzeln einer kleinen Fichte, die auf dem höchsten Punkt wuchs. Den Mond konnte sie nicht sehen, vermutlich war er hinter den Mauern versteckt. Arely erblickte etwas, was wie ein Gartentor aussah und schritt bedächtig hindurch.
Was sie erblickte konnte sie nicht beschreiben. Nein, wirklich nicht. Ihre Augen begannen zu strahlen. Vor ihr lag einen Wiese. Ein kleiner Bauch plätscherte leise vor sich hin und sie konnte etwas erkennen, dass einmal eine Brücke gewesen sein könnte. Alles wurde in einen magischen Schein getaucht, durch das immer noch rote Licht des Mondes. Kurz, für eine Sekunde blitze ein Bild durch ihren Kopf. Eine Erinnerung die nicht ihre sein konnte und doch, hatte sie etwas Vertrautes, was sie mit Entsetzen erfüllte.
Eine Schlacht, so blutig, das selbst der Mond blutete.
Arely fuhr herum und stand Auge in Auge mit einem riesigen Wolf. Blutrote Augen bohrten sich in ihre und ließen sie erstarren. Die Farbe des Felles ließ sich nicht mehr ausmachen unter all dem Dreck und ...und Blut. Das Mädchen stellte mit Entsetzen fest, dass das nicht mal das Verstörendste war. Ein Pfeil steckte in der Schulter des Tieres und die Haut wurde von etlichen Wunden verunstaltet. Von den Lefzen tropfte Blut und gesellte sich zu ihren blutigen Fußabdrücken. Doch so erschreckend die Erscheinung auch war, der Ausdruck in den Augen des Wolfes schlimmer. Er war so voller Leid und er wirkte uralt.
‚Wächter', schoss es ihr durch den Kopf. Das Tier stand einfach nur da, die kummervollen Augen auf sie gerichtet. Arely hob zaghaft ihre Hand. Angst hatte sie keine, und genau das machte ihr wiederum Angst. Aber sie zog die Hand nicht zurück. Nein, langsam strich sie über den großen Kopf, vorsichtig, um keine der Verletzungen zu berühren, was garnichtmal so leicht war. Als sie die Hand zurückzog öffnete das Tier das Maul und sprach ein einziges Wort.
„ Versprechen."
Ihr Verstand wurde mit Bildern und Erinnerungen geflutet.
Erinnerungen die so viel älter waren als sie selbst.
Überall war Blut. Arely befand sich direkt neben einem Schlachtfeld auf einer kleinen Anhöhe und konnte nur leidend auf ihre sterbenden Kameraden blicken. Sie konnte sich nicht bewegen, ihr Körper handelte eigenmächtig. Sie fühlte sich auch anders. Doch sie wusste erst, was anders war, als sie sich umdrehte. Sie...sie war ein Wolf. Mindestens so groß wie der, vor dem sie eigentlich gerade stand. „Arely.... es ist vorbei. Wir haben verloren..."
„Ich habe es gesehen Faol. Sie sind alle Tod...dieses Schlacht war so sinnlos..." Sie drehte sich nochmal um und sah hinab. Die Schlacht war zum Stillstand gekommen. Nichts regte sich. „Selbst der Mond blutet.", merkte Faol an als er neben sie trat und seine roten Augen gen Himmel richtete.
„So etwas darf nie wieder geschehen. Ich lasse das nicht zu!" Faol sah besorgt zu seiner Freundin.
„Du weißt, was du da gerade sagst. Wenn du es verspricht, wirst du nie Frieden finden. Nie."
„Was bringt mir der Frieden, wenn ich weiß, dass es auf der Erde nie wieder so sein wird. Nein! Ich kann nicht gehen, wissend, dass es sich wiederholen wird. Da unten liegt auch Keyla... Faol, sie war praktisch nur ein Welpe! Die einst mächtigsten Völker liegen hier. Zerstört nur wegen Macht..."
Arely richtete nun selbst ihren Blick auf den Mond.
„Ich schwöre zu wachen in diesem Leben, und in dem was noch kommen wird."
Augenscheinlich geschah nichts, doch Arely spürte die Macht, die hinter diesen Worten lag. Ein Seitenblick zu Faol bewies, das auch er es gespürt hatte.
Die Erinnerung verschwand und Arely befand sich wieder in der Gegenwart. Jetzt war sie auch in der Lage, den Wolf vor ihr zu identifizieren.
„Faol", wisperte das Mädchen, das mit einem Schlag plötzlich viel älter wirkte, obwohl sie sich äußerlich nicht verändert hatte. Ihr alter Freund sah sie nur an, mit diesen traurigen Augen und Arely verstand. Er hatte nicht geschworen. Seine Zeit auf Erden war begrenzt.
„Ich wollte dich sehen, ein letztes Mal." Er lächelte.
„Ein letztes Mal...", Arely legte die Hand auf seine Wange und lächelte den Wolf an, der für sie wie ein Gefährte war.
„Leb wohl, alter Freund. Lebe in Frieden."
Sie blinzelte und der riesige Wolf war verschwunden. Faol hatte ein langes Leben gelebt, doch die Nachbeben der finalen Schlacht hatten auch ihn letztendlich das Leben gekostet. Sie war die Einzige, die noch übrig war und sie würde es immer sein.
Sie sah hinauf zum Blutmond, der sich inzwischen tiefrot gefärbt hatte.
„Ich bin bereit.", sprach sie und schloss die Augen um sich auf das Kommende vorzubereiten.
Die Verwandlung war schmerzhaft und anstrengend. Sie war ein Mensch, ihr Skelett musste sich komplett neu strukturieren und das war schmerzhaft. Ihre Knochen begannen zu brechen und sich zu verschieben, ehe sie wieder zusammen wuchsen. Arely verlor die Zeit aus den Augen, doch das war es wert, als sie sich aufrappelte und endlich wieder auf allen Vieren stand. Das schwarze Fell glänzte seidig schwarz. Sie wollte rennen und den Wind in ihrem Fell spüren was ihr so lange verwehrt blieb.
Und so rannte sie, vorbei an der Ruine die einst vor tausenden von Jahren ihre Zuflucht gewesen war, vorbei an den Bäumen und Felsen. Arely rannte, so schnell wie nie zuvor, und sie liebte es. Sie würde ewig rennen.
Denn ihr Name war ein Versprechen. Ein Versprechen an die Nacht und an den Mond, über alle Zeit zu wachen und niemals zu schlafen. Nur zu wachen.
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