Grün oder Rot?
»Die Grüne oder die Rote? Die Grüne oder die Rote?«
Ich scrollte durch das Nachrichtenfeed meines Telefons und dachte, meine Freundin würde mit sich selbst sprechen – was sie ständig tat –, also antwortete ich ihr nicht.
»Grün oder Rot? Grün oder Rot?!«
Ihre Stimme wurde bei jeder Frage ein wenig lauter. Ich sah mich verwirrt um, aber weil wir uns um 21.55 Uhr und damit kurz vor Ladenschluss bei Kaufland in einem abgelegenen Teil der Stadt befanden, war hier niemand außer uns. Also sah ich irritiert wieder zu ihr.
Versuchte sie absichtlich den Eindruck zu erwecken, sie sei verrückt oder war das nur Beiprodukt einer anderen Aktion?
Als ich auf sie herabblickte, sah sie trotzig zu mir herauf.
»Sag mal, hat‘s dir mit einem Mal die Sprache verschlagen?«, fragte sie herausfordernd.
Ich sah sie mit großen Augen an. Weiterhin unfähig etwas zu erwidern, tippte ich mir selbst auf die Brust, ehe ich mich ein weiteres Mal im Supermarkt umsah. Immer noch war niemand anderes in der Nähe.
»Ja, du, Großer!«, erklärte sie lachend und hielt mir beide Optionen von Lakritze direkt vor die Nase, wobei sie sich sogar auf die Zehenspitzen stellte. »Grün oder Rot?«
Mit einem angewiderten Laut schob ich ihre Hände von meinem Gesicht weg. Allein der Gedanke an den salzig-süßen Lakritzgeschmack löste in mir Übelkeit aus.
»Weder noch, wenn ich dich heute noch küssen soll«, erwiderte ich und sah erneut auf mein Telefon.
Vor dieser kleinen Unterbrechung hatte ich einen Artikel darüber gelesen, dass bereits fünfzig Prozent des Wildlebens ausgestorben waren – in den letzten fünfzig Jahren. Mittlerweile war die Wissenschaft sich einig: Wenn wir nichts an unserem Konsumverhalten ändern würden, dann könnte in fünfzig weiteren Jahren die Erde unbewohnbar sein.
Nina seufzte theatralisch und warf beide Packungen zurück ins Regal. »Ich wollte eh lieber Nüsse. Die machen auch weniger fett.«
Während sie sich abwandte und den Gang der Fruchtgummiabteilung hinabging, seufzte ich ebenfalls. Ich nahm die beiden Lakritzpackungen wieder aus dem Regal.
Es wäre egal gewesen, welche sie ausgesucht hätte. Sie hätte im Endeffekt ihre Entscheidung sowieso bereut. Ich war es gewohnt, stundenlang mit ihr im Supermarkt zu verbringen und Online-Artikel zu lesen, während sie vor Regalen stand und mit den Produkten sprach.
Mit der Lakritze in der Hand folgte ich ihr in die Nussabteilung und starrte in die Regale voller bunter Plastikverpackungen, die im grellweißen Neonlicht glänzten.
In fünfzig Jahren wäre ich erst siebzig.
Ich konnte mir eigentlich nicht richtig vorstellen, was es bedeuten sollte, dass die Erde bis dahin unbewohnbar sein könnte.
»Wir sollten das nächste Mal in einen Unverpacktladen gehen«, bemerkte ich tonlos.
»Was‘n das?«, nuschelte Nina unaufmerksam, während sie in einer Hand Cashewnüsse gegen Erdnüsse in ihrer anderen Hand abwägte.
»Geschäfte, in denen es keine Plastikverpackungen gibt«, erklärte ich, während ich begann, sie sanft an der Schulter in Richtung Kasse zu dirigieren. Ich war müde und hatte alle Zeitungsartikel, die mich interessierten, bereits gelesen. Mehr Weltuntergangsszenarien konnte ich für heute nicht verarbeiten.
»Hey, aber ich hab mich noch gar nicht entschieden!«, protestiere Nina, immer noch beide Nusspackungen in den Händen haltend. Als habe sie sich aber damit abgefunden, dass sie sich auch nicht mehr entscheiden würde, begann sie trotzdem in Richtung der Kassen zu gehen.
Ich bin echt überrascht gewesen, dass sie entschieden hatte, sich letztes Jahr für mich zu entscheiden. Manchmal standen andere Typen in meiner Nähe herum. Warum war sie da nicht so abwägend? Ich war mir sicher, dass ich nicht die beste Option auf dem Markt war.
Vielleicht weil ich in weniger Plastik verpackt war als andere?
Vielleicht weil ich manchmal Metaphern verwendete, die keinen Sinn ergaben?
Vielleicht weil ich geduldig genug war, ihr Gesellschaft zu leisten, während sie ungeduldig wurde?
Sie konnte sich in ihrem Leben für Vieles nicht entscheiden.
Für einige Dinge entschied sie sich vehement: dafür keine Tiere zu essen, dafür Tinte für immer auf ihrer Haut zu tragen und ihren Körper für Piercings durchlöchern zu lassen, dafür Pazifistin zu sein. Sie entschied sich auch dafür, mein Verhalten zu tolerieren, obwohl ich las, wenn sie mit mir sprach.
Nina war ein Paradoxon auf lächerlich kurzen Beinen. Ich war schon immer fasziniert von Widersprüchen, die doch irgendwie Sinn ergaben.
Weil ich verantwortlich dafür war, dass sie alles in doppelter Ausführung kaufte, bezahlte ich den Einkauf auch.
War es scheinheilig über Klimawandel zu predigen und dann Lakritze und Nüsse in Plastikverpackung zu kaufen – alles zweimal?
Vermutlich.
War es überhaupt möglich, nicht scheinheilig in einem System zu leben, das man grundlegend für falsch hielt?
Vermutlich nicht.
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