Kapitel 6 - Geflüchtet und Gewünscht
Will floh aus der Bibliothek durch die Gänge, und dann raus in den Garten. Die frische Luft entspannte ihn immer.
Er suchte den nächsten Weg, graue, ordentliche Steine, alle gleichgroß, alle gleich, und folgte ihm.
Er fand sich auf einem kleinen Platz wieder. Die Steine bildeten einen Kreis, und in der Mitte war eine Rose.
Sie war groß, größer, als Will es sich vorgestellt hatte. Bestimmt zwei, drei Meter.
Er kam näher und fuhr mit den Fingerspitzen über die Pflanze.
Die Blätter waren dünn und rau, die Blüten weich, und feucht, und leicht klebrig.
Die Dornen waren nicht spitz, eher... angespitzt. Sie durchbohrten nicht seine Haut, sondern hingen eher an ihr fest.
Vorsichtig nahm er die größte Blüte in beide Hände und roch. Sie roch nach nichts.
Er schnaubte enttäuscht.
„Nicht so herausragend, wie Bücher sie beschreiben, was?", fragte eine Stimme neben ihm.
Will sah das Mädchen überrascht an. Er war zu ausgelaugt um sich zu erschrecken.
„Ja. Irgendwie enttäuschend," murmelte er. „Wer bist du?"
„Hazel, Hazel Levesque, ich bin Nicos Schwester," stellte sie sich vor. Will musterte verwirrt ihre dunkle Haut.
„Halbschwester," erklärte sie, ohne dass ihr Lächeln wankte. Will wurde rot.
„Ja, Entschuldigung. Ähm. Ich bin Will Solace," sagte er und verbeugte sich leicht. Er war sich immer noch nicht sicher, wie er sich seinen Höhergestellten gegenüber zu verhalten hatte.
Aber er konnte Franks rote Wangen verstehen, sie war wirklich ein hübsches Mädchen.
„Ich weiß, Nico hat mir von dir erzählt. Tut mir leid mit ihm, er ist etwas schwierig," entschuldigte sie sich. Will winkte ab.
„Kein Problem, meine Reflexe wurden noch nie so gut trainiert."
Sein Scherz traf nur auf ein verwirrtes Lächeln.
Nico erzählte seiner Schwerster vermutlich nicht, dass er regelmäßig mit Gegenständen nach anderen warf.
Hazels Finger fuhren einen der Stängel entlang.
„Ich erzähle dir jetzt ein Geheimnis, ja?", sagte sie, ohne die Augen von der Blume zu wenden.
„Ich habe unserem Vater gesagt, dass er dich kaufen sollte."
Will beobachtete sie aus dem Augenwinkel.
„Ich sagte ihm, dass er jemanden kaufen sollte, der etwa so alt ist wie Nico, und der blond ist, und der blonde Haare hatte, und der nett und hübsch ist."
Sie musterte ihn.
„Er hat gut eingekauft. Du siehst Jason wirklich ähnlich, jedenfalls vom Typ her."
„Jason? Der mit der Narbe?"
Hazel nickte. Also war der Jason, von dem Frank und Reyna geredet hatten, der gewesen. Der, von dem die vielen Bilder in Nicos Zimmer hängten.
„Nico malt ihn immer. Ständig. Es ist zu einer Obsession geworden." Sie seufzte.
„Sie waren beste Freunde, seit Jahren. Nico und Jason, unzertrennlich. Selbst wenn sie in einer Beziehung waren, oder umgeben von anderen, sie waren immer zusammen. Sind zusammen zur Schule gegangen, auf Partys, Wandern, überall hin. Jason hat Nico länger gekannt als ich. Und dann... Hör zu, klar? Ich erzähle dir das nur, weil Nico es nie tun würde, und es ist wichtig, dass du ein paar Dinge weißt. Jeder sonst kennt die Geschichte. Sag ihm aber nicht, dass du es weißt, sonst wird er... ich weiß nicht. Er war noch nie wütend auf mich, aber ich möchte nichts riskieren. Und ich möchte auch nicht, das du das dann ausbaden musst."
Mit den Fingernägeln löste sie eine Dorne von der Rose, führte sie zu ihrem Mund und strich mit der Spitze über ihre Lippen.
„Sie waren auf einer Party, hatten etwas getrunken, vielleicht auch etwas anderen genommen, sie hatten Spaß. Aber... Jason und seine Freundin haben sich auf der Party getrennt. Und er war so, so aufgebracht. Er wollte weg. Nico und Jason warfen all die Vorsicht in den Wind, und sie fuhren los. Nico saß am Steuer, er hatte etwas weniger getrunken, und Jason weinte. Er hat mir das nur einmal erzählt, im Krankenhaus. Und dann kamen sie von der Straße ab."
Die Dorne verhakte sich in einer Unebenheit auf ihrer Lippe, doch sie riss weiter, und die Haut wurde durchbohrt.
Ein kleiner Bluttropfen bildete sich. Sie leckte ihn langsam ab, vollkommen in Gedanken versunken.
„Jason starb. Nico hatte nur eine gebrochene Rippe, und ein paar Abschürfungen. Der sicherste Platz ist immer der des Fahrers. Das war vor einem Jahr. Etwas mehr als einem. Seitdem ist er ein Wrack."
Ihre Stimme brach, und sie sah Will an.
In ihren goldenen Augen standen Tränen.
„Er war nie ein Sonnenschein, aber er war sanft, und freundlich. Er war immer, immer freundlich," flüsterte sie. „Bitte, hilf ihm. Ich- Ich will nur meinen Bruder wieder."
Will blieb vor den Rosen stehen, selbst als Hazel gegangen war. Das Orange des Himmels wurde dunkler und dunkler.
Ähnlich wie die Rose war auch die Nacht eine Lüge.
Die Nacht war nicht Schwarz, und auch nicht Dunkelblau. Jedenfalls nicht immer, oder nur manchmal.
Heute war sie Anthrazitgrau.
Sterne füllten das ganze Himmelszelt. Kleine, glitzernde Punkte. Man konnte die Faszination der frühen Astronomen verstehen.
Will saß auf den Steinen und sah zu ihnen auf. Diesmal zuckte er zusammen, als sich jemand neben ihm bewegte.
Es war Nico.
Wills Überraschung war weniger, dass er so nah war, und mehr, dass er außerhalb des Hauses überhaupt existieren konnte.
Es war, wie einen Lehrer außerhalb der Schule zu sehen.
Surreal und etwas unheimlich.
„Kann ich Ihnen helfen?"
Nico seufzte und schüttelte den Kopf.
„Ich wollte mich entschuldigen. Ich war ein Arsch."
Will sah ihn aus großen Augen an.
„Hah, stell dir vor, ich würde das ernst meinen," schnaubte Nico, und Will entspannte sich.
Es war beruhigend zu wissen, dass das Arschloch unter der harten Schale immer noch ein Arschloch war.
„Dad hat mir einen Einlauf gegeben. Anscheinend hat uns jemand auf dem Balkon gesehen, als ich dir die Blumen gezeigt habe, und er dachte, ich hätte versucht, dich zu erwürgen oder über das Geländer zu werfen."
Solange es einer von uns beiden ist, ist mir das recht.
„Und er hat mir gedroht. Wenn ich mich nicht mit dir anfreunde, dann holt er mir einen Babysitter. Und du bist wenigstens vollkommen inkompetent und dumm, dass ist mir lieber als irgendjemand, der wirklich weiß, was er tut."
Will war unsicher, ob er beleidigt sein sollte oder nicht.
„Also, komm morgen, wir können so tun, als wären wir Freunde."
Der andere Junge stand auf und streckte sich.
„Ich habe dir übrigens das hier als eine Art... Beschwichtigung mitgebracht."
Er drückte Will ein Buch in die Hand.
‚Entfremdete Arbeit'.
„Kommunismus," erklärte er und kratzte sich am Kopf. Will fuhr überrascht über den Titel.
„Danke," murmelte er. Nico winkte ab.
"Das Buch kommt in jeder grundlegenden schulischen Bildung dran. Kein Wunder, dass du es nicht kennst," sagte er abfällig und ging ein paar Schritte zurück auf das Haus zu.
Dann drehte er sich noch einmal zu ihm um.
„Warum steht eigentlich Carissima auf deinem... Halsband?"
Das Wort rollte anders von seiner Zunge als Will es gewohnt war, als gehörte das Wort darauf, als wäre es geschaffen worden, um so ausgesprochen zu werden.
„Was?" Will tastete nach dem Band um seinem Hals.
„Ah, das ist der Laden, in dem ich mich verpfändet habe," erklärte er.
Nico grinste. Es wirkte weniger, wie echte Freude, und mehr, wie ein Hai, der einen arglosen Schwimmer mitten im Ozean entdeckt hatte.
„Okay, dann bis morgen, Carissima."
Will runzelte die Stirn. „Warum nennst du mich so?"
„Weil ich nicht weißt wie du heißt, und du es mir auch nicht wert bist, es mir zu merken, und da stehen nur zwei Namen drauf. Da ich dich nicht ‚Nico di Angelo' nennen möchte, ist es Carissima. Bis morgen."
Und er war weg. Will fuhr über sein Halsband. Seine Fingernägeln kratzten über die Gravur.
Carissima.
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