Kapitel 4 - Unterrichtet und Untergeben
Will klopfte lautstark an die Tür.
Dabei versuchte er, das ‚Bleib draußen oder geh sterben' zu vermeiden.
Die Ecken sahen recht scharf aus, und kleine Splitter fielen schon davon, wenn man etwas schneller an dem Holz vorbeiging.
„Verpiss dich," kam die Antwort von drinnen.
Will versuchte nicht zu seufzen.
Seit drei Wochen war es jedes Mal dasselbe.
Der Junge wollte sich einfach nicht mit ihm anfreunden, und dabei tat Will alles, was er konnte. Er hörte seine schreckliche Musik, las die deprimierenden Bücher und versuchte die ganze Zeit Kontakt zu ihm aufzunehmen.
Er versuchte alles.
Es war nicht seine Schuld, dass der Junge ihn hasste. Und was noch schlimmer war als dessen ständige Zurückweisungen und Beleidigungen waren die Blicke seines Vaters, der Will manchmal aus seinem Arbeitszimmer beobachtete.
Er fühlte sie in seinem Rücken, eine ständige Warnung und Erinnerung, dass er teuer gewesen war, und anscheinend nicht richtig funktionierte.
Er war defekt.
Er öffnete die Tür mit einem Lächeln, so wie jeden Tag, und duckte sich gekonnt, um dem an schwirrenden Gegenstand auszuweichen, den Nico nach ihm warf. Es war eine Mütze. Will hob sie auf und legte sie auf eine Kommode, zusammen mit den anderen Dingen, die er aufgesammelt hatte.
Niemand stellte sie weg, und so entstand eine Sammlung der merkwürdigsten Art.
Klamotten, Becher, Teller, Stifte und eine Lampe, von einem besonders schlechten Tag.
„Nicht getroffen," lachte er, und Nico stöhnte genervt.
„Geh weg."
„Kann ich leider nicht, tut mir leid."
Will kam näher an ihn heran und spähte über seine Schulter.
Der Junge malte wie so oft, diesmal nicht das Porträt des Blonden mit der Narbe, sondern Blumen, rosa und lila, die das ganze Blatt bedeckten. Er hatte die Blumen noch nie gesehen, aber er erinnerte sich an ihr Bild aus Büchern.
Dort hatte er sich Rosen aber anders vorgestellt, viel größer und... anmutiger. Weniger wild und in Gruppen auftretend.
Ihre Farben gingen flüssig ineinander über, und trotzdem sah man klare Konturen.
„Das sind sehr schöne Rosen," versuchte er ihm ein Kompliment zu geben. Nico hielt inne, legte den Pinsel nieder und rieb sich die Schläfen.
„Das sind keine Rosen, du Idiot. Das ist verfickter Rhododendron, das ist nicht mal entfernt mit Rosen verwandt.
Und die Farben stimmen überhaupt nicht, Rosen sind viel röter, selbst die die nicht rot sind.
Was, gab es in deinem Schulbuch nur Bilder von Rosen, oder war dass die einzige Pflanze, von der du dir den Namen merken konntest, abgesehen von Hanf und Mohn? Oder hattet ihr nicht genug Geld für die Farbkopie?
Gott, das nächste Mal, dass Dad jemanden für mich kauft, sollte der besser gebildet sein."
Will ging einen Schritt zurück.
Etwas in seinem Inneren zitterte, wankte.
Es zog sich von seinem Magen bis ins einen Hals, wie ein Faden, der wippte. Als hätte jemand an der Saite einer Gitarre gezupft, die in seinem Brustkorb lag.
Er schluckte.
Ein Teil von ihm wand sich vor Scham, vor dem Gefühl, klein, dumm und hässlich zu sein.
Ein anderer Teil zitterte und wankte, kurz davor umzukippen und den Kopf den Jungen solange auf das Bild des Rhododendrons zu schlagen, bis seine Nase brach und die Blume in dem richtigen Rotton färbte. Seine Hand zitterte.
„Es tut mir leid," sagte er. „Ich habe noch nie eine Rose gesehen. Oder Rhododendron."
Nico sah ihm zu ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, in die Augen.
„Wie, du hast noch nie eine Rose gesehen? Du hast doch schon Blumen gesehen, oder? Rosen sind nicht gerade selten. Es ist keine verdammte Titanwurz.
Hattet ihr keine im Garten? Warst du noch nie im Park? Oder Museum?"
Wir hatten keinen Garten und in einem 50 Kilometer Radius von meinem Haus gibt es keinen einzigen Park, dachte Will. Alle Museen gehören Privatpersonen, man kommt da ohne Einladung nicht rein.
„Nein, tut mir leid."
Warum entschuldige ich mich?
„War jemand Gebildetes zu viel verlangt? Ernsthaft."
Der Junge seufzte und stand auf, packte Will am Kragen und zerrte ihn auf seinen Balkon. Er drückte ihn gegen das Gitter und deutete in den Garten.
„Da, die Beete. Da sind Lilien, die, die aussehen wir umgedrehte Röcke, Rittersporn, die Lila Wurstfinger, die runden Bälle sind Hortensien, das Lila da ist Lavendel.
Und jetzt da, das lange Beet, dass sich windet? Begonien.
Die Büsche da hinten die aussehen wie unordentlicher Rittersporn ist Flieder, die Bäume da hinten, zwischen den Teichen, sind Magnolien, dann sind da noch Astern, Dahlien, und hier unten, da, guck," er packte Wills Kopf und zwang ihn, direkt nach unten zu gucken, und dann noch etwas weiter, so, dass sie beide sich am Geländer festhalten mussten, um nicht zu fallen.
„Das, sind Rosen. Klar? Rot, stachelig, klassisch. Rosen. Merk dir das, klar? Du kannst nicht so rumlaufen, sonst wird das peinlich für jeden."
Will erinnerte sich an keine Einzelheiten.
An Orange, Lila, Rosa und Weiß.
An das entfernte Summen von Insekten bei Büschen, schwer mit Blüten, an einen Schimmer von Weiß und Rosa bei Teichen, und an noch mehr Farben, mehr, als er benennen konnte.
Und an das tiefe Rot der Rosen.
Und an die Saite in seinem Brustkorb, die dagegen ankämpfte, den privilegierten, blassen, kleinen Jungen über den Balkon zu werfe, und zu gucken, ob er sich im Fall immer noch an all die Blumen erinnert.
Bevor er dem Drang nachkommen konnte war der Griff um seinen Hals verschwunden und Nico war wieder am Schreibtisch und fluchte.
Will lockerte seine Krawatte und hoffte, dass Nicos Hand keine Blauen Flecken hinterlassen würde. Dann folgte er ihm und sah auf das Blatt.
Den Pinsel, den Nico achtlos zur Seite gelegt hatte, um Will in Blumenkunde zu unterrichten, war über das Bild gerollt und hatte eine Spur von Rosa hinterlassen.
Der Blonde sah Nico aus dem Augenwinkel zu, wie der anscheinend jede einzelne Lebensentscheidung, die er je getroffen hatte, in Frage stellte.
„So eine Scheiße," murmelte der und kratzte sich an der Wange. Dann seufzte er, riss das Blatt vom Block und zerprummelte es zu einer Kugel, die er auf den ohnehin schon zugemüllten Boden fallen ließ. Er setzte und drehte sich in Wills Richtung.
„Mir ist langweilig," forderte er. „Unterhalte mich."
Essen ohne Zähne soll unterhaltsam sein.
„Ah, wie, kann ich behilflich sein?", fragte Will überfordert und verzweifelt.
„Keine Ahnung. Wie alt bist du?"
Der verrottete Apfel fällt nicht weit vom pilzbefallenen Stamm.
„18."
„Seit wann bist du frei?"
Will legte den Kopf auf die Seite und lächelte verwirrt. Er könnte nur im Gefängnis noch unfreier sein. „Frei...?"
„Ja, frei zum Verkauf. Frei halt."
Also frei für dich.
„Erst seit ein paar Monaten. Das hier ist meine erste Anstellung."
„Hmm, merkt man."
Fick dich.
„Haha," lachte er nervös und genervt.
„Und warum hast du dich auf den Markt gebracht?"
Will blieb stumm. Er wollte seine Familie nicht mit hineinziehen. Er wollte nicht an sie denken.
„Warte, lass mich raten, bist du ein Waise?"
Will blieb stumm und runzelte die Stirn.
„Komm schon, unterhalte mich. Das ist dein Nutzen, oder? Amüsiere mich."
Eine gebrochene Nase würde dir gut stehen.
„Waise, oder sind deine Eltern Junkies und ihr hatten kein Geld? Haben sie dich verkauft?"
Oder Kiefer. Gebrochener Kiefer wäre auch ganz nett.
„Nah, du siehst aus wie ein Bruder. Hast du Geschwister?"
Oder Genick.
„Ja, Bruder oder Schwester? Beides? Mehrere?", riet er weiter. Er schien sich zu amüsieren.
„Mehrere, oder? Wie viele? Komm, sonst habe ich keinen Spaß dabei," nörgelte er.
„7 Geschwister. Vier Schwestern und drei Brüder," antwortete Will kalt.
Nico pfiff.
„Wow. Ihr wisst schon, was Verhütungsmittel sind, oder?"
Ich wünschte dein Vater hätte es gewusst.
„Ja, aber ich habe keine Familie mehr. Ich habe jede Beziehung beendet mit dem Unterschreiben meines Vertrags. Daher weiß ich nicht, was sie euch angehen. Wo sie doch, offiziell, gar nicht existieren," brachte Will zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, jeder Muskel in seinem Kiefer angespannt, und das Lächeln auf seinen Lippen mehr Zwang als irgendetwas anderes.
„Gott, werd' nicht so pissig. Weder gebildet, noch lustig," beschwerte sich Nico und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, dann schloss er seine Augen. „Du kannst gehen," entließ er ihn, und Will zögerte nicht.
Scheiß auf die Blicke in seinem Rücken. Er ging aus dem Zimmer und durch die Gänge, so weit weg von allem wie möglich.
Er fand sich wieder unter Bäumen und zwischen Teichen. Dort legte er sich in das Gras.
Seine Finger rissen Gras aus und zerstörten den penibel gepflegten Rasen. Er öffnete die Augen.
Die Bäume hatten Blüten, und sie waren wunderschön. Ein dunkles Rosa, dass dann ins Weiße überging, verteilt in den Blüten wie durch Adern.
Er erinnerte sich wage an Nicos Worte.
Das waren Entweder Magnolien oder Dahlien. Zwischen den Blättern und Blüten schien der Himmel durch, so blau wie nichts anderes.
Will sah hoch, obwohl das Sonnenlicht seine Netzhaut verbrannte. Seine Augen fingen an zu tränen, und er hob eine dreckige, grüne Hand an sein Gesicht.
Sie roch frisch, nach Erde und Gras.
Zuhause gab es den Geruch nicht.
Das erste Schluchzen erschütterte seinen ganzen Brustkorb, und die Saite riss.
Er kniff die Augen zusammen und rollte auf die Seite, ein gekugelt wie ein Fötus, zurück im Bauch seiner Mutter.
Er weinte, eine Hand an seine Brust gedrückt, die andere versuchte die Töne zurück in seinen Mund zu zwängen, seinen Hals herunter, zurück in seine Brust.
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