Kapitel 14 - Allein und Alarmiert
Nico war nicht bewusst gewesen, wie langweilig es ohne Will gewesen war.
Davor war sein Tag meistens ein Schlaf.
Er wachte nachmittags auf, wusch sich, manchmal, aß, manchmal, malte, öfters, und schlief wieder. Es gab keine Tageszeiten, keinen Ablauf, keine Regelmäßigkeit.
Die ersten Tage nach Will wachte er früh auf, und wartete, aber kein Klopfen kam an seine Tür, nur sein Essen wurde ihm gebracht.
Jetzt, wo Will weg war, musste er seinen Tag füllen.
Was vorher Schlaf war, wich nun Langeweile. Leere Stunden folgten auf Stille.
Doch selbst als er die Musik so laut aufdrehte, dass der Boden bebte, half das nicht.
Er versuchte wieder in sein Bett zu kriechen, da das der einzige Ort war, an dem er den Blonden noch sah, doch er war seltener müde.
Er malte ihn, aber bald vergaß er den Schwung seiner Nase und die Konstellationen seiner Sommersprossen.
Also zeichnete er die alten Skizzen ab, wieder und wieder, bis sie kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Original hatten, wie ein Foto, das zu oft kopiert worden war.
Nach zwei Wochen verließ er sein Zimmer und ging durch die Gänge.
In der alten, staubigen Bibliothek fand er die Bücher, die Will so oft gelesen hatte, und las sie, bis die Seiten drohten herauszufallen.
Immer öfters ging er in sein altes Zimmer und sah sich einfach um. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Sich auf sein ehemaliges Bett zu legen wirkte zu intim, also setzte er sich auf den Boden und lehnte sich daran. Dort konnte er länger schlafen.
Ein Kissen aus seinem eigenem Raum unter dem Kopf auf dem Holz, gelbliche Bücher um ihn herum.
Jeden Tag schlurfte er dorthin, oder in den Garten, zu der Stelle unter den Bäumen zwischen den beiden Teichen, wo er Will einmal hatte weinen sehen. All die Monate zuvor, als er selbst noch so gemein zu ihm gewesen war.
Hatte er sich je ehrlich dafür entschuldigt? Wenn er könnte, würde er es jetzt tun.
Er würde sich entschuldigen für alles, und ihm anflehen, zurück zu kommen.
Aber das würde er nicht tun.
Er würde Will Zeit geben, und Abstand, für sie beide.
Nico verbrachte mehr Zeit mit Reyna und Frank, und mit Hazel. Sie schien ihm dankbar zu sein, und er hatte sich selten so sehr geschämt.
Sie hatte es nicht verdient, dass ihr Bruder so schlecht mit sich selbst umgehen konnte, dass er sein eigenes Leben versuchte zu ignorieren.
Mehr Tage verstrichen so, bis zu dem Vorfall.
Er war schon länger nicht in Wills Zimmer gewesen, aber jetzt trieb es ihn wieder dorthin.
Er betrat das Zimmer, und er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Jemand lag in dem Bett und schlief.
Nico erinnerte sich nicht mehr daran, was er gesagt hatte, oder eher geschrien, sondern nur an die Wut, die in ihm brodelte, und mit der er den anderen Mann übergoss. Er schrie so laut, dass andere angelaufen kamen, und er packte ihn und zerrte ihn aus dem Zimmer.
Der andere sah ihn groß und ängstlich an, er war noch jung, aber Nico spürte kein Mitleid. Er dachte nur daran, wie er es hatte wagen können, in seinem Bett zu schlafen, seine Kleidung zu tragen, sein Zimmer zu dem eines andern zu machen.
Reyna war es, die ihn zur Ruhe brachte. Sie packte ihn und schleppte ihn weg von seinem Opfer.
„Was zur Hölle soll das?", fragte sie, aber sie hätte genauso gut schreien können.
„Das ist Wills Zimmer! Wills! Was macht er da?"
„Er wohnt da. Es ist jetzt Seins. Scheiße Nico, der Junge weiß nicht einmal, wer Will ist."
Und Nico wurde still. Er sah sie nur an, und er wusste, dass sie recht hatte, aber das machte es nicht richtig.
„Es gehört Will," flüsterte er und schüttelte den Kopf. „Ich habe doch sonst nichts von ihm."
Sie sah ihn an, und ihr Blick war traurig.
„Es ist nur ein Zimmer. Will war ein Verpfändeter, er hatte nichts."
„Er lebt noch, und er kommt wieder," erwiderte er stur.
„Wir können nicht mit unserem Leben aufhören, nur weil ein Verpfändeter kurz auf Urlaub ist," wies sie ihn zurecht.
„Und was soll ich tun? Ich habe erst wieder angefangen zu leben, seit er hier war! Er ist mein Freund! Was soll ich mit meinem Leben tun, jetzt, wo er nicht hier ist?"
Reyna sah ihn mitleidig an.
„Nico, eine Person kann nicht dein Lebensinhalt sein, ja? Komm her," murmelte sie sanft und umarmte ihn.
Er hatte vergessen, wie sehr es das vermisst hatte, und vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter.
„Du musst lernen, zu leben, ohne, dass er immer da ist. Auch wenn er wieder kommt, du musst lernen, gesund zu sein, ohne das jemand deine Hand hält, verstehst du das?"
Er nickte, und er tat es wirklich.
Noch am selben Tag saß er neben ihr im Auto. Er lehnte seinen Kopf an den Sitz und schloss die Augen.
Reyna und Frank unterhielten sich, aber er hörte kaum zu.
Als sie ausstiegen atmete er tief durch. Die Luft in Wäldern war einfach frischer als irgendwo sonst.
Er versuchte die Erinnerungen zu verdrängen, von dem Tag, als er hier mit Will war, aber selbst als er über Wurzeln kletterte dachte er nur an einen Kopf blonder Locken, der ihm folgt und die ganze Zeit über Wurzeln stolperte.
Der Blick auf den See war so atemberaubend wie jedes Mal, ob mit Will oder ohne ihn.
Die Natur verändert sich schwerer als Menschen.
Reyna und Frank zogen ihre Schuhe und Klamotten aus, und gingen sofort schwimmen.
Ohne Angst, und ohne Vorbehalte wegen der Kälte. Nico setzte sich unter die Bäume und holte sein Skizzenbuch heraus.
Wasserfarben würden dem Ort gut stehen.
Mit sanften Linien zeichnete er die Landschaft vor ihm.
Er versuchte, nicht an das kalte Wasser zu denken, dass in Tropfen sein Gesicht traf.
Er versuchte, nicht an die heiße Haut neben ihm zu denken, aufgewärmt von der Sonne und etwas Menschlichem.
Er versuchte, nicht an Bienen zu denken.
Und besonders versuchte er, Reyna und Frank zu ignorieren, die mit ihrer Wasserschlacht die nüchterne und pure Szenerie zerstörten.
Bald wurden sie es leid und setzten sich ein paar Meter von ihm entfernt in die Sonne und rieben sich mit Sonnenmilch ein.
Frank gab ihm ein Brot, dass er aß, ohne den Blick von seinem Blatt Papier zu wenden.
Stunden vergingen.
Die Sonne hatte gerade ihren Zenit überwunden, als Reynas Handy klingelte. Nico sah nicht auf.
Erst, als er ihre leise, alarmierte Stimme hörte.
Vermutlich war etwas Zuhause passiert.
Langsam legte er seine Stifte weg und packte den Block ein.
„Nico?", fing sie vorsichtig an.
Unwohlsein regte sich in seinem Magen.
Meistens hatte der Stress in dem riesigen Haus nichts mit ihm zu tun, außer er hatte ihn verursacht.
„Müssen wir los?", fragte er, und hoffte, dass das die einzige schlechte Nachricht war.
„Ja, Nico. Es... ist etwas passiert. Mit Will."
Sein Herz setzte nicht aus, aber es schmerzte, als es sich quälte, Schlag um Schlag weiter Blut zu pumpen.
„Ist er tot?" Seine Stimme schien von weit weg zu kommen.
„Nein, er lebt. Aber er ist verletzt. Stabil, nur ein paar gebrochene Rippen und ein oder zwei Platzwunden," sagte Reyna langsam.
Nico dachte nicht nach.
Er war nie sonderlich sportlich gewesen.
Er konnte jemandes Nase brechen, und vor der Polizei oder Kriminellen weglaufen, aber er war nie herausragend.
Jetzt schien sein Körper jahrelange Mittelmäßigkeit zu vergessen.
Seine Schuhe hämmerten auf den Boden, und er war schon ein paar Meter gekommen, bevor Reyna nach ihm schrie und ihm die Autoschlüssel zuwarf.
Was sonst fast eine Stunde dauerte schien nun innerhalb von ein paar Minuten überwunden zu sein.
Er fiel und stolperte, aber er kam an.
Nico fuhr selten und ungern Auto, seit dem Vorfall mit Jason. Aber er dachte nicht weiter darüber nach.
Weder über seine Angst, noch über das Tempolimit.
Vier Stunden brachte man normalerweise um bis zu Percy und Annabeth zu gelangen. Zwei Stunden später fuhr er bei ihnen auf dem Hof.
Beim Aussteigen fiel er wieder hin.
Kies bohrte sich in seine Handflächen, aber das war unwichtig.
Die Bediensteten, die ihm entgegen kamen, um ihn zu begrüßen, waren unwichtig.
Er wusste, wo Will war.
Jahrelang war er durch diese Flure gewandert, als er noch zur Schule ging. Das Internat, auf dem er Percy kennen gelernt hatte, war nur eine halbe Stunde entfernt gewesen, und er hatte praktisch in diesem Haus gewohnt.
Seine Füße fanden den Weg zur Krankenstation alleine, seine Gedanken hingen einem anderen Krankenhaus nach.
Einem anderen Bett mit weißen Laken.
Ein Laken über einem Gesicht.
Blonde Haare, blaue Augen.
Eine kleine Narbe auf der Lippe.
Reyna hatte gesagt, dass er stabil sei. Will lebt, es geht ihm gut.
Will ist nicht Jason.
Nicht Jason, nie wieder Jason.
Und Will war nicht Jason. Als der in einem Bett mit weißen Laken lag, hatte er nicht aufgesehen, als Nico hereinkam.
Als Nico hereinkam, hatte Jason ihn nicht angelächelt.
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