Kapitel 11 - Gejagt und Geküsst
Als Will aufwachte, war Nico schon weg. Wenn auch nicht weit.
Er saß an seinem Schreibtisch, in Jogginghose und weißem T-Shirt.
Über seinen Schultern lag ein nasses Handtuch, das den hellen Stoff an seinem Rücken durchsichtig machte.
„Endlich aufgewacht?", fragte er ohne sich umzudrehen.
Will nickte und setzte sich langsam auf. Er stöhnte und rieb sich einen Muskel an seiner Schulter. Er hatte nicht gerade die erholsamste Nacht seines Lebens hinter sich.
„Kater?"
„Rückenschmerzen."
„Ah."
Sie blieben stumm, und Nico malte weiter. Nach einer Weile stand Will komplett auf und sah über die Schulter des Jüngeren.
Er hatte das oft getan, hundert Male.
Doch zum ersten Mal zuckte Nico zurück, als er ihn hinter sich spürte.
„Tut mir leid," entschuldigte sich Will, wenn er auch nicht wusste, weshalb.
Nico murmelte etwas unverständliches, doch seiner Tonlage zufolge war es ein einfaches ‚Kein Problem'. ‚Nicht schlimm'. ‚Schon okay'.
Vollkommen unverbindlich.
Will zögerte und sah ihn an.
„Nico...?"
„Hm?"
„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er und streckte die Hand nach seiner Schulter aus.
„Gestern... Es ging dir nicht so gut." Als seine Finger das T-Shirt des Anderen berührten zuckte dieser wieder zusammmen, diesmal so stark, dass er das Glas, gefüllt mit dem dreckigen Wasser für seien Pinsel, umwarf.
„Ich- Gestern tut mir leid," sagte er und sah Will zum ersten Mal an.
Seine Augen waren glasig und noch immer gerötet.
„Mir geht es gerade nicht so gut. Ich denke, heute bleibe ich lieber alleine."
„Oh," sagte Will, die Hand, die Nico berührt hatte, an seine eigene Brust gedrückt, als wäre sie verletzt. „Oh. Okay."
Er ging ein paar Schritte zurück.
„Dann gehe ich jetzt besser."
Will schlich in sein Zimmer und setzte sich dort aufs Bett. Er dachte nach.
Nico hatte sich noch nie so verhalten.
Es war zwar schon vorgekommen, dass er Will aus seinem Zimmer geschickt hatte, aber noch nie so.
Nie so höflich, ohne fliegende Gegenstände, und nie, ohne ihn anzusehen.
Etwas war anders.
Er verbrachte den ganzen Tag in seinem Zimmer. Zuerst schlief er, dann badete er, dann las er. Als die Nacht kam war er so erschöpft und ausgeruht wie noch nie.
Am nächsten Tag schickte Nico ihn wieder weg.
Er war dabei höflich, und er sah ihn nicht an.
Diesen Tag verbrachte er mit Reyna und Frank. Aber es war anders diesmal.
Sonst war es nahezu eine Erleichterung, einen Tag ohne den Jungen zu verbringen, doch es waren jetzt schon mehrere Tage.
Auf sie folgten die erste Woche, und dann die zweite.
Will hatte Nico in all der Zeit kaum gesehen, er klopfte nur jeden Morgen an die Tür, und wartete auf die Antwort, die jeden Morgen kam.
'Heute nicht.'
Will fing an, nervös zu werden. Zwei Wochen.
Er wusste, dass die Leute anfingen zu tratschen.
Was passiert war, was passieren würde. Und die Neuigkeiten hatten bestimmt schon die Ohren von Nicos Vater erreicht. Dem würde das nicht gefallen.
Neunhundearttausend. So, so viel Geld. Für ihn.
Und zwei Wochen hatte er nicht das getan, wofür so viel Geld geboten wurde.
Will schlief schlechter.
Fast jede Nacht hatte er denselben Traum, oder jedenfalls eine Variation von diesem.
Er rannte durch den Wald, hinter ihm Hunde. Sie bellten und knurrten, ihre Füße wie Donner auf dem unebenen Boden.
Immer wieder stolperte Will, die Bestien auf seinen Fersen. Er hörte Gelächter im Wald.
‚Packt ihn!', schrie eine. Und sie trieben die Hunde an.
Will erkannte die Stimme von Hazel, und Reyna und Frank. Er rannte, so schnell wie er konnte, bis er durch das Dickicht brach und ein Meer vor sich sah.
Es glitzerte wie ein Kristall.
Und dann holten ihn die Hunde ein. Sie packten seine Beine und rissen ihn in den Schmutz.
‚Du bist wirklich eine Schönheit, was?', fragte eine Stimme, und dann verdeckte ein riesiger Hund das Blätterdach über ihm, und das Meer verschwand.
Der Hund hatte Nicos Gesicht, und er sprang.
Das war der Teil, bei dem Will aufwachte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und er lag herum, bis die Geräusche auf dem Flur anschwollen.
An diesen Tagen trieb er sich öfters vor Nicos Zimmer rum, und er betete, dass der die Tür aufmachte. Und wenn es nur war, um etwas nach ihm zu schmeißen.
Das war Will egal, aber er musste ihn sehen, mit ihm sprechen.
Er dachte an den Hund mit seinem Gesicht.
Die dritte Woche ging um, und er sah, wie sein Käufer ihn aus seinem Büro aus beobachtete, als er ihm Garten saß und las.
Will stand auf und ging zu Nicos Zimmer. Er hatte Angst, und er war wütend.
Er wusste nicht, was er getan hatte, um so ignoriert zu werden, aber Nico sollte besser schnell darüber hinweg kommen. Will klopfte an die Tür, dynamischer als sonst.
„Heute nicht," kam die Antwort, und Will betrat den Raum.
Nico lag in seinem Bett, sein Handy in der Hand, und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Ich sagte heute nicht, werden deine Ohren schlecht, alter Mann?"
Will schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Schreibtischstuhl, dem anderen Jungen zugewandt.
„Seit drei Wochen sagst du ‚Heute nicht'."
„Und seit drei Wochen habe ich heute keine Lust auf dich," erwiderte Nico irritiert und setzte sich auf. Will schwieg und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Nico, wir müssen reden."
Nico zog die Decke bis an sein Kinn. „Ich will aber nicht."
„Es geht mir am Arsch vorbei was du willst, klar? Okay, du hast zu viel getrunken. Ja, das ist peinlich, und ja, vielleicht hätten wir nicht in einem Bett schlafen sollen, aber dein Trübsal Blasen hört jetzt auf. Vergessen wir das alles, und dann machen wir einfach weiter wie zuvor, ja?"
„Was? Das mit der Weihnachtsparty? Darum geht es doch gar nicht."
„Worum dann? Bist du wütend auf mich? Habe ich etwas getan?", flehte Will ihn an. „Bitte, Nico. Wenn ich etwas Falsches gemacht habe, dann sag mir das, bitte."
Nico starrte in die Ferne, sein Blick wurde starr, und seine Augen glasig.
„Ich bin nicht wütend auf dich," flüsterte er. „Und du hast nichts falsch gemacht. Wirklich nicht. Ich bin nur... Ich habe gerade keine Lust auf dich."
Will sah ihn an.
Angestaute Wut platzte aus seinem Mund.
„Du hast gerade keine Lust auf mich? Du hast gerade keine Lust auf mich!?," schrie er, und Nico sah ihn endlich an.
„Mein Leben hängt von dir ab, du Arschloch! Glaubst du, ich habe Lust, jeden Tag mit dir zu verbringen, in diesem stickigen Raum? Tag ein Tag aus? Nie an die Sonne gehen, sondern hier drinnen sein und lesen oder Videospiele spielen oder für dich Modell sitzen? Glaubst du das macht mir Spaß?! Das tut es nicht!"
„Dann hättest du das sagen sollen!"; schrie Nico zurück, die Fäuste voller Bettdecke. „Ich habe dich nie gezwungen, hier drin zu bleiben!"
„Aber ich werde Sterben, wenn du mich nicht magst!" Wills Stimme brach, und Nico zuckte zusammen.
In seinen Augen standen Tränen, und Will spürte selbst, wie sich die ersten Tropfen den Weg seine Wangen herunter bahnten. Er wischte sie weg, aber es folgten immer neue.
„Ich will nicht verkauft werden," schluchzte er und stützte seinen Ellenbogen auf die Knie, den Kopf gesenkt.
„Hey, hey, Will," flüsterte dann Nico, und das Bett knarzte. „Hey, komm schon. Niemand wird dich verkaufen, ja? Bitte, bitte hör auf zu weinen."
Will spürte Finger, die zuerst zaghaft, aber dann mit mehr Nachdruck durch seine Haare fuhren und über seine Wangen. Er sah auf.
Nico saß auf der Bettkante, die Augen groß und ehrlich.
Er wischte die Tränen von Wills Wangen und nahm sein Gesicht in beide Hände.
„Es tut mir leid," murmelte er und lehnte seine Stirn gegen die des Weinenden. „Es tut mir so leid, ich habe nicht nachgedacht. Aber bitte, bitte weine nicht, ja? Ich kann dich nicht weinen sehen."
Will schloss die Augen und genoss die Berührung.
Sie erinnerte ihn an seine Mutter, und seine Geschwister. Vorsichtig streckte er die Hände aus und umarmte Nico.
Er vergrub seine Finger in den weiten Klamotten, und spürte die Wärme einer anderen Person. Er wusste nicht, wie sehr er das vermisst hatte.
Nico schien überraschend viel Übung im Trösten zu haben, und seine Hemmschwelle, Will anzufassen, war schnell überwunden.
Er begann, seine Stirn und Wangen mit sanften Küssen zu bedecken, und murmelte leise Entschuldigungen und Bitten in sein Ohr.
„Es tut mir leid, ich habe nicht wirklich an deine Situation gedacht," flüsterte Nico und strich ihm über den Rücken.
„Ich weiß einfach nicht, was du von mir willst," sagte Will.
Durch das Weinen näselte er leicht, und seine Stimme versagte am Ende des Satzes, aber seine Augen waren trocken, und er konnte klar denken, ohne Wut oder Angst. Er stieß Nico leicht von sich, nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm in die Augen.
„Nico, was willst du von mir?", fragte er, und sah ihn hilflos an. Nico öffnete seinen Mund, aber kein Laut kam heraus.
Seine Lippen öffneten sich, und schlossen sich, aber er sagte kein Wort.
Seine Augen waren immer noch so groß und offen, so ehrlich.
Sie wanderten über Wills Gesicht, und blieben an seinen Lippen hängen.
Bevor Will registrieren konnte, was geschah, küsste Nico ihn.
Für ein paar Sekunden bewegte er sich nicht, und dann tat er es. Will erwiderte den Kuss zögerlich.
Es war recht lange her, dass er zuletzt jemanden geküsst hatte.
Er spürte, wie Nicos Finger an seinem Haar zogen, und wie sein Atem schneller und schneller kam.
Leises Seufzen und Stöhnen erfüllte den Raum, und dann lagen sie auf dem Bett.
Will löste den Kuss und sah auf den Dunkelhaarigen unter sich.
Seine Augen waren halb geschlossen, die Haare standen ab, und seine Wangen waren rot. Er sah ihn ebenfalls an, aber der Blick in den dunklen Augen war benebelt, und sein Griff an seinem Kopf, seinem Rücken, seinen Seite, er war fahrig, und unkontrolliert.
Will begann Nicos Hals zu küssen, er fuhr sanft über den Kieferknochen, und der andere stöhnte und zog ihn näher. Eine Hand fuhr unter sein Shirt und über die Haut an seinem Rücken.
Will zeichnete Linien mit seinem Mund, saugte und leckte, und er dachte nach.
Das hier war nicht wie sonst.
Er war nicht wirklich... er stand nicht wirklich darauf.
Aber Nico schon.
Soviel sagte ihm sein Körper.
Vorsichtig ließ er seine Finger wandern, über seine Brust, und dann unter den Pullover, und dann zog er sanft an dem elastischen Band von Nicos Jogginghose. Er schob seine Fingerspitzen darunter, und Nico warf den Kopf nach hinten.
Mit den Hüften stieß er gegen Wills Hand, auffordernd, und sah ihn an, doch dann erstarrte er, und hielt Wills Handgelenk fest.
„Ich- Ich glaube nicht, dass du das willst," sagte er sanft.
Will setzte sich auf, und Nico ebenfalls.
So saßen sie gegenüber auf dem Bett, Will auf seinen Knien, und Nico im Schneidersitz, ein Kissen zwischen seinen Beinen.
„Es tut mir leid, wenn ich das alles... komisch werden ließ," entschuldigte sich Will und versuchte, den Blick des anderen aufzufangen.
„Nein, nein. Ich habe dich geküsst," meinte der langsam, und schwieg. Er dachte nach, und Will wartete.
Nach ein paar Minuten sah Nico auf.
„Will, kannst du ganz kurz ehrlich sein?"
„Natürlich."
„Versprichst du es mir?"
„Versprochen."
„Willst du mit mir zusammen sein? Und ich frage dich hier nicht, ob du mein Freund sein möchtest. Ich mag dich, ich mag dich wirklich sehr, aber ich bin mir nicht sicher, ob du mich wirklich magst, oder das nur vortäuschst. Also, willst du mit mir zusammen sein?"
„Sei nicht so dumm, Nico. Natürlich mag ich dich" sagte Will sanft.
„Ja, aber magst du mich, oder magst du mich? Und bitte, sei ehrlich."
Will öffnete den Mund, um ihm zu versichern, dass er ihn mochte, aber er zögerte.
„Ich weiß es nicht," antwortete er stattdessen leise.
Nico nickte. „Das habe ich mir gedacht."
Er lächelte traurig.
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