▫️Die Flucht▫️
"Hey! Jenny! Aufwachen!"
Mir steigt ein modriger Geruch in die Nase und jemand berührt vorsichtig meinen Arm. Erschrocken zucke ich zurück, fahre hoch und reiße die Augen auf.
Doch es ist nur Ariu, der mich amüsiert angrinst.
"Ich bin's doch nur. Du hast zu Hause schon ein bisschen geschlafen, ja?"
Er zwinkert mir zu.
"Kann ich verstehen. Ich war gestern Abend auch hundemüde. Aber keine Ahnung, wie lang ich geschlafen habe... Hast du diesmal daran gedacht, deine Uhr mitzunehmen?"
"Ja, hab ich." Außerdem erinnern mich meine schmerzenden Schultern an den relativ schweren Rucksack und damit auch an noch etwas, das ich mitgebracht habe.
"Ich hab auch zwei Eisenstangen dabei, ich hoffe, dass wir mit einer davon die Tür aufbekommen."
"Super!", freut sich Ariu, während mir noch ein weiterer Gedanke kommt.
"Haben dir die Nachkommen schon einen Besuch abgestattet?"
"Ja. Aber bevor ich hätte versuchen können, deine Abwesenheit irgendwie zu vertuschen, waren sie schon wieder weg. Sie haben nur etwas Wasser vor die Türe gestellt und uns ein Stück trockenes Brot in die Zelle geworfen, dann sind sie wieder abgezogen."
Ich atme erleichtert auf und beglückwünsche mich gleichzeitig darüber, Ariu noch etwas richtiges zum Essen mitgebracht zu haben.
Schnell ziehe ich mir den Rucksack von den Schultern und reiche Ariu die Brote.
"Schau mal, wo du es gerade ansprichst, ich hab noch was für dich dabei."
Wie erwartet freut er sich darüber, und als er sich sofort über die Brote hermacht, breitet sich in mir ein warmes Gefühl aus.
Noch während Ariu zu Ende kaut, beginnt er erneut zu reden.
"Ich muss dir noch was ganz anderes erzählen."
Ich runzle die Stirn. Er klingt regelrecht begeistert, in seiner Stimme schwingt die Vorfreude darauf mit, mir irgendetwas zu erzählen. Damit hätte ich an diesem Ort nicht wirklich gerechnet.
Vielleicht, dass er mich mag?, freut sich eine kleine Stimme in meinem Kopf, die ich aber schnell wieder wegwische.
Nein. Das bezweifle ich doch sehr, dass er hier und jetzt mit mir über so etwas reden möchte.
Jede erdenklichen Orte und Zeitpunkte wären dafür besser geeignet.
Außerdem... Mag er mich überhaupt?
Wenn er wüsste, wie kleinlich ich vorhin seine Brote belegt habe...
Ich runzle verärgert die Stirn und konzentriere mich lieber schnell auf Ariu, der endlich weiterspricht, anstatt meinen Gedanken nachzugehen.
"Also, ich habe herausgefunden, dass die Zellwände hier nicht besonders dick sind."
Ich starre ihn perplex an und frage mich, was ich daran denn so interessant finden sollte.
"Nachdem ich aufgewacht bin, dachte ich mir, ich rufe mal. Vielleicht sind wir hier unten ja nicht alleine, und ich kann womöglich noch ein paar Dinge über das Lager und die Nachkommen erfahren. Ich weiß, war mal wieder eine sehr kluge Idee von mir, aber mir ist eben nichts Besseres eingefallen. Und prompt kam auf mein "Hallo" eine Antwort aus der Zelle nebenan."
"Der junge Mann dort stellte sich als Lukka vor. Wir kamen langsam ins Gespräch und ich hab ihn gefragt, wie und warum er gefangen genommen worden ist. Er antwortete "Gar nicht".
Er sei schon sein ganzes Leben hier eingesperrt, nur von Zeit zu Zeit dürfe er in Begleitung mehrerer Wachsoldaten die Zelle verlassen, um mal an die Sonne zu kommen und die "Welt" sehen.
Er wollte wissen, ob wir wirklich, so wie es der Mann geäußert hat, der uns hier rein gebracht hat, aus dem Dorf kämen, das es zu vernichten gelte. Als ich bejahte, begann Lukka langsam und stockend, mir von sich zu erzählen."
Arius Stimme klingt mittlerweile etwas belegt. Die Geschichte dieses Lukka scheint ihn echt berührt zu haben.
Gespannt lausche ich weiter.
"Er fragte mich, ob ich wüsste, dass schon einmal ein paar Leute aus Kay ausgeschickt worden sind, um das Lager der Nachkommen zu suchen und zu finden. Ich wusste davon.
Der Richter hat es kurz erwähnt, ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast. Tut mir leid... Ich hätte dir davon erzählen sollen."
Stimmt. Da war etwas.
Ich hatte mir noch gedanklich eine kleine Notiz geschrieben, aber diese über das ganze Geschehen hinweg natürlich wieder vergessen.
Er hätte mir davon erzählen sollen...
Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass die Suche damals nicht gut geendet hat.
"Erzähl weiter", murmele ich leise, und Ariu fährt fort.
"Ich erfuhr von Lukka, dass sein Vater unter denen war, die losgezogen sind, damals noch ein junger Mann. Die Teilnehmer wurden damals aus einigen Freiwilligen ausgewählt, insgesamt sind wohl an die zehn Leute auf die Suche gegangen, ältere und jüngere, Männer und Frauen.
Die Mutter von Bent, Lukkas Vater, erwartete ein Baby und war untröstlich, als ihr Sohn dennoch losziehen wollte.
Aber seine Entscheidung war gefallen, und so zog er mit den anderen neun Auserwählten los. Auch Lukkas Mutter, Charly, befand sich unter ihnen.
Wie wir, wurden auch sie jedoch gefangen genommen. Man hat sie ins Lager geführt und weggesperrt.
Mit der Zeit verliebten sich Charly und Bent ineinander und einige Jahre nach der Gefangennahme wurde Lukka geboren. Die Gefangenen verbrachten ihr restliches Leben in der Zelle. Keiner wurde viel älter als 40 Jahre alt, die Lebensbedingungen hier sind... na, du siehst es ja selbst. Lukka war gerade mal zehn Jahre alt, als sowohl seine Mutter als auch sein Vater verstarben. Danach kümmerten sich die anderen, die mit Bent und Charly losgeschickt wurden, um ihn, bis schließlich nur noch er selbst übrig geblieben ist."
Mir hat es komplett die Sprache verschlagen, und aus unerfindlichen Gründen werde ich von einer Welle aus tiefer Traurigkeit und Mitleid für Lukka überschwemmt.
Doch Ariu ist mit seinem Bericht noch nicht fertig.
"Ich hatte ja gerade erzählt, dass Bent kurz nach seinem Aufbruch aus Kay ein Geschwisterchen bekommen sollte, einen kleinen Bruder oder eine Schwester. Er hat es nie erfahren. Aber ich weiß es."
Ariu stockt kurz und es wirkt auf mich so, als habe er den Faden verloren. Ich weiß wirklich nicht, worauf er hinauswill, doch gerade, als ich sanft nachhaken will, fährt er fort.
"Das Baby ist ein Mädchen geworden. Meine Mutter. Lukka ist mein Cousin."
Ariu atmet hörbar aus und scheint froh darüber zu sein, dass es jetzt raus ist.
Dann schweigt er und wartet offensichtlich darauf, dass ich etwas erwidere, aber ich bin erst einmal komplett baff. Das hatte ich jetzt echt nicht erwartet.
Als ich meine Sprache schließlich doch wieder finde, ist das einzige, was mit einfällt:
"Dann nehmen wir ihn natürlich mit."
Nach kurzem Überlegen füge ich noch hinzu:
"Er kann in Kay von den anderen, die auf die Suche gegangen sind erzählen, und von dem, was er hier im Lager alles mitbekommen und erfahren hat.
Außerdem wird sich deine Mutter sicher riesig freuen...
Und für dich freut's mich natürlich auch, Ariu."
"Am besten sollten wir dann mal gehen, oder?", meint er, nach einem kurzen einvernehmlichen Schweigen.
Ich höre seiner Stimme an, dass Ariu lächelt.
Er hat Recht. Wer weiß, wie viel Zeit schon wieder vergangen ist.
Ich bejahe, erhebe mich langsam, klopfe meine Hose ab und hole die dünnere Eisenstange aus meinem Rucksack.
Ariu nimmt sie, wiegt sie prüfend in der Hand und macht sich an der Zellentür zu schaffen.
Gespannt stehe ich neben ihm und feuere ihn in Gedanken an.
Nach ein paar Minuten Hebeln ist die Tür tatsächlich offen und wir schieben sie mit vereinten Kräften auf. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es so schnell schaffen.
Es strömt ein wenig frischere Luft herein, und ich atme tief durch, dann machen wir uns an unseren Ausbruch.
Ich blinzle. Hier scheint wenigstens ein ganz klein wenig Licht herein, sodass ich mehr als nur Umrisse erkennen kann.
Nachdem wir unser Gefängnis verlassen haben, läuft Ariu sofort zielstrebig auf die Nachbarzelle zu.
"Lukka?" ruft er leise. "Bist du hier drin?"
Auf sein energisches Klopfen gegen die feste Metalltür hin hört man ein leises "Ariu?" und dann, wie jemand von innen das Klopfen erwidert.
Ariu nickt mir zu.
"Das ist die richtige Zelle. Ich werde versuchen, sie ebenfalls aufzuhebeln."
Diesmal fällt es ihm nicht so leicht, die Tür zu öffnen.
Als Ariu bereits der Schweiß über die Stirn läuft, löse ich ihn ab und versuche, den Kampf gegen die Widerspenstigkeit der Tür zu gewinnen.
Ich denke schon, dass ich es geschafft habe, die Tür aufzuhebeln, doch als ich mich freudestrahlend zu Ariu umdrehen will, vernehme ich ein leises, metallisches Klirren. Mein Blick fällt auf meine Hand und ich bemerke, dass die Eisenstange ein Stück weit geschrumpft ist.
"Scheiße."
Ich höre Ariu, der sich sein amüsiertes Lachen zu verkneifen versucht.
Grummelnd nehme ich die dickere Eisenstange aus meinem Rucksack und versuche mit ihr mein Glück.
Ich selbst bin ganz schön am Schwitzen, als die Metalltür schließlich doch nachgibt und ich nach vorne taumele.
"Hiergeblieben." Ariu hat einen Arm um meine Körpermitte geschlungen und hält mich fest. Ich nehme die Wärme seines Körpers überdeutlich wahr und löse mich schnell wieder aus seinen Armen.
Ariu hat dich nicht umarmt, weil er das wollte, er hat dich lediglich am Sturz in die Zelle gehindert, versuche ich, mir in den Kopf zu hämmern.
Es erscheint ein erstauntes Gesicht, das sich aufhellt, als Lukka sieht, dass sein Cousin vor ihm steht und ihm die Hand entgegen streckt.
"Ariu?! Wie hast du das denn geschafft??"
Sein Blick fällt auf die Eisenstange, die ich noch immer in der Hand halte, und er wirkt noch verwirrter.
"Du hattest eine Stange mit in der Zelle? Wie das denn?"
Der Angesprochene zuckt nur mit den Schultern.
"Ich erklär's dir später. Komm erst mal hier raus, wir sollten uns nicht länger Zeit lassen, als nötig. Das ist übrigens Jenny, meine Begleiterin."
Als er draußen ist, klopft Lukka sich erst einmal seine Kleider ab, die vermodert aussehen und noch schlimmer stinken als die Zelle, in der wir eingesperrt waren. Der junge Mann, der um die zwanzig Jahre alt sein müsste, fällt seinem jüngeren Cousin um den Hals, dann reiche ich ihm kurz meine Hand.
Lukka scheint ziemlich irritiert darüber, dass sich neben seinem Cousin noch jemand weiteres in dessen Zelle befunden hat, sagt diesmal jedoch vorerst nichts dazu.
"Jetzt aber raus hier." Ariu stürmt, die Eisenstange noch immer in der Hand, den Gang entlang, von dem die verschiedenen Zellen abgehen. Lukka und ich rennen ihm hinterher.
Wir machen vor der Gittertür halt, die uns nun als letztes Hindernis den Weg ins eigentliche Lager der Nachkommen versperrt.
Ariu hat unser provisorisches Brecheisen schon angesetzt und im Begriff, die Tür aufzuhebeln. Hier fällt es ihm wieder etwas leichter.
Als die Türe offen ist, schiebt er vorsichtig den Kopf ins Freie, dann klettert er aus dem Gang heraus, immer darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen.
Dann bedeutet er uns, ihm zu folgen.
Die Luft hier draußen ist eine Wohltat für meine Lunge, schön frisch und unverbraucht.
Während ich mich an Ariu halte, betrachte ich interessiert meine Umgebung.
Ein paar Meter von uns entfernt steht ein Heuwagen, vor den zwei Pferde gespannt sind. Ein Besitzer ist im Augenblick nicht zu sehen. Der Wagen fällt mir ins Auge, weil die Straßen hier in nächster Nähe wie leergefegt sind. Vereinzelt sind auch hier ein paar Häuser gebaut, aber längst nicht so viele wie in der Umgebung des Rathauses, in dem Ariu und ich von Berno und Manys den Männern vorgeführt wurden, die uns letztendlich ins Gefängnis gesperrt haben.
Lukka flüstert Ariu etwas zu, der mich kurzerhand hochhebt. Ich stoße einen erstaunten Laut aus.
"Schhht! Sei leise!" Also klammere ich mich nur an Ariu fest. Ich schlinge meine Arme um ihn und versuche Halt zu finden, indem ich mich an Arius Jacke festkralle. Er läuft derweil hinter seinem Cousin auf den Wagen zu.
Und steigt auf die Ladefläche.
Lukka setzt sich vorne an den Kutschbock und nimmt die Zügel der beiden Pferde in die Hand. Er scheint sich mit Kutschen und Pferden auszukennen, obwohl er sein ganzes Leben in der Zelle verbracht hat.
Das verstehe ich jetzt nicht so wirklich, aber irgendwie kommt mir gerade alles gänzlich unrealistisch vor.
Es sieht aber anscheinend so aus, als würden wir mit einer Pferdekutsche aus dem Lager der Nachkommen flüchten.
Oh mein Gott. Anscheinend liegt es bei Ariu in der Familie, dass sie zu verrückten Ideen neigen.
Ariu hat sich ins Heu fallen lassen. Ich klammere mich immer noch an ihm fest.
"Hey." Ich sehe Ariu an, ein sanftes Lächeln umspielt seine Mundwinkel.
"Du kannst mich jetzt wieder loslassen."
Ich spüre, wie ich wieder einmal rot anlaufe. Ariu scheint es zu bemerken, denn sein Grinsen wird breiter. Als er mir zuzwinkert, befürchte ich, dass ich gleich zu einer Tomate mutieren werde.
Peinlich berührt löse ich meine verkrampften Finger und lasse den Stoff seiner Jacke los. Auch wenn ich Ariu mit Vergnügen noch ein wenig länger so nah bei mir gehabt hätte. Als hätte er meine Gedanken erraten, setzt er sich, nachdem ich mich vollends von ihm befreit habe, dicht neben mich und legt seine Hand auf mein Knie. Meine Gesichtsfarbe hat sich noch immer nicht wieder neutralisiert. Und wenn das so weitergeht, ist der Zeitpunkt auch nicht absehbar, an dem das Rot beschließt, Abstand von meinen Wangen zu nehmen. Ariu grinst, falls das überhaupt möglich ist, noch breiter.
Mich überkommt so etwas wie Erleichterung, als Lukka gedämpft "Hüa!" ruft, woraufhin die Pferde losgaloppieren. Allem Anschein nach hat er es endlich geschafft, die Zügel zu sortieren.
Ich werde ins Heu geworfen, als wir stetig an Tempo gewinnen. Ariu fällt unsanft auf mich und quetscht mir die Luft aus den Lungen.
"Aaah!" Sein Ellenbogen bohrt sich in meinen Bauch als er aufzustehen versucht, und ich stöhne auf.
So sehr es mich auch mit Freude erfüllt, Ariu so nah bei mir zu haben, diese Position ist alles andere als bequem.
"Oh, äh, sorry, scheiße, geht's?"
Er schafft es endlich, sich aufzurichten, und ich bekomme wieder ordentlich Luft. Zaghaft blicke ich über den Rand des Wagens hinweg.
Klappt unsere Flucht?
Lukka rast noch immer in einem Affenzahn durch die Gegend. Ein paar Männer rennen schon hinter der Kutsche her, aber ihre Versuche, uns aufzuhalten, sind vergeblich.
Ich sehe die Gelegenheit, einen Überblick über das Lager zu bekommen und stütze mich mit einen Arm auf einem großen Würfel aus zusammengebundenem Heu ab. Mit dem anderen halte ich mich an Ariu fest, der mich verständnislos ansieht, als ich mich mit wackeligen Beinen aufrichte.
"Was machst du denn? Duck dich lieber, oder willst du erschossen werden?"
Ups. Daran, dass unsere Verfolger mit Pistolen ausgestattet sein könnten, habe ich noch gar nicht gedacht. Ehe ich mich selbst wieder ducken kann, zieht mich Ariu schon wieder nach unten.
Aber meine Neugier bleibt vorhanden. Ich will wissen, was im Lager der Nachkommen abgeht. Und das hier ist wohl meine letzte Chance dazu, wenn unsere Flucht Erfolg hat.
Erneut hebe ich den Kopf über die Holzwand des Heuwagens. Ariu schreit mich an, aber ich ignoriere ihn und lasse meinen Blick über unsere Umgebung schweifen.
Ich versuche, so viel wie möglich aufzunehmen. Tatsächlich sehe ich recht viel, aber ich erkenne auch, dass sich das Lager der Nachkommen noch über eine viel größere Fläche erstreckt, als ich sie vom Heuwagen aus wahrnehmen kann.
Mist.
Immerhin sehe ich, dass die meisten Häuser in die Höhe und nicht so sehr in die Breite gebaut sind, vermutlich, um Platz zu sparen. Es gibt neue und alte Häuser, eine bunt zusammengewürfelte Stadt, könnte man fast sagen.
Eigentlich sieht es schön aus, auch wenn es schon ziemlich dunkel ist.
Aber nur, wenn man von der Tatsache absieht, dass das alles dem Zweck dient, ein einziges Dorf zu vernichten.
Wieder einmal frage ich mich, wie Kay dem standhalten soll.
Ich versuche, die Größe des Lagers der Nachkommen irgendwie mit Kay zu vergleichen. Trotz dass ich die genauen Ausmaße nicht kenne, weiß ich doch, was dieser Angriff der Nachkommen auf Kay auf jeden Fall sein wird: unfair.
Es ist so feige und lächerlich, dass diese Nachkommen ein um Welten schwächeres Dorf vernichten wollen. Und das eigentlich grundlos.
Ich sehe Fabriken, die die Nachkommen schätzungsweise zur Kleidungs- und Lebensmittelherstellung brauchen. Mein Blick schweift über Supermärkte, riesige Wohnblöcke und eigentlich über alles, was es in Städten so gibt. Nur nach Wirtschaften, Lokalen oder auch Bowlingbahnen, Fußballplätzen, Kletterhallen und anderen Gebäuden zur freudigen Freizeitgestaltung halte ich vergeblich Ausschau.
Die Nachkommen haben hier anscheinend nur die Gebäude gebaut oder bauen lassen, die sie für nützlich erachten und keine für Spiel, Spaß und Familienbeschäftigungen.
Außerdem sind hier keine Autos unterwegs. Auch in Kay habe ich weder Autos noch Busse oder sonstige moderne Fortbewegungsmittel gesehen.
Es scheint sie hier in Veron gar nicht zu geben.
Ein bisschen komme ich mir dadurch vor, als wäre ich einige Jahre zurück in die Vergangenheit gereist. In die Zeit vor Autos, Computern, Spielkonsolen, Handys und all der modernen Technik. Und ich stelle fest: Die Menschen leben trotzdem.
Keiner vermisst den modernen Kram, weil es ihn hier eben einfach nicht gibt. Und das Leben der Leute funktioniert.
Auf der Erde weiß man sich schon fast gar nicht mehr anders zu beschäftigen, als mit elektronischen Geräten.
Irgendwie macht mich das traurig.
Veron hingegen scheint sehr naturbelassen zu sein, die Menschen hier schaden der Natur nicht, sondern leben mit ihr zusammen, neben ihr.
Und hier klappt das prima.
Daran sollten sich die Menschen auf der Erde auch mal ein Beispiel nehmen, denke ich.
Wenn man es so sieht, ist es ja ganz gut, dass nicht mehr Leute hergeschickt worden sind, sonst hätten diese auch die Natur in Veron binnen ein paar Jahren bemerkenswert ab- und ausgenutzt.
Hier herrscht Frieden zwischen den Leuten - nein, halt, das stimmt nun auch wieder nicht. Aber vielleicht würde hier Friede herrschen. Wenn die Wissenschaftler von der Erde nicht hierhergekommen wären.
Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich das Lager der Nachkommen gar nicht mehr betrachte sondern nur meinen Gedanken nachhänge.
Das ist wohl auch der Grund, warum ich den Schuss erst bemerke, als es fast schon zu spät ist.
Ich bin viel zu überrumpelt, aber Ariu wirft sich auf mich und reißt mich somit nach unten, aus der Schussbahn des Mannes. Ich höre die Patrone über unseren Köpfen vorbeizischen und spüre ihren Lufthauch. Es war verdammt knapp, aber Ariu hat mir das Leben gerettet.
Doch ich habe keine Zeit mich bei ihm zu bedanken, denn Lukka vollführt ein wildes Ausweichmanöver und Ariu und ich werden im Heuwagen von links nach rechts und wieder zurück geworfen. Mein Versuch, mich an der Heuwagenwand festzuklammern, misslingt kläglich und ich knalle mit nur noch mehr Anlauf auf Ariu, der von mir gegen die gegenüberliegende Wand gedrückt wird.
Ein paar der Männer die uns verfolgen, haben Gewehre dabei, mit denen sie wild auf uns feuern. Ausgebildete Scharfschützen scheinen die Männer jedoch nicht zu sein. Zum Glück.
Die meisten Schüsse verfehlen unseren Wagen...
Doch der eben hätte mich getroffen, wenn Ariu nicht gewesen wäre.
"Die Pferde werden nicht mehr lange durchhalten", murmele ich vor mich hin. Keine Ahnung, wie ich jetzt darauf komme. Ich sollte mir lieber Sorgen um Ariu, Lukka und mich machen.
Letzterer lenkt die Pferde immer noch wie ein Irrer durch die Straßen.
Wir brettern durch die Gegend und ich frage mich, ob Lukka einen Plan hat, wie wir aus dem Lager der Nachkommen herausfinden, oder ob er einfach aufs Geradewohl in irgendeine Richtung fährt.
Ich habe jetzt schon einige Zeit keine Schüsse mehr gehört - haben unsere Verfolger aufgegeben?
Das Einzige, was im Moment noch zu hören und auch zu spüren ist, ist das Geholper unseres Heuwagens.
Ich recke mich, um nach unseren Verfolgern zu sehen, werde jedoch von Ariu sofort wieder auf den Boden des Heuwagens gezogen.
"Ich sagte doch, du sollst unten bleiben! Leg dich flach hin, die, an denen wir jetzt vorbeikommen, dürften alle bewaffnet sein!"
Fuck, schon wieder habe ich die Gewehre und Pistolen vergessen. Aber woher will Ariu denn eigentlich wissen, dass sie bewaffnet sind, wenn er nicht selbst nachgeschaut hat?
Ich versuche, mich auf Arius Aufforderung hin so flach wie möglich hinzulegen. Allerdings nicht, ohne Ariu mit herunterzuziehen. Er hat mir mein Leben gerettet und im Gegenzug werde ich jetzt dafür sorgen, dass er sich nicht leichtsinnig verhält.
Ich höre ihn trotz des Gerumpels leise seufzen. Dann liegt er still neben mir. Ich umklammere vor Anspannung seine Hand, mit der ich ihn zu mir gezogen habe. Seitdem habe ich sie nicht losgelassen und auch nicht vor, dies zu tun, bis wir endgültig raus sind aus dem Lager der Nachkommen.
Ariu drückt meine Hand beruhigend, sieht mich aber nicht an.
Doch dann richtet er sich wieder ein Stück auf und kniet sich hin.
Ich ziehe an seiner Hand und will ihn wieder daran erinnern, sich hinzulegen und soweit es geht Schutz zu suchen.
Ariu sieht mich immer noch nicht an, er schüttelt nur den Kopf und ich sehe wie er aus seiner Hosentasche die kleine silberne Pistole hervorzieht, die ihm der Richter mitgegeben hat. Und deren Munition eventuell dafür bestimmt war, in meinem Fleisch zu landen.
Ich umklammere Arius Hand noch fester.
Was hat er vor?
Endlich sieht Ariu kurz zu mir herüber und lächelt leicht, immer noch im Versuch, mich zu beruhigen. Dann hebt er die Hand, in der er die Pistole hält, ein Stück über den Rand der Wagenwand und drückt ab. Ich schließe die Augen und versuche die Schüsse, die Ariu abgibt, auszublenden. Nach kurzer Zeit hat er die Munition jedoch schon verschossen. Ich öffne die Augen wieder vorsichtig und sehe, wie Ariu die Pistole einfach hinter den Wagen fallen lässt. Dann duckt er sich wieder Neven mich.
Kurz darauf fallen erneut Schüsse und der Wagen schlingert herum.
Die Panik, die ich zuvor noch irgendwie klein halten konnte, macht sich nun in jeder einzelnen meiner Zellen breit.
Ariu drückt meine Hand, als würde er meine Angst spüren. Es grenzt schon fast an ein Wunder, dass er überhaupt noch Gefühl in ihr hat, so fest wie ich sie die ganze Zeit über umklammert halte. Zaghaft lächle ich ihn an und Ariu grinst verbissen zurück.
"Wir schaffen das schon", flüstert er mir zu. "Wir schaffen das schon."
Ich wiederhole seine Worte wie ein Mantra in meinem Kopf und lausche schweigend auf weitere Schüsse.
Da unser Heuwagen wild über Stock und Stein holpert, nehme ich andere Geräusche nur schwer wahr, doch die fallenden Schüsse übertönen das Geholper noch an Lautstärke. Viel mehr dringt jedoch nicht an mein Gehör.
Einzig einen dumpfen Schlag meine ich zu hören, kann dieses Geräusch jedoch nicht einordnen.
Kurz darauf herrscht erstaunlicher Weise Stille.
Nach einiger Zeit wage ich, etwas zu sagen. "Ist es vorbei?"
Ariu beachtet mich nicht. Er hat seine liegende Position bereits aufgegeben und ist dabei, sich in eine Stellung zu begeben, von der aus er über den Wagenrand blicken kann. Meine Hand lässt er los, woraufhin auch ich mich aus meiner Starre löse und ebenfalls aufrichte.
Wir haben es geschafft, wird mir klar.
Wir sind draußen.
"Lukka!" Arius Stimme hallt in meinem Kopf wieder. "Lukka, was ist los?"
Erst jetzt fällt mir auf, dass Arius Cousin zusammengesackt auf dem Kutschbock liegt. Sitzen kann man das nicht mehr nennen.
Die Zügel hat er losgelassen, die Pferde galoppieren wie gehetzt von alleine weiter.
"Scheiße!"
Ariu springt auf, hechtet über die vordere Seite des Heuwagens und auf den Kutschbock.
Ich beeile mich, ihm zu folgen und falle beinahe vom Wagen.
Als ich bei Ariu ankomme, fühlt er gerade nach Lukkas Herzschlag und eine Welle der Erleichterung überläuft sein erschüttertes Gesicht. Trotzdem sieht er noch vollkommen fertig aus und in seinen Augen steht der Schock geschrieben.
Aber Lukka lebt noch.
Ich sehe jedoch, dass er in der rechten Schulter von einer Kugel getroffen wurde, Blut strömt aus der Wunde. Lukkas Pullover ist bereits völlig durchnässt und rot.
Ich versuche, Lukkas Wunde freizulegen, indem ich seinen Pullover stückchenweise nach unten ziehe, aber Ariu hält mich am Arm fest. Ich nehme meine Hand weg und Ariu zerreißt kurzerhand den dünnen Stoff. Als die Schusswunde unter dem Pullover zum Vorschein kommt, ziehe ich scharf die Luft ein. Ariu reagiert schneller als ich. Er zerrt sich seine Jacke vom Körper, zieht sich seinen Pullover über den Kopf und reicht ihn mir, ehe er schnell wieder in seine Jacke schlüpft.
Verstehend presse ich den Stoff auf Lukkas Wunde, im Versuch, die Blutung zu stoppen.
Es gelingt mir mehr schlecht als recht.
Lukka stöhnt leise. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und er starrt uns aus glasigen Augen an, der Schweiß läuft ihm nur so über die Stirn.
"Nimm du die Zügel, ich mach das schon."
Ich bin überrascht, wie ruhig meine Stimme klingt, als ich das sage.
Lukka verkrampft sich.
Ihm muss arschkalt sein, schießt es mir durch den Kopf, er trägt ja nicht einmal eine Jacke.
Ich drücke den Pullover abwechselnd mit nur einer Hand auf Lukkas Schulter und ziehe mir dabei umständlich meine Jacke aus. Die Kälte, die nun mir in die Knochen kriecht, versuche ich zu ignorieren, als ich meine Jacke schließlich über Lukkas halbnacktem Oberkörper ausbreite und versuche, sie so zu drapieren, dass Lukka möglichst warm gehalten wird.
Verzweifelt presse ich Arius Pullover, der sich mittlerweile schon komplett voller Blut gesogen hat, auf Lukkas Wunde.
Ich rede beruhigend auf ihn ein, versuche Mitgefühl und Beruhigung in meine Stimme zu legen, weiß jedoch nicht, ob ich nicht vielleicht doch gerade nur mich selbst ablenken will.
"Bleib ruhig, Lukka. Ich versuche, die Blutung zu verringern. Entspann dich, so gut es geht. Ariu lenkt jetzt die Kutsche. Wir kommen bald nach Kay, das verspreche ich dir. Du schaffst das. Bleib einfach ruhig liegen und beweg dich nicht. Sonst blutet es nur noch mehr. Ich weiß, dass du unvorstellbare Schmerzen hast, aber du schaffst das, okay? Du hältst durch, hörst du? Du hast uns alle gerettet, wir sind aus dem Lager der Nachkommen draußen. Wir werden bald nach Kay kommen und dann wirst du versorgt werden. Hörst du? Du schaffst das. Du schaffst das. Wenn du -"
Ich bemerke erst jetzt, das Lukka bewusstlos geworden ist.
"Scheiße, Ariu! Dauert's noch lange? Lukka ist bewusstlos geworden! Er braucht Hilfe, dringend!"
"Woher soll ich denn wissen, wie lang es noch dauert?! Dass er Hilfe braucht, weiß ich selber!"
Ich zucke zusammen und Ariu seufzt resigniert, als er mir einen schnellen Blick zu wirft.
"Sorry, ich wollte dich nicht so anfahren. Ich bin einfach mit meinen Nerven am Ende... Und ich glaube, die Pferde halten auch nicht mehr lange durch."
Ich tue es Ariu nach und seufze ebenfalls.
Die Pferde galoppieren durch die stockdunkle Nacht. Ariu kann ich nur erkennen, weil er direkt neben mir sitzt. Und Lukka... Ich versuche, Arius Pullover noch fester auf seine Schulter zu drücken.
Eine einsame Träne läuft mir langsam über die Wange und tropft auf Lukkas Kopf. Ich wische mir mit einem Arm über die Augen.
"Hast du überhaupt eine Ahnung, wohin wir müssen um nach Kay zu kommen?", frage ich Ariu leise. Meine Stimme klingt vollkommen hoffnungslos.
Er rückt noch ein Stück näher zu mir heran. "Ja, so ungefähr."
Ich weiß, dass er mir nur Mut machen will und verspüre den Drang, ihn zu umarmen und loszuheulen. Aber das geht jetzt nicht. Ich muss gerade einfach stark sein.
Als ich meinen Blick auf meine Hände lenke, die immernoch Arius Pullover auf Lukkas Wunde drücken, um mich wieder ein bisschen zu sammeln und zu konzentrieren, fällt mein Blick auf meine Armbanduhr.
Gleichzeitig bin ich erschrocken und erleichtert.
Ich habe schon wieder keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass und wann ich wieder zurück zur Erde springen werde. Aber ich habe Glück, es ist erst 22.15 Uhr.
Trotzdem muss ich hoffen, dass uns die eineinviertel Stunden reichen, um nach Kay zu kommen. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel... Ich mag mir nicht ausmalen, was los wäre, wenn wir Kay nicht finden, ehe ich heimkehre. Und wenn wir Kay nicht fänden, bevor Lukka...
"Oh, wenn wir doch nur schon in Kay wären", flüstere ich Lukkas bewusstlosem Körper zu.
- - - - - - - - - - -
Puh!
Ein Schock nach dem anderen 😉
Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen - trotz dass es diesmal echt lang war.
Was sagt ihr zu Lukkas Geschichte?
Und werden sie Kay wohl rechtzeitig erreichen?
Bis bald,
Elvy
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