▪️Bärchen▪️
Auf Ricks Gesicht hat sich nach und nach ein immer breiteres Grinsen breitgemacht, je weiter ihre Überlegungen fortgeschritten sind. Jetzt jedoch, nachdem es sich auch für ihn endlich so anfühlt, als sei der entscheidende Groschen gefallen, verblasst seine gute Laune zusehends wieder.
"Das ist ja alles schön und gut...
Die Frage ist nur, wie wir das den anderen glaubhaft rüberbringen. Beziehungsweise erst einmal, wie wir es ihnen überhaupt erzählen wollen."
Jenny schweigt erst einmal, und Rick tut es fast ein wenig leid, auch sie mit ihrer beinahe kindischen Freude mit seinen Worten wieder ein ganzes Stück zurück auf den Boden der Tatsachen geholt zu haben.
Dann meldet sie sich jedoch wieder mit nachdenklicher Stimme zu Wort.
"Wirst du nicht zufällig noch mal verhört? Also... Du hast dem Richter erzählt, was du weißt. Was Kay bevorsteht. Wenn er das Ganze nicht einfach auf sich beruhen lassen will, wird er noch einmal auf dich zukommen, meinst du nicht auch?"
Nachdem Rick einen Moment über ihre Worte nachgesonnen hat, nickt er leicht.
"Ja, damit könntest du durchaus Recht haben. Ich weiß nur nicht... Du hast erzählt, dass er von Arius Punkten weiß. Vielleicht ist das immerhin ein Pluspunkt in die Richtung, dass ihm zumindest eine Komponente unserer Überlegungen nicht völlig neu ist - also dafür, dass er uns Glauben schenkt. Allerdings, wenn nicht... Vielleicht müssten mehr Leute davon erfahren. Damit es sich auf möglichst viele Weisen verbreiten kann."
Jenny scheint zu verstehen, worauf er hinauswill.
"Du meinst, dass wir möglichst viele Kayaner mit unserer Theorie erreichen müssten, um die Wahrscheinlichkeit zu steigern, dass sie in Erwägung gezogen wird. Und nicht einfach vom Richter abgeschmettert wird und fertig."
Alle beide verfallen kurzzeitig in Schweigen.
"Aber sie werden uns nicht glauben. Die normale Bevölkerung meine ich. Das Ganze klingt viel zu abwegig. Und im Gegensatz zum Richter wissen sie nicht einmal von Arius Punkten. Er ist derjenige, den wir erreichen müssten.
Er ist ihr Oberhaupt, auf ihn würden sie hören."
Rick seufzt.
"Dann werde ich wohl versuchen müssen, besonders überzeugend zu sein. Falls er mich denn überhaupt noch einmal anhören wird."
Er versucht, sich selbst glaubhaft zu machen, dass er das hinkriegen könnte, und scheitert kläglich. So lange hat er durchgehalten, alleine in der Wildnis, so viel hat er schon auf sich genommen...
Und trotzdem erscheint ihm das eine ganze Nummer zu groß für ihn.
Er weiß, dass er ein kluger Kopf ist, im Verhältnis zu den meisten anderen wahrscheinlich sogar ein überdurchschnittlich kluger Kopf. Das war einfach schon immer eher seine Stärke.
Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er auch das nötige Charisma und die Ausstrahlung besitzt, auch andere von seinen Ansichten und Überlegungen zu überzeugen.
Ein Bild schiebt sich bei diesen Gedanken in seinen Kopf.
Er sieht sich selbst darauf, im Lager der Nachkommen, kurz bevor er seine Suche begann. Vor den Leuten aufgebaut, die Wahrheit erzählend. Es war nicht genug. Er war nicht genug.
Nicht dafür, nachhaltig etwas mit seinen Worten zu bewegen.
Rick hat es nicht geschafft, sie gegen ihre Anführer aufzuwiegeln, nicht auch nur die kleinste Veränderung oder ein kollektives Umdenken herbeigeführt. Dafür ist er der falsche Mann.
Und damals kannten sie ihn.
Er war einer von ihnen.
Er wurde zwar zum Verräter - aber hier ist er von Anfang an nie etwas anderes gewesen.
"Ich denke, vielleicht gibt es noch einen anderen Weg", schaltet sich Jenny zwischen seine niederschmetternden Gedanken, und Rick überschwemmt eine Welle der Dankbarkeit.
Dafür, dass er jetzt zumindest den Großteil seiner Aufmerksamkeit wieder auf etwas anderes fokussieren kann.
"Falls sie dich wirklich hier rausholen... Könntest du Ariu eine Nachricht überbringen?"
Rick nickt ihr zu, wird sich darüber klar, dass sie ihn nicht sieht, und hakt nach.
Er spürt, wie Jenny versucht, es sich neben ihm bequem zu machen.
Dann erzählt sie ihm ihren Plan.
~ 🗝️ ~
Als Jenny wieder weg ist, holt die Niedergeschlagenheit Rick langsam aber sicher wieder ein.
In Gedanken wälzt er zwar immer wieder verschiedene Szenarios hin und her, wie es weitergehen könnte, versucht, sich selbst von möglichst positiven Schicksalswendungen zu überzeugen, aber auch das macht ihn auf Dauer nur wuschig.
Er versucht selbst, sich zu beruhigen, irgendwie ein wenig runterzukommen, aber am nächsten Morgen weiß er beim besten Willen nicht, wie er es geschafft hat, einzuschlafen und die komplette Nacht vollkommen traumlos und ohne hochzuschrecken durchzustehen.
Mitten in seine Überlegungen, die aus Mangel an Alternativen mal wieder seinen ganzen Vormittag ausfüllen, scheppert plötzlich die Zellentür auf.
Er ist der Meinung, es sei ungefähr Mittagszeit, und sein Magen stimmt dieser Theorie grummelnd zu. Rick genießt den Schwung frischer Luft, der durch die Tür hereinkommt und wagt erst gar nicht, sich falsche Hoffnungen zu machen.
Es muss nichts heißen, dass sie gekommen sind. Es bedeutet nicht automatisch, dass sie dich zum Richter bringen, versucht er sich selbst klar zu machen, um einer möglichen Enttäuschung von vorn herein entgegen zu wirken.
Dann dreht der eine Schemen, der durch die Tür hereingepoltert ist, Rick die Arme auf den Rücken, während ein anderer ihm Handschellen anlegt.
Sie führen Rick aus seinem Gefängnis heraus und schleppen ihn nach draußen. Seine Hoffnung, die er natürlich trotz allem nicht vollständig unterdrücken konnte, beginnt zu wachsen, als er fügsam zwischen ihnen hertrottet. Draußen, direkt vor seiner Zelle, schließen sich ihnen zwei weitere Schatten an.
Nachdem sie ins Freie getreten sind, schmerzt das Tageslicht in seinen Augen und er muss sich nach tagelanger Dunkelheit erst einmal wieder langsam daran gewöhnen. Dann sieht er sich blinzelnd um und wirkt dabei fast wie ein Baby, dass seine Umgebung zum allerersten Mal sieht.
Er saugt den Anblick der Natur nahezu in sich auf. Es tut so gut, ihr Grün wieder zu sehen.
Während er durch die Gassen von Kay geführt wird, versucht Rick, die Blicke der Dorfbewohner zu ignorieren. Einige schauen ihn hasserfüllt an, andere angeekelt. Ein paar Kinder blicken ängstlich zu ihm und verstecken sich schnell hinter den Rücken ihrer Eltern. Das trifft ihn am meisten. Rick wird zum Rathaus gezogen und unterwegs immer trauriger.
Er versucht sich mit dem Gedanken an Jenny aufzumuntern, und ihrem Plan. Dass er daran denken muss, nach Ariu Ausschau zu halten. Das hilft ein bisschen.
Dann aber merkt Rick, dass er mit auf dem Rücken aneinandergefesselten Händen gar nicht an den Zettel in den vorderen Hosentaschen seiner alten Jeans herankommt, und sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Gedanklich verflucht er sich - aber jetzt ist es zu spät.
Als er und seine zwei Begleiter am Rathaus angekommen sind, hat Rick Ariu jedoch noch nirgendwo entdeckt. Er nimmt es mit gemischten Gefühlen hin. Einerseits ärgert er sich darüber - andererseits ist er erleichtert, dass sein persönlicher Fehler so nicht für das Versagen ihres Planes verantwortlich sein wird.
Rick wird in das Gebäude geschoben, und bleibt mit seinen Begleitern erst wieder vor einer unbeschrifteten Tür stehen. Einer der Männer neben ihm greift zur Türklinke, dann geleiten sie Rick in den Raum. Er sieht sich um, aber der Richter ist nicht da. Verwirrt richtet Rick seinen Blick auf die Männer.
"Sei dem Richter dankbar, dass du dich säubern darfst. Hier liegt frische Kleidung, im Nebenraum befindet sich eine Dusche."
Rick wird in den angrenzenden Raum geführt. Einer der Soldaten hängt sich die Klamotten, die Rick bei seiner kurzen Musterung des Zimmers glatt übersehen hat, über den Arm und marschiert hinterher. In dem Raum, in den Rick gebracht wird, befindet sich ein kleines Badezimmer. Gefliester Boden, eine Dusche in der einen, eine Toilette in der anderen Ecke und ein Waschbecken. Bevor sich die zwei Soldaten neben der Tür positionieren, löst einer von ihnen noch grob Ricks Handschellen. Dann starren sie ihn grimmig an.
Rick weiß, was jetzt von ihm erwartet wird, trotzdem beschämt es ihn.
"Schau nicht so dumm! Wir müssen dich im Auge behalten!", bellt einer der Männer, die rechte Hand auf einer Pistole, die in seinem Gürtel steckt.
Rick schluckt, schließt die Augen und versucht, sich kurz innerlich vorzubereiten.
Klar, er könnte versuchen, sich ihnen zu verwehren. Die Dusche zu verweigern.
Aber sein Bedürfnis nach Sauberkeit ist größer als die Scham.
Rick dreht den Männern den Rücken zu, versucht, sich einzubilden, sie seien gar nicht da und beginnt, sich aus seiner Kleidung zu schälen.
Siedend heiß fällt ihm der Zettel ein, der in seiner Hosentasche steckt.
"Hier liegt frische Kleidung", haben sie gesagt, und einer der Männer trägt sie auf dem Arm.
Solche Gefälligkeiten hätte es für Gefangene der Nachkommen nie gegeben, doch jetzt wünscht er sich, die Kayaner hätten ebenso wenig Ehrgefühl wie seine früheren Männer.
Es wird sich zeigen, ob er eine Gelegenheit findet den Zettel in die frische Kleidung umzudeponieren.
Während das heiße Wasser seine nackte Haut umschmeichelt, überlegt Rick fieberhaft, wie er es hinbekommen könnte, unauffällig an die Nachricht heranzukommen, aber sein Kopf ist wie leergefegt. Wenn, dann wird es eine Momententscheidung werden, ob oder ob nicht.
Aber wenn sie den Zettel im Nachhinein finden...
Er weiß nicht, was für Konsequenzen das hätte. Er kann es nicht abschätzen.
Nachdem Rick sich nach Jahren endlich einmal wieder vollkommen rein vorkommt, steigt er langsam aus der Dusche und versucht, sein angespanntes Zittern zu verbergen.
Ein wenig fahrig greift er nach dem Handtuch, dass sie ihm hinhalten, und trocknet sich relativ gelassen ab. Sollen sie ihn doch sehen.
Das ist im Augenblick nicht sein größtes Problem. Außerdem haben sie wenigstens den Anstand, nicht über ihn herzuziehen oder sich über seinen Körper zu amüsieren.
Er war dahingehend auf alles gefasst.
Sie reichen ihm die frischen Sachen, und er kleidet sich wieder an. Erneut schießt Rick der Gedanke durch den Kopf, dass er sich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr so frisch und sauber vorkam. Es ist ein gutes Gefühl.
Und diese kurzzeitige Freude lässt ihn einfach ganz ruhig in die Hocke gehen und nach seinen alten Klamotten greifen. Er hebt den kleinen Haufen von dem gefliesten Boden auf und steckt unauffällig seine Hand - glücklicherweise - sofort in die richtige Hosentasche. Niemand hält ihn auf, und niemand sieht in auch nur misstrauisch an, als er den Männern mit fragendem Gesichtsausdruck seine dreckigen Kleider hinhält. Sie deuten einfach nur missmutig auf den Boden, wo er sie scheinbar liegen lassen soll.
Mission geglückt.
Zumindest der aktuelle Teil.
Er lässt das Häufchen wieder fallen, das später wahrscheinlich noch durchsucht wird, und lässt den Zettel aus seiner Hand in die Hosentasche gleiten, als sie sich alle wieder zum Gehen wenden. Diesmal in die hintere.
~ 🗝️ ~
Nach seiner Audienz beim Richter wird Rick langsam unruhig.
Ihm fällt es schwer, diesen Mann einzuschätzen. Rick hat ihm alles noch einmal erzählt, was er bei seiner ersten Anhörung schon einmal vorgebracht hat. Geendet hat er mit seiner und Jennys Überlegungen. Der Richter hat sich alles ruhig angehört, und seinen Soldaten dann mit einer leichten Handbewegung angedeutet, ihn wieder in seine Zelle zu bringen.
Keine Nachfragen, keine Anmerkungen, keine Gefühlsregung in irgendeine Richtung in seinem Gesicht.
Die einzigen Worte, die er zu ihm gesagt hat, beinhalteten die Begrüßung und die Aufforderung, zu sprechen.
Jetzt, auf dem Weg zurück, ist Ariu erneut nirgends zu sehen und je mehr Zeit während dem Laufen verstreicht, desto schwerer scheint die Nachricht von Jenny in Ricks Hosentasche zu werden.
Aber klar - warum sollte Ariu auch ausgerechnet jetzt draußen unterweg sein? Und dann auch noch auf dem Weg, den Ricks Eskorte wählt?
Rick versucht, sich möglichst unauffällig umzusehen, um den Soldaten keinen Anlass zu geben, noch intensiver auf ihn aufzupassen, weil sie in seinen Blicken die Suche nach möglichen Fluchtwegen vermuten.
Was ihm scheinbar aber eher schlecht als recht gelingt, da sie ihn zunehmend fester an den Armen packen. Außerdem führen die Soldaten ihn diesmal einen anderen Weg entlang, vermutlich auch, um ihn zu verwirren und ihm die Orientierung zu erschweren.
Während er absichtlich ein wenig langsamer schlurft, versucht er, noch so viel Sonnenlicht wie möglich zu tanken. Zumindest davon wird ihn niemand abhalten können.
Und dann sieht Rick seine Chance.
Er hat schon vor einigen Schritten erkannt, dass sich in einigen Metern Entfernung ein Laden auf der linken Straßenseite befindet. Und im Näherkommen erkennt er auch die Schaufensterauslagen - Kräuter und Salben, Gewürze und so weiter.
Lydas Laden.
Die Frau, die Jenny an ihrem ersten Tag aufgenommen hat, und die mit Arius Mutter ziemlich gut steht. Kays Heilerin.
Zu der Lukka möglicherweise noch ab und an muss, um die Heilung seiner Wunde überprüfen zu lassen.
Lukka, der mittlerweile bei Ariu und seiner Mutter wohnt... und den sein Cousin möglicherweise zu Lyda begleitet.
Klar, es ist nur eine Chance, eine Möglichkeit, aber wahrscheinlich die beste, die sich ihm bieten wird.
Rick und seine beiden Begleiter sind mittlerweile nur noch wenige Schritte vom Laden entfernt, und er verschiebt seine Arme auf dem Rücken langsam weiter nach rechts, streckt seine Hand in Richtung Hosentasche.
Kommt gerade so an Jennys kleine Nachricht heran, und zieht seine Hand langsam wieder zurück, während er versucht, einfach genauso unauffällig weiterzugehen, wie zuvor.
Dann lässt er den Zettel los.
Rick wagt nicht, sich nochmal danach umzudrehen, auch wenn es ihn geradezu in den Fingern juckt, es doch zu tun. Starr behält er seinen Blick geradeaus, schaut lediglich aus den Augenwinkeln zu den Soldaten neben ihm, von denen scheinbar keiner etwas mitbekommen hat. Dafür fällt Rick etwas anderes ins Auge.
Ein blonder Haarschopf, der in der Gasse nach Lydas Laden aufgetaucht ist, und sich langsam, aber zielstrebig darauf zubewegt.
Rick wagt eine leichte Drehung seines Kopfes in diese Richtung.
Er könnte es sein.
Soll ich ihn noch irgendwie auf mich aufmerksam machen? Damit er nachdenklich wird? Checkt er, dass ich ihm etwas signalisieren will?
Die Zahnrädchen rattern wild in seinem Kopf. Wenn, dann muss er sich schnell entscheiden. Ariu - wenn er es denn ist - ist bereits wieder aus seiner Sicht verschwunden.
Okay.
Rick sammelt sich kurz, dann stolpert er über seine eigenen Füße - zumindest sieht es für die Soldaten so aus. Er bleibt kurz stehen, räuspert sich und stößt ein kurzes, bellendes Husten aus.
Dann gibt er das beste Bärenbrummen von sich, das er zustande bringt.
Vielleicht versteht Ariu ja.
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