▫️Arthur Clavis▫️
Ich strecke mich und gähne. Endlich fühle ich mich mal wieder ausgeschlafen.
Wie viel Uhr es wohl ist?
Mir entfährt ein leiser Schrei, als ich auf das Ziffernblatt meiner Armbanduhr schiele.
Ich habe soeben meinen Lang-Schlaf-Rekord gebrochen.
Wir haben viertel nach drei.
Ich springe aus dem Bett und gähne noch einmal ausgiebig.
Mir knurrt der Magen, da meine letzte Mahlzeit schon fast einen ganzen Tag zurückliegt. Deshalb beschließe ich, mal im Kühlschrank nach etwas Essbarem Ausschau zu halten, danach werde ich Mia anrufen.
~ 🗝️ ~
Mia und ich haben es uns in dem Raum hinter ihrem Laden gemütlich gemacht. Sie hat ein Schild mit der Aufschrift "Geschlossen" an die Eingangstür gehängt, damit ich ihr berichten kann, ohne von einem der seltenen Kunden unterbrochen zu werden.
Ich sitze auf demselben Sofa, wie letztes Mal und erzähle Mia vom gestrigen Abend. Von Lukka, wie wir mit dem Heuwagen geflohen sind und dass Lukka angeschossen wurde.
Mia hört mir aufmerksam zu und fragt dann Einzelheiten nach, die sie nicht verstanden hat.
Dann will sie wissen, was ich über das Lager so herausgefunden habe, woraufhin ich meine Liste aus der Hosentasche krame und sie ihr zeige, während ich den ein oder anderen Punkt noch ein wenig ausformuliere.
"Du kannst, wenn ihr von eurem Auftrag berichten sollt, ja erzählen, dass du dir das aufgeschrieben hast, als du bei Ariu zu Hause aufgewacht bist. Dass du es schriftlich festgehalten hast, damit du es nicht vergisst", meint Mia zu mir, nach dem sie über die aktuellsten Informationen im Bilde ist.
Ich nicke.
"Ja, so etwas ähnliches hatte ich auch vor zu sagen. Mann, bin ich froh, dass Wochenende ist. Endlich konnte ich mich mal wieder so richtig ausschlafen", wechsele ich dann das Thema. Gerade habe ich erstmal genug über Veron geredet, mir brummt schon wieder der Schädel.
"Kann ich mir vorstellen", schmunzelt Mia. "Was machst du heute noch so?"
"Keine Ahnung." Ich zucke mit den Schultern. "Warum fragst du?"
"Wollen wir gemeinsam ein Eis essen gehen? Ich lad dich auch ein. Du solltest mal ein wenig Abwechslung bekommen. Außerdem ist es heute verhältnismäßig warm im Gegensatz zum Rest der Woche."
Nachdem wir das "Antike Paradies" verlassen haben, merke ich, dass ich mich langsam sogar daran gewöhne, von niemandem beachtet zu werden.
Soweit das eben geht.
Gerade eben finde ich es sogar ganz gut, hierdurch in Ruhe nachdenken zu können.
Ich versuche, die Umgebung hier mit der aus Veron zu vergleichen.
Hier liegt überall Müll auf der Straße und auf dem Gehweg. Die Passanten laufen meistens grußlos und gehetzt an einem vorbei. Okay, ich verzeihe ihnen, dass sie mich nicht grüßen. Wie sollten sie auch.
Aber auch gegenseitig schenken sie einander kaum Beachtung. Alle haben es eilig, Niemand steht einfach nur da und genießt die letzten paar Sonnenstrahlen, bevor sich der Herbst endgültig verabschiedet und dem Winter weicht.
Die Autos blasen ihre Abgase in die Luft und auch aus Fabriken wird eifrig Kohlenstoffdioxid in die Luft abgelassen. Alles wird von Menschen kontrolliert oder zu kontrollieren versucht.
In Veron hingegen lässt niemand einfach seinen Müll in der Weltgeschichte herumliegen, zumindest habe ich keinen gesehen. Autos, die die Luft verpesten könnten, gibt es noch nicht einmal.
Und ich würde deshalb nicht sagen, dass dies an der mangelnden Kompetenz der Bewohner Verons liegt, solche zu entwickeln.
Sie leben einfach im Einklang mit der Umwelt und wollen ihr nicht schaden, weswegen sie auch keine umweltschädlichen Gegenstände produzieren.
Ich glaube, es wäre gar nicht so gut, wenn Veron für alle offenstünde.
Diese andere Welt würde viel zu schnell wie unsere werden, und Veron wäre nichts Besonderes mehr.
Ich habe den Drang, meine Gedanken Mia mitzuteilen, aber irgendetwas hält mich zurück. Dieses irgendetwas sagt mir, dass sie mich nicht verstehen würde.
Denn ich habe schon die ganze Zeit über das Gefühl, dass Mia sich genau das wünscht: Dass Veron auch für alle anderen Menschen auf der Erde frei zugänglich wäre.
Und vermutlich ist das auch genau das, was auch die Wissenschaftler beabsichtigten.
Zumindest könnte ich mir das vorstellen.
In dieser Hinsicht werde ich Mia nicht weiterhelfen, denke ich entschlossen. Wenn sie will, dass ich irgendetwas tue, was dazu beitragen könnte, dass noch jemand anderes von der Erde nach Veron kommen könnte, werde ich ihr nicht weiterhelfen. Ich will nicht, dass Veron noch mehr Schaden zugefügt wird.
Und wir Menschen von der Erde sind anscheinend Gift für Veron. Das hat sich schon an den Wissenschaftlern gezeigt.
Gleichzeitig komme ich mir bei diesen Gedanken jedoch auch egoistisch vor, weil ich finde, dass niemand nach Veron springen sollte... jedoch selbst nicht mehr darauf verzichten möchte.
Aber ich kann mir irgendwie gar nicht mehr vorstellen, nicht in Veron gewesen zu sein. Nicht in Kay. Nicht bei Lyda, Manuela, obwohl ich sie eigentlich gar nicht kenne. Auch will ich wissen, wie die Sache mit Lukka weitergeht, und ob seine Schusswunde gut verheilt.
Aber vor allem würde ich Ariu vermissen.
Er ist der Einzige, dem ich bedingungslos vertraue.
Diese Erkenntnis rammt meinen Kopf gerade wie eine Abrissbirne.
Mia ist fast so etwas wie eine Freundin. Aber sie hat in so mancher Hinsicht einfach andere Vorstellungen von Tun und Lassen als ich.
Lyda... sie ist toll, großherzig und gütig. Trotzdem denke ich, dass sie mich mit anderen Augen sehen würde, wenn sie von meiner wahren Herkunft, von meinem Zuhause auf der Erde wüsste.
Ich weiß, dass ich gar nicht erst noch über Lukka, Manuela oder Weiß-Gott-wen nachdenken muss, denn mir ist gerade klar geworden, dass ich Niemandem mehr vertrauen würde als Ariu.
Ich habe ihm von meiner Herkunft erzählt und er hat mich deshalb nicht erschossen, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Er hat mir das Leben gerettet, als wir aus dem Lager der Nachkommen geflüchtet sind.
Er...
Ich wüsste gedanklich noch so viel hinzuzufügen. Und ich glaube, dass Ariu mir auch irgendwie vertraut. Dass es sein Wunsch ist, dass ich ihn zum Grab seines Vaters begleite, ist für mich auch so etwas wie ein Vertrauensbeweis seinerseits.
Gerade noch kann ich mich fangen, bevor ich auf den Gehsteig knalle, da ich über einen Stein gestolpert bin.
Ich versuche, wieder den Faden zu meinen letzten Gedanken aufzugreifen. Verwirrt durchforste ich mein Hirn, aber sie sind mir abhanden gekommen. Ich schüttle den Kopf. Mir fällt beim besten Willen nicht mehr ein, worüber ich gegrübelt habe.
Abstrus.
Ich grübele noch eine Weile, aber schließlich gebe ich es auf. Wie sagt man doch so schön, wenn einem etwas nicht mehr einfällt?
"Dann war's wohl nicht so wichtig."
Also, liebe Gedanken: Ihr könnt bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Der Nachmittag endet schließlich damit, dass Mia und ich gemütlich im "EISCAFÉ OASE" sitzen und ich gedankenverloren an meinem Zitroneneis schlecke.
Einige Male kommen Passanten vorbei und fragen, ob neben Mia noch frei ist, aber sie weist alle ab, bevor sie sich auf mir niederlassen können.
~ 🗝️ ~
Ich lande im Bett des Gästezimmers von Manuela und Ariu, da ich Veron gestern in eben diesem verlassen habe.
Meinen restlichen Tag auf der Erde habe ich weiterhin mit Mia verbracht, am Abend habe ich bei ihr gegessen.
Danach hat sie mich nach Hause gefahren, ich habe geduscht und mich sprungbereit gemacht.
Ariu erwartet mich bereits auf meiner Bettkante sitzend, er zuckt kurz zusammen, als ich erscheine.
Die Zeit für eine Begrüßung nimmt er sich jedoch nicht, sondern beginnt sofort, auf mich einzureden.
"Du wirst nicht glauben, was passiert ist, während du nicht da warst!", Arius Augen funkeln mich an und ziehen mich in ihren Bann.
"Einige Stunden nachdem du Veron verlassen hattest, wurden drei Männer festgenommen. Sie sind unseren Spuren gefolgt, Jenny, vom Lager der Nachkommen aus bis hierher!
Der Richter hat sie bereits befragt - hier bei mir war er übrigens auch nochmal, wollte wissen, was wir erlebt haben. Ich habe ihm geantwortet, du seist noch nicht ganz fit und dass er besser später nochmal auf uns zukommen solle.
Er scheint mittlerweile etwas angepisst zu sein, ist daraufhin allerdings wieder gegangen.
Jedenfalls, die drei Männer hat der Richter schon verhört. Laut dem, was man so hört, haben sie zugegeben, aus dem Lager der Nachkommen zu stammen.
Ihren Aussagen zufolge hatten sie ihre Anführer immerhin noch nicht informiert, das Dorf gefunden zu haben, bevor sie von unseren Wachen entdeckt und festgenommen wurden.
Da die drei Männer einzeln befragt wurden und alle das gleiche berichtet haben, dürften ihre Aussagen eigentlich der Wahrheit entsprechen.
Man hat sie, gleich nachdem sie von den Wachen entdeckt und gefangen genommen wurden, in unterschiedliche Zellen gesperrt. Es wurde auch noch ein Soldat ausgeschickt, um in der Umgebung von Kay nach weiteren Eindringlingen zu suchen, aber er kam Stunden später wieder zurück, ohne jemanden gefunden zu haben.
Scheinbar hatten wir nochmal Glück im Unglück."
"Das ist nicht dein Ernst!"
Ich sehe ihn schockiert an.
"Was denken denn jetzt die anderen aus Kay von uns? Wir haben drei Nachkommen nach Kay geführt!"
Ariu sieht mich betreten an.
"Ich glaube, das hängt nun davon ab, was wir im Lager der Nachkommen herausgefunden haben. Außerdem können die drei Männer jetzt ja ebenfalls aus dem Lager berichten.
Und dann ist Lukka ja auch noch da. Wenn sie erstmal wissen, wer er ist, werden sie uns sicher mehr Verständnis entgegenbringen. Und er kann ebenfalls aussagen, sobald er wieder auf dem Damm ist. Ich habe noch nichts neues von ihm gehört und deshalb vor, ihn zu besuchen, damit wollte ich aber noch auf dich warten. Kommst du mit?"
"Klar."
Ich freue mich über Arius Vorschlag.
"Wann genau kommt der Richter denn wieder vorbei?"
Nach Arius schnellem Themenwechsel versuche ich vorerst, das Gespräch nicht mehr in Richtung der drei Nachkommen zu lenken. Ihm ist es sichtlich unangenehm, dass sie uns gefunden haben... Ebenso wie mir.
Er zuckt mit den Schultern.
"Ich habe keine Ahnung. Werden wir dann schon merken. So haben wir immerhin noch etwas Zeit, uns zu überlegen, was wir dem Richter am besten mitteilen."
Dann stöhnt er und fasst sich mit einer Hand an die Stirn.
"Oje, daran habe ich ja gar nicht gedacht! Wir sollten uns aufschreiben, was wir alles gesehen und herausgefunden haben. Ich bin mir sicher, dass ich das alles nicht aus dem Gedächtnis wiedergeben kann."
In freudiger Erwartung grinse ich Ariu an, greife in meine Hosentasche und ziehe meinen sorgfältig gefalteten Zettel mit den Stichpunkten zum Lager der Nachkommen heraus.
Am liebsten würde ich mich in dem Blick, mit dem er mich bedenkt, sonnen.
"Du hast das alles schon aufgeschrieben?"
Ariu wartet mein Nicken ab und erwidert dann: "Du bist großartig!"
Er lächelt mich breit an.
"Und ich dachte schon, wir müssen die Zeit, in der du heute hier bist, damit verbringen unsere Gehirne nach gesehenen Einzelheiten zu durchforsten, die wir berichten können! Super, dass du mitgedacht hast, echt!"
Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie ich bei seinem Kompliment leicht erröte.
Schnell wende ich den Blick ab und mustere erneut Arius Vater auf dem Bild an der Wand.
Ariu reißt mich aus meiner Betrachtung, indem er sich von der Bettkante erhebt, dann überrascht er mich, indem er mir die Hand hin streckt, um mich hochzuziehen.
"Na los, lass uns sehen, wie es meinem lieben Cousin geht. Mom weiß übrigens schon darüber Bescheid, wer Lukka ist. Sie ist heute früh losgegangen, um ihn zu besuchen und seitdem nicht mehr nach Hause gekommen."
Als wir auf dem Weg nach draußen im Wohnzimmer angelangt sind, halte ich automatisch nach einem Fernseher Ausschau und muss feststellen, dass es keinen gibt.
Verwirrt blicke ich zu Ariu, der schon neben der Eingangstür steht und seine Schuhe anzieht.
"Sag mal, habt ihr eigentlich keinen Fernseher?"
Arius Gesichtsausdruck drückt deutlich seine Verwirrung aus.
"Einen WAS haben wir nicht?"
Ich stöhne innerlich, warum war ich auch so doof und habe ihn danach gefragt... Ich hätte mir auch denken können, dass hier in Veron neben Autos auch weitere technische Geräte hier noch nicht vorhanden sind. Jetzt darf ich lang und breit erklären, was ein Fernseher ist.
"Einen FERNSEHER", wiederhole ich mich. "Das ist ein elektronisches Gerät, ungefähr so groß", ich zeige ihm mit den Armen die Größe eines normalgroßen Flachbildschirmfernsehers, "und die neueren Modelle sind ziemlich flach, nur noch etwas dicker als ein Tablet."
Sein Gesicht hellt sich auf.
"Ah, ein Tablett! Ja, so eines haben wir auch! Wir sprechen es nur etwas anders aus."
Allein schon von der Aussprache her habe ich so eine Ahnung, was er mir nun bringen wird. Als er in einem Nebenraum verschwindet, der die Küche beherbergt, wie ich durch die Glastür erkennen kann, verstärkt sich dieser Verdacht.
Ariu wühlt in einem Schrank, wird dort anscheinend nicht fündig und begibt sich zu einem Regal, aus dem er ein Tablett herauszieht, wie man es aus einer Wirtschaft von Kellnern kennt.
Er kommt mit dem Tablett in der Hand zu mir zurück und blickt mich erwartungsvoll an.
"Ähm ja. Genau. Ein Flachbildschirmfernseher ist etwas dicker als so ein Tablett."
Bevor ich mich noch tiefer in, zumindest für ihn, Fremdwörter verstricke, übergehe ich den Unterschied zu meinem eigentlich gemeinten Tablet einfach.
Ariu schaut mich zufrieden an, er scheint froh zu sein, dass er wenigstens ein Tablet kennt. Zumindest nimmt er das jetzt an.
Ich setze meine Erklärung fort.
"Man kann auf so einem Fernseher Nachrichten aus der ganzen Welt sehen, also, aus unserer Welt. Und es gibt Serien, die eher zum Zeitvertreib gedacht sind, auch spezielle Kinderkanäle. Dort kommt dann so etwas wie Benjamin Blümchen..."
"Wer oder was bitte ist Benjamin Blümchen?", unterbricht mich Ariu. Er bricht kurz in Gelächter aus, als ich ihm antworte, dass Benjamin Blümchen ein sprechender Elefant sei, der einen Menschenjungen namens Otto zum Freund hat.
"Ariu, Benjamin Blümchen ... Ach, ist das nicht egal? Was ich mir ab und an ganz gerne ansehe, sind Tier- oder Quizsendungen. Bei Letzteren gibt es auch unterschiedlich hohe Eurosummen zu gewinnen."
Ariu sieht mich schon wieder verwirrt an und ich seufze, langsam aber sicher etwas entnervt.
"Sag jetzt bloß nicht, dass ihr hier eine andere Währung habt!"
Er grinst mir verlegen zu.
"Sorry, aber unter deinem Fernsea kann ich mir wirklich nicht viel vorstellen.
Und wir bezahlen mit Treas, das sind bronzene Münzen, die früher einmal hergestellt wurden, als Kay sich noch nicht verstecken musste."
"Okay... Fernseher sind jetzt auch nicht so wichtig. Ich kann dir ja mal ein Foto davon auf meinem Handy zeigen.
Kannst du mir so "Treas" mal zeigen?"
"Bei Gelegenheit gerne..."
Schon wieder runzelt Ariu die Stirn.
"Was ein Foto ist, weiß ich, aber bisher dachte ich, man könnte Fotos nur mit Kameras machen, von Händies habe ich noch nie gehört.
Was zum Teufel ist das denn schon wieder?"
"Ein Handy ist kleiner als ein-", ich will schon Tablet sagen, kann mich aber gerade noch bremsen, "Fernseher. Nur ungefähr ein Zehntel so groß - in etwa."
Arius Augen werden immer größer.
"Und was macht man so mit einem Händie? Nur Fotografieren?"
"Du kannst Leuten Nachrichten schreiben, egal, wo sich diese befinden. Außerdem kannst du dir verschiedene Apps wie Spiele aufs Handy laden, Musik hören und ins Internet gehen..."
Ich war so eifrig dabei, Ariu über Handys aufzuklären, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich schon wieder mit ihm unbekannten Begriffen um mich geworfen habe.
Er schaut mich überrascht und mit hochgezogenen Augenbrauen an, seine Augen sind immer noch groß und rund wie Teller. Ariu wirkt so, als ob er sich nicht entscheiden könnte zwischen Skepsis und Begeisterung.
Ich schätze, er hat nun verstanden, dass es Dinge gibt, über die er nicht Bescheid weiß und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hält er diese Erkenntnis für sehr ernüchternd und niederschmetternd.
Ich verspüre ein wenig Mitleid mit ihm. Er muss wirklich ziemlich wenig von meiner eigentlichen Erläuterung kapiert haben.
"Egal. Lassen wir das Thema jetzt erstmal gut sein. Ich habe mein Handy heute nicht dabei... Ehrlich gesagt habe ich noch nie daran gedacht, es hierher mitzunehmen. Aber wenn du willst kann ich es ja morgen einstecken und dir zeigen. Lass uns jetzt zu Lukka gehen, bevor ich wieder heim muss."
"Äh... okay", Ariu wirkt ein bisschen unbeholfen, anscheinend weiß er über ziemlich viele Dinge Bescheid und es kommt nicht so oft vor, dass er von irgendetwas wirklich überhaupt keinen Plan hat. Sonst würde er wohl nicht so verlegen sein.
Ich würde gerne wissen, ob ich mit meiner Vermutung, dass es in Veron keine Autos und derartige Verkehrsmittel gibt, richtig liege. Aber ich will Ariu nicht schon wieder in Verlegenheit bringen, denn wenn meine Vermutung stimmt, hat er auch von Autos keine Ahnung.
Immerhin scheinen die Bewohner von Veron Fußball zu kennen, denn auf dem Weg zu Lyda kommen Ariu und ich an einer Wiese vorbei, auf der einige Jungen, so um die zehn Jahre alt, einem Ball hinterher jagen.
Auf der Wiese sind zwei Tore aufgestellt, und während wir vorbei gehen, sehe ich den Jungs beim Kicken zu. Der Spielverlauf erinnert mich sehr an Fußball auf der Erde - soweit ich das beurteilen kann.
"Ariu? Was spielen die da?" Ich deute auf die Jungen, die meiner Meinung nach Fußball spielen.
"Kennst du das nicht? Das war eines der ersten Dinge, von denen deine Vorfahren auf der Erde uns hier in Kay erzählt haben! Anscheinend hielten sie damals sehr viel von dieser Sportart. Aber jetzt weißt du ja nicht mal mehr, was das ist!"
Sein Gesichtsausdruck, der immer noch freundlich geblieben ist, zeigt mir, dass er das eher als Tatsache gemeint hat und nicht beleidigend.
"Nein, nein, das hast du falsch verstanden. Fußball ist auf der Erde noch immer beliebt, höchstwahrscheinlich noch beliebter als damals. Ich habe nur gefragt, weil ich an den Toren, den zwei Teams und dem Ball große Ähnlichkeit dazu erkannt habe. Ich war mir aber nicht sicher, ob es hier in Veron auch Fußball heißt."
Eigentlich wollte ich nur nicht, dass Ariu dann wieder nicht weiß, von was ich rede, wie beim Fernseher und dem Handy, aber das braucht er ja nicht zu wissen.
Schließlich kommen wir bei Lyda an und Ariu drückt auf die Klingel neben der Haustür.
Eine Sprechanlage gibt es nicht, möglicherweise noch etwas, das hier in Veron noch nicht erfunden ist.
Sie schaut nach ein paar Klingeltönen aus einem Fenster im ersten Stock und als sie uns erkennt, hellt sich ihr Gesicht auf.
"Ich komme gleich zu euch runter, wartet kurz!", ruft sie uns von oben zu.
Einen automatischen Türöffner scheint es auch nicht zu geben.
Wahnsinn, wie mir diese für mich so selbstverständlichen Dinge hier alle erst wirklich bewusst auffallen, da sie fehlen.
Während wir mit Lyda zusammen ihr Haus betreten, redet sie schon gutmütig auf uns ein.
"Schön, euch zu sehen! Ihr seid sicher hergekommen, um Lukka zu besuchen, hab ich Recht? Er ist wach und hat schon mit Manuela gesprochen, ihr glaubt nicht, wie glücklich sie ist. Durch ihn ist sie auch ihrem Bruder nahe, den sie nie kennengelernt hat.
Ich musste sie schon zurückhalten, sonst hätte sie Lukka womöglich stundenlang Löcher in den Bauch gefragt.
Er soll sich erst wieder richtig erholen, bevor er ihr ausführlich von Bent berichten kann.
Lukkas Schusswunde habe ich, so gut ich konnte, behandelt, er wird meine kleine Krankenstation bald wieder verlassen können, wenn er seinen Arm nicht bewegt und seine Schulter fest verbunden hält.
Seinen rechten Arm wird er jedoch nicht mehr richtig benutzten können.
Ach, und wenn er bei mir auszieht wird er wohl bei dir daheim einziehen."
Dann wendet sie sich von Ariu zu mir.
"Du kannst dann gerne wieder zu mir kommen, wenn Lukka in Manuelas Gästezimmer wohnt, ja?"
Ich nicke ihr dankbar zu.
Sie scheint mir mittlerweile mehr zu vertrauen, nach Arius und meinem gemeinsamen Auftrag.
Gleichzeitig bin ich jedoch jetzt schon traurig, bald nicht mehr so nah bei Ariu zu sein.
Wir gehen zu einer Tür, die einen Spalt breit offen steht, und ich erkenne dahinter das Zimmer, in dem ich angeblich fast 24 Stunden lang geschlafen habe.
Vorsichtig tritt Ariu ein.
Als Lukka die Geräusche hört, die wir verursachen, späht er über seine Zeitschrift hinweg, setzt sich etwas aufrechter auf sein Bett und blickt uns erfreut an. Unter der Bettdecke, die er bis zu seinem Hals hochgezogen hatte, kommt an der rechten Schulter ein dicker Verband zum Vorschein, dessen leuchtendes Weiß einen starken Kontrast zu der schwarzen Bettdecke bildet.
Neben Lukka, auf einem abgenutzten Klappstuhl, sitzt Arius Mutter Manuela und lächelt uns kurz zu, bevor sie ihren nachdenklichen, aber glücklichen Blick wieder auf Lukka ruhen lässt.
"Hey, Ariu, ich dachte schon, ihr kommt mich gar nicht mehr besuchen! Meiner Schulter geht es schon besser, aber Lyda meint, ich dürfe sie noch nicht belasten. Na, Glück im Unglück. Ich bin Linkshänder, von daher bin ich wenigstens nicht vollständig abhängig von anderen Leuten, bis meine rechte Schulter wieder intakt ist. Setzt euch doch."
Lukka bewegt seinen rechten Arm, um neben sich auf das Bett zu klopfen, verzieht das Gesicht und stößt einen Schmerzenslaut aus, dann zieht er den Arm mit der verletzten Schulter wieder vorsichtig zurück. Ariu beobachtet ihn mit einer Sorgenfalte auf der Stirn.
Als Lukka das Gesicht seines Cousins sieht, grinst er schief und dieser schüttelt leicht amüsiert den Kopf.
Dann lässt Ariu sich neben seinem Cousin auf dem Bett nieder, rutscht ein wenig zur Seite und klopft neben sich. Ich folge seiner Geste und setze mich vorsichtig neben ihn.
Als Lyda die Stimme erhebt, zucke ich zusammen, ich hatte schon fast vergessen, dass sie auch noch im Raum ist.
"Ich werde jetzt mal anfangen, etwas zu kochen. Ihr könnt gerne alle noch zum Essen bleiben. Kannst du mir bei der Vorbereitung helfen, Manuela?"
Etwas widerwillig erhebt sie sich und tritt hinter Lyda durch den Türrahmen. Man hört sie sich noch unterhalten, bevor Manuela die Tür hinter sich schließt. Lukka, Ariu und ich sind nun endlich alleine im Raum.
"Lukka", beginnt Ariu nach ein paar Minuten, "wir sollten uns noch bei dir bedanken. Nur wegen uns bist du überhaupt angeschossen worden, weil du versucht hast, uns sicher durch die Straßen aus dem Lager der Nachkommen zu kutschieren."
Bei dem Wort "sicher" muss ich ein Lächeln zurückhalten, dann sehe ich zu Lukka und bemerke, dass dieser eingeschlafen ist. Sein Mund steht offen und er atmet gleichmäßig.
Ich stoße Ariu leicht mit meinem Ellenbogen an.
"Schau mal", flüstere ich, "er ist eingeschlafen, deshalb bekommst du keine Antwort."
"Oh." Ariu lächelt auf seinen älteren Cousin herab, dann wendet er sich mir zu.
"Und was machen wir jetzt, bis es Essen gibt?"
"Keine Ahnung", will ich schon sagen, da kommt mir doch eine Idee.
"Du hast doch gestern Abend gemeint, dass wir deinen Vater mal besuchen könnten, du weißt schon. Ich glaube, wir hätten noch genügend Zeit, und wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit bietet..."
Ich ärgere mich darüber, dass ich so herumdruckse, aber Ariu scheint es nicht zu bemerken oder es stört ihn nicht."Okay, wenn du willst."
Wir laufen die Treppen leise nach unten, um Lukka nicht gleich wieder aufzuwecken.
"Mom?" Arius Mutter kommt aus der Küche. "Lukka ist eingeschlafen. Ich zeige Jenny ein wenig unser Dorf. Wir sind in einer guten Stunde wieder zum Abendessen zurück."
Manuela nickt, woraufhin wir uns wieder zum Gehen wenden.
Als wir nach einem Gewirr aus Gassen das eiserne Tor zum Friedhof erreichen, setze ich mich auf eine Bank und atme tief durch, bevor wir die Ruhestätte der Toten betreten. Wir sind eine Weile gejoggt, und wenngleich ich nicht unbedingt unsportlich bin, von Langstreckenläufen hält mein Körper wenig.
Ariu lässt sich neben mich fallen, ihm hat das Laufen scheinbar gar nichts ausgemacht. Er mustert mich belustigt und ich tue beleidigt und ziehe eine Schlöppe.
"Glotz' nicht so angeberisch!"
Er lacht nur noch mehr und ich stehe auf. "Wollen wir jetzt weiter oder willst du zu spät zum Essen kommen?", versuche ich etwas ärgerlich, ihn zum Aufhören zu bringen.
Irgendwie kränkt es mich... Es wirkt ein wenig, als lache er mich aus.
Ariu wirft mir nur einen rätselhaften Blick zu, während er sich langsam wieder beruhigt. Dann treten wir durch das Tor hindurch.
Die Gräber am Eingang wirken trostlos, es scheint, als kommt selten jemand hierher.
Der Schotter knirscht unter unseren Schuhsohlen, als wir auf dem Weg zu dem Grab von Arius Vater durch die Grabreihen wandern.
Uns begegnen ein paar alte Omas, die mit Gießkannen und Blumensträußen zu den Ruhestätten ihrer verstorbenen Verwandtschaft unterwegs sind.
Als Ariu stehen bleibt, stehen die Gräber um uns herum bereits um einiges gepflegter aus. Auf dem Grabstein, der seinen Blick auf sich gezogen hat, ist nur ein einziger Name eingraviert:
𝑨𝒓𝒕𝒉𝒖𝒓 𝑪𝒍𝒂𝒗𝒊𝒔
Ich rufe mir das Bild von Arius Vater ins Gedächtnis und denke mir seinen Namen dazu. Dann überlege ich mir Arius Namen.
Ariu Clavis.
Es klingt schön.
Auf dem Arthur Clavis' Grab sind einige Blumen gepflanzt worden, was den kalten Granitstein etwas freundlicher wirken lässt. Das Grab ist nicht tip-top gepflegt, aber man sieht, dass sich jemand regelmäßig darum kümmert.
Ich stelle mir vor, wie Ariu, wenn er Zeit hat, öfters hierher kommt, sich an der Grabbepflanzung und dem Unkraut zu schaffen macht und dass er sich alle Mühe gibt, dass das Grab seines Vaters in einem sauberen Zustand ist.
Vielleicht glaubt er, dass sich sein Vater darüber freut, wenn er vom Himmel auf seinen Sohn herabsieht und dieser ihm getreu das Grab pflegt... So als eine Art Verbindung, überlege ich.
Mir gefällt diese Vorstellung.
"Ariu?", frage ich vorsichtig nach einer Zeit, in der sich die Stille dahin gezogen hat und jeder für sich das Grab angestarrt hat.
Nun wendet er den Kopf und blinzelt ein paar Mal verwirrt, als hätte ich ihn aus einem Traum geweckt.
Sein schiefes Lächeln tut mir im Herzen weh. Ariu scheint entweder verlegen oder nervös zu sein. Er blickt zu Boden und schabt mit seiner Schuhspitze unruhig in der Erde zu seinen Füßen herum.
"Ich wünschte, ich könnte dich ihm vorstellen", sagt Ariu, ohne mich anzusehen. "Er würde dich mögen, das weiß ich."
Ich hingegen weiß absolut nicht, wie ich darauf reagieren soll. Nach kurzem Schweigen trete ich schließlich zu Ariu und berühre vorsichtig seine Hand. Ehe ich meine jedoch wieder zurückziehen kann, hält Ariu sie fest und verschränkt seine Finger mit meinen.
Trotz, dass mir bewusst ist, dass Ariu in dieser Geste hauptsächlich Halt sucht, durchläuft mich ein warmer Schauer.
"Versuch es doch einfach mal."
"Was soll ich versuchen?", hakt Ariu unsicher nach.
"Mich ihm vorzustellen."
Ariu hebt den Blick und sieht mich unsicher an. "Meinst du nicht, dass das..." Er schließt kurz die Augen. "Okay."
Dann wendet er sich von mir ab und starrt wieder den Grabstein an.
"Hey... Dad. Vermutlich fragst du dich schon, wer das Mädchen an meiner Seite ist."
Das Mädchen an seiner Seite? Was soll ich denn jetzt von der Formulierung halten?
Arius Blick schweift zurück zu mir und er sieht mich betreten an. Die Situation scheint ihm ein wenig peinlich zu sein.
"Darf ich dir Jenny vorstellen? Das Mädchen, von dem ich dir schon erzählt habe. Von der Erde."
Halt. Er hat seinem Vater schon von mir erzählt?
Erneut wendet sich Ariu zu mir um. "Jenny..." Plötzlich flackert eine neue Emotion in seinen Augen auf, die ich nicht deuten kann. Ariu schüttelt den Kopf.
"Verdammt, ich kann das nicht!"
Er löst seine Hand aus meiner, zieht einen kleinen Strauß aus Wiesenblumen aus seiner Hosentasche und lässt ihn auf das Grab seines Vaters fallen. Dann dreht er sich abrupt von dem Grab seines Vaters weg und läuft mit großen Schritten zurück zum Tor des Friedhofs.
Ich bleibe stehen und kann mich nicht rühren, allein mein Blick folgt ihm.
War es doch falsch, was ich gesagt habe? Es hat sich richtig angefühlt...
In mir beginnt sich Hilflosigkeit breitzumachen, doch ich stelle mich ihr entgegen. Ich bin selbst ziemlich überrascht von mir, aber ich setze mich nach einem letzen Blick auf Arthur Clavis' Ruhestätte in Bewegung, um seinem Sohn hinterherzueilen.
Was ich empfinde ist gerade egal, ich will für Ariu da sein.
Ich finde ihn auf der Bank vor, auf der ich mich vorhin niedergelassen hatte. Den Blick wie so oft auf den Boden gerichtet sitzt er in sich zusammengesunken da.
Wortlos nehme ich neben ihm Platz.
"Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich bloßgestellt fühlst", beginne ich.
Doch er schüttelt den Kopf.
"Nein. Es ist nur... ich hoffe nur so, dass er mich sieht. Dass er sieht, was aus mir geworden ist. Dass er sieht, wie es uns ohne ihn geht - ich vermisse ihn immernoch so sehr."
Endlich blickt er mir wieder in die Augen. Die tiefe Trauer, die ich darin lese, haut mich fast von der Bank. Letztendlich gibt sie mir dann jedoch doch nur einen kleinen Stoß nach links - zu Ariu hin.
Zuerst versteift er sich in meinen Armen, bevor er den Kopf an meine Schulter sinken lässt und eine Hand auf meinen Rücken legt.
"Ich bin mir sicher, dass er dich sieht. Und dass er wahnsinnig stolz auf dich ist."
Ariu antwortet mir nicht. Die einzige Regung, die er zeigt, ist, dass er mich ein wenig fester an sich drückt.
- - - - - - - - - - -
So, ich melde mich auch mal wieder.
Na, was sagt ihr zu den beiden?
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen (und dass es von der Länge her noch irgendwo okay war🙈).
Ihr könnt auf jeden Fall gespannt sein, was noch so alles kommt;)
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