𝕯𝖊𝖗 𝖆𝖈𝖍𝖙𝖟𝖊𝖍𝖓𝖙𝖊 𝕺𝖋𝖋𝖎𝖟𝖎𝖊𝖗
Geschickt balanciert das Mädchen über die schmale Mauer. Wie so oft nach der Schule ist sie alleine. Außer Edith hat sie keine Freunde und Edith ist heute krank. Den Heimweg wird sie also alleine antreten müssen.
Letztlich macht sie sich nicht viel daraus. Mit den anderen hat sie eben nicht so viel gemein, dass es für wirkliche Freundschaften genügen würde. Trotzdem sind sie nett zu ihr und sie ist es zu ihnen.
Ihr Blick fällt auf einen karamellblonden Schopf am unteren Ende der Mauer, wo als einziger ein Junge auf einer Bank sitzt. Sonst ist die Straße menschenleer. Neugierig bückt sie sich zu ihm hinab und erkennt das hübsche nachdenkliche Gesicht. Sie weiß nicht, wie er heißt, aber er besucht dieselbe Synagoge wie ihre Familie, geht auf dieselbe Schule wie Ediths Bruder, ist vier Jahre älter und wohnt mit seinen Eltern im teuren Cottageviertel in Währing. Jetzt sitzt er bloß hier, an ihrer Mauer, und blickt versunken auf ein Spielbrett.
Schach?
Das Mädchen setzt sich, lässt die kurzen Beine den Stein hinabbaumeln und betrachtet die Anordnung auf den Feldern.
„Schwarzer Springer auf E4. Dann ist das Schachmatt in vier Zügen."
Verwundert hebt er den Blick zu ihren riesigen Augen und betrachtet sie mit seinen grüngelben. Für einen Atemzug bleibt ihr Herz stehen. Hätte sie das lieber nicht sagen sollen?
Doch seine Mundwinkel verziehen sich zu einem warmen Lächeln.
„Oder Turm auf F8. Das wäre Matt in drei", erklärt er.
Angestrengt grübelnd fixiert sie wieder das Brett, spielt mit der roten Schleife an einem ihrer kurzen Zöpfe und wippt mit einem Bein, während sie versucht diesen Zug zu analysieren.
Aber er unterbricht ihre Gedankengänge: „Du spielst Schach?"
„Ja. Manchmal. Mit meinem Vater."
Der Junge strahlt sie im wahrsten Sinne des Wortes an. Selten hat sie so ein ehrliches und offenes Lächeln gesehen. Kein Wunder, dass Edith immer so von ihm schwärmt – auch, wenn sie es natürlich nur versteckt tut, aber ihrer besten Freundin entgeht nichts.
„Dafür bist du wirklich gut. Ich kenne niemanden in deinem Alter, der das mit dem Springer erkannt hätte."
„Danke. Brauchst du noch einen zweiten Spieler? Ich würd's gerne versuchen."
Mit einem flinken Sprung hüpft sie von der Mauer.
„Bist du nicht mit Josephs Schwester befreundet? Joseph Hafner."
Sie nickt. „Ziona."
„Hübscher Name." Er lächelt. „Isaak", stellt er sich vor und bedeutet ihr, am anderen Ende der Bank Platz zu nehmen.
Während des Spiels schweigen beide die meiste Zeit, nur hin und wieder fällt eine Bemerkung über ihren neusten Zug. Erst wenn es zu einem Matt oder Remis gekommen ist, verfällt Isaak wieder in den alten Plauderton. Bei der ersten Partie wähnt Ziona sich ihrer Sache noch ziemlich sicher – sie gewinnt zu seinem Erstaunten.
Bei der zweiten fällt es ihr schwerer mit seinen Zügen mitzuhalten. Gebannt beobachtet sie, wie er sich nachdenklich übers Kinn streicht, völlig in die Anordnung der Figuren auf den Feldern vertieft und dann jedes Mal ruhig und ohne jedes Zögern seinen Zug macht, ohne dass sie begreifen würde, was er damit plant. Es scheint, als sähen diese strahlenden goldgrünen Augen mehr als ihre.
Alles daran übt eine stille Faszination auf sie aus. Ihre Blicke haften längst öfter am Spieler als am eigentlichen Spiel. Irgendetwas lässt sie dort immer wieder und jedes Mal länger verweilen. Es endet in einem Remis.
Bei der dritten Partie verliert sie das Spiel endgültig aus den Augen. Immer wieder bewegen sich ihre weißen Figuren ziellos über das Brett, in einem Zug, der nicht weiter berechnet ist als bis zu ihrem nächsten. Entscheidende Momente lässt sie verstreichen, Gefahren missachtet sie zu lange oder übersieht sie komplett.
Stattdessen schweifen ihre Gedanken zu Isaaks grüblerischem Gesichtsausdruck und den Sonnenstrahlen in seinem Haar. Wie bei etwas Verbotenem ertappt, zuckt Ziona innerlich zusammen, als er sie schließlich wieder ansieht, versucht ihre seltsame Nervosität zu verdrängen und sich wieder auf die Figuren zu konzentrieren.
Und dann, das Ende: Schachmatt für sie.
„Gut gespielt."
Mit pochendem Herz starrt sie auf das Brett. Seine Worte erreichen sie nicht.
„Wie alt bist du, hast du gesagt?"
„Zehn", antwortet Ziona kaum vernehmbar, ohne den Blick zu heben. Sein Lächeln hört sie nur in seiner Stimme.
„Du hast wirklich großes Talent. Ich würde mich freuen, wieder mal gegen dich zu spielen. Aber jetzt solltest du besser gehen, deine Eltern warten bestimmt schon auf dich."
Damit hat er leider recht. Benommen läuft Ziona nach Hause, wo sie sofort mit Fragen bestürmt wird, wo sie so lange war. Sie hätte schon längst hier sein müssen.
„Ich hab' Schach gespielt", erklärt sie kleinlaut.
„Mit wem?" Ihr Vater runzelt die Stirn.
„Isaak Aschkenasy. Ein Freund von Ediths Bruder." Mehr will sie eigentlich gar nicht mehr sagen. Am liebsten würde sie sich einfach in ihrem Zimmer verkriechen und die letzte Stunde vergessen.
„Du klingst wenig glücklich darüber ..." Der sanfte Blick ihres Vaters bringt ihren inneren Widerstand zum Bröckeln und lässt ihre Gefühle aus ihr herausbrechen.
„Ich habe ja auch verloren. Mit Weiß! Keine Ahnung, wie das überhaupt passiert ist. Jetzt hält er mich bestimmt für dumm." Seufzend lässt sich Ziona auf das weiche Sofa fallen und zieht die Beine eng an ihren Körper. Zu verlieren ist eine Sache – es durch die lächerlichsten Fehler zu tun, eine andere. Sie hat sich vor Isaak blamiert, auch, wenn er es ihr nicht zeigen wollte. Am besten wäre es, wenn sie dem hübschen Jungen nie wieder begegnen muss.
Mit einem wissenden Schmunzeln, das das Mädchen irritiert, setzt sich ihr Vater zu ihr. „Weißt du, Zionka, manchmal stehen uns unsere eigenen Gefühle im Weg."
Ohne ganz zu erkennen, wovon er spricht, lässt sie ihr Kinn auf ihr Knie sinken und sieht trotzig zu dem Mann hoch. „Dann will ich eben keine mehr haben."
„Na, na." Amüsiert schüttelt Leopold Herz den Kopf. „Jeder hat sie, das kann man nicht ändern. Wichtig ist, sie zu verstehen. Nur dann bist du nicht mehr das blinde Opfer ihrer Irrungen."
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