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Sturmbannführer Brandur Andersen hatte sich an diesem Tag noch kein einziges Mal an seinen Schreibtisch gesetzt. Gerade eben erst hatte er den Verhörraum verlassen, Befehle an die Beamten im Sonderkommando Roter Turm erteilt, das Verhörprotokoll der Stenotypistin zur Abschrift vorgelegt, dem mittlerweile erschienen Schacht eine Standpauke gehalten und das Büro betreten, da stand er bereits vor dem Fenster, blickte auf den Kai hinaus und ließ das Gespräch in seinen Gedanken Revue passieren. In diesen Momenten war er froh über die Lage des Raumes.
Um diese Zeit begann nämlich zunehmend die übliche Betriebsamkeit am Morzinplatz zu herrschen: Inhaftierte wurden über den alten Dienstboteneingang zum Verhör hierhergebracht oder wieder abgeführt. Beamte gingen ein und aus. Aufrechte Bürger, die bei der Gestapo etwas melden wollten. Aber auch Angehörige derer, die in ihrem Gewahrsam waren. Sie ließen es sich nicht nehmen, nach ihrem Wohlbefinden zu fragen und regelmäßig Essen und saubere Kleidung zu bringen, die keinen der Adressaten jemals erreichten. Manche beobachteten das Gebäude nur. Nicht allzu lange. Doch hier und da, blieb einer stehen, sah die Fassade für einige Augenblicke hinauf und dachte an den Liebsten, Freund oder das Kind hinter den Mauern. Aber sie wussten, dass Bittgesuche und Geschenke keinen Zweck hatten, fürchteten vielleicht sogar, selbst verhaftet zu werden. Also senkten sie hastig den Blick und liefen weiter.
Es wäre Brandur zu schwer gefallen, nicht in ihre von hier oben zu kleinen Gesichter zu sehen und zu analysieren, weswegen sie hier waren.
Ob es wohl jemanden gab, der mit dem Gedanken an Ziona Aschkenasy das alte Metropol ansah? Einer vom roten Turm? Ihr Mann jedenfalls nicht.
Zwar bestanden gewisse Unklarheiten über die Umstände Isaak Aschkenasys Todes – unsaubere Arbeit –, aber das war bei solchen Fällen nichts weiter Ungewöhnliches. Wenn man als Jude mit falschen Papieren die Grenze überqueren und schließlich flüchten wollte, wurde nicht viel gefragt, sondern geschossen. Mit Details befasste man sich nur rudimentär. Und so blieb der knappe Bericht, dass er in einem Zug nahe der schweizerischen Grenze mit gefälschtem Ausweis erkannt worden war und sich der Verhaftung durch einen Sprung aus dem Fenster gefolgt von Schüssen entzogen hatte. Einer der letzteren oder ein Genickbruch, so genau fragte niemand, durfte dann auch sein Ende gewesen sein.
Vielleicht ein Motiv?
Zwischen seinen drei Fingern drehte er die Schachfigur, während die andere Hand eine Zigarette an seine Lippen führte.
„Und? Was schreibt die Zeitung?", fragte er unvermittelt, ohne sich umzudrehen. Wie erwartet erhielt er seine Antwort von dem überraschten Jennings ein wenig verzögert.
„Vorstoß tief in das nördliche Stalingrad. Fünfundzwanzig Briten über Malta abgeschossen", begann er die Schlagzeilen zu zitieren, immer wieder unterbrochen vom Rascheln der Seiten des Völkischen Beobachters. „...Und wir haben gegen die Schweiz verloren."
„Wie?", fragte Brandur verwirrt.
„2:1. Schon wieder. Wirklich eine Schande."
„Ach ... Fußball. Ich wusste nicht, dass Sie sich dafür interessieren." Er würde es sich merken.
„Wer tut das nicht?", fragte der junge Oberscharführer ein wenig amüsiert.
Andersen ließ sein Schweigen antworten.
„Wir sollten noch einmal in die Wohnung."
Obwohl er die Reaktion nicht sah, konnte der Kriminalrat doch erahnen, wie Jennings hinter ihm erstaunt aufblickte.
„Weshalb? Denken Sie, es wurde etwas übersehen. Glauben Sie mir, Herr Sturmbannführer, wir machen keine solchen Feh –"
„Ich zweifle nicht daran, dass Sie sauber gearbeitet haben", – Brandur wandte sich zu Beppo um
Mit immer noch aufgeschlagener Zeitung stand der Kriminalassistent an den Schreibtisch gelehnt. Für einen Moment schlug er seinen Blick auf die Hände nieder. Die Geste schien beinahe Beschämung auszudrücken, doch die blauen Augen unter den langen Wimpern waren nicht betrübt, sondern nachdenklich. Für einen anderen hätte der Ernsthaftigkeit in dem Knabengesicht etwas Komisches angehaftet. Wie ein Kind, das angestrengt nachdachte.
„Sie denken also, Herr Sturmbannführer, dass das Verhör uns zu neuen Entdeckungen führen könnte. Eine neue Perspektive ... Die Nachbarin mit dem angeblich kranken Kind? Die Medizin... Oder hat Sie Ihnen etwas anderes verraten?"
Brandur drückte seine Zigarette in den leeren Aschenbecher.
„Bestanden."
Beppos Kopf schnellte hoch. „Bitte?"
„Lektion Nummer zwei. Sie lernen schnell. Neues Wissen verschafft immer eine neue Sicht auf Untersuchungen." Sein Blick zuckte zu seiner Uhr. „Ich hoffe, Sie hatten für heute Mittag noch keine Pläne."
„Nein, natürlich nicht, Herr Sturmbannführer." Raschelnd faltete er die heutige Zeitung und legte sie ordentlich beiseite. An seinem Gesichtsausdruck – nicht mehr als einem Blinzeln, einer Regung eines Kiefermuskels und schließlich der Konzentration auf das akkurate Falten des völkischen Beobachters – erkannte Brandur, dass es doch der Fall gewesen war.
„Das Rendezvous werden Sie verschieben müssen", antwortete der Gestapo-Beamte auf Jennings Mimik, seine Worte ignorierend.
Zwar bemühte sich der Jüngere, seine Gedanken nicht sein Gesicht erreichen zu lassen, doch die Rötung seiner Ohren verriet ihn. „Woher wissen Sie...?"
„Bitte, jetzt beleidigen Sie mich aber, Jennings. Dass Ihnen meine Anordnung nicht gefällt ist nicht zu übersehen. Und auf Ihrem Schreibtisch steht ein Bild Ihrer Angebeteten." Näher führte Andersen gar nicht aus, denn seiner Ansicht nach, gab es nichts mehr zu erklären. Die Lösung lag auf der Hand – und selbst, wenn wie immer weitere Optionen blieben, die zu erschließen Brandur Informationen fehlten, so verriet ihm spätestens Beppos Reaktion, dass er diese auch gar nicht kennen musste. Manchmal war die schnellste Methode eine Antwort zu bekommen, die simpelste: Zu fragen. So direkt, dass es dem anderen gänzlich unmöglich war, nicht zu antworten.
Beppos Anspannung, die das Gefühl ertappt worden zu sein hinterlassen hatte, löste sich in einem begeisterten Lachen, während er sich, die Arme verschränkt, halb auf den Schreibtisch sinken ließ. „Ihre Beobachtungsgabe ist wirklich erstaunlich, Herr Sturmbannführer."
Es war ein Glückstreffer gewesen, wie Brandur wusste. Aber Jennings tat es nicht.
Und so sollte es bleiben.
„Das Fräulein wird es Ihnen schon nicht übelnehmen. Wenn doch, ersparen Sie sich die Scherereien lieber gleich. Kein noch so hübsches Gesicht ist es das wert."
Nichts konnte ein Gestapo-Beamter weniger brauchen, als eine zeternde Frau, die ihn nach einem langen Arbeitstag mit Vorwürfen begrüßte. Bedauerlicherweise hatten alle eine gewisse Tendenz dazu; selbst Helva konnte seine Nerven hin und wieder strapazieren. Die Kunst bestand darin, eine von jenen zu finden, bei denen sich diese Angewohnheit in erträglichen Grenzen hielt, wie Brandur fand.
„Nein, so eine ist Frieda nicht."
Ein kleines Funkeln schlich sich in seine Augen, das Andersen sofort verriet, dass es den Jungen schwer erwischt zu haben schien.
„Nun –"
Das schrillende Klingeln des Telefons unterbrach den Sturmbannführer.
Wenig erfreut über diesen Umstand, griff er nach dem Hörer und hoffte, dass es guten Nachrichten verschuldet war.
„Andersen", meldete er sich kühl.
Es waren keine guten Nachrichten. Auch keine schlechten. Es waren überhaupt keine.
Scheinbar in Papiere vertieft lauschte Jennings dem Telefonat, nur einmal über den Akt hinwegblinzelnd.
„Natürlich. – Hm. – Wann?" Ein Blick auf die Uhr. „In zwei Stunden. – Einverstanden."
Damit war das Gespräch beendet.
„Ihre Frau, Herr Sturmbannführer?", fragte Jennings, weiterhin wie in die Akte vertieft und ohne auch nur den Blick zu heben.
Andersen ließ sich weder zu einer Frage, noch zu einer verwunderten Reaktion hinreißen.
„Sie und Ihre Frieda haben Glück. Ich bin heute Mittag verhindert." Es war keine direkte Antwort und doch sah der Kriminalassistent sie als eine Bestätigung.
Als Kriminalrat Brandur Andersen zwei Stunden später den Mantel überwarf, um das Gestapo-Hauptquartier zu verlassen, verweilte sein Blick einen Moment auf Jennings, der es ihm mit einem kleinen Lächeln gleichtat.
Ja, man tat gut daran, ihn nie zu unterschätzen. Aus ihm konnte noch viel werden.
Wenige Minuten darauf trat er bereits aus der Tür und in den Säulengang. Er bemerkte die junge Frau sofort. Nicht nur wegen der Ähnlichkeit zu dem Bild, sondern auch an der Art, wie sie vor dem Gebäude wartete: offensichtlich sorgsam zurecht gemacht, ein verstohlenes Lächeln auf den Lippen und Vorfreude in ihrem Blick. So näherte sich niemand dem Metropol, der nicht einen Liebsten hinter dem Schreibtisch, statt hinter Gittern hatte.
Brandur musste zugeben, dass sie ein hübsches Ding war.
Glänzende haselnussbraune Locken, ebenso wie Jennings fast noch kindliche Züge, die das sonstige Auftreten kontrastierten und zu ihr im Übrigen viel besser passten als zu dem Gestapo-Beamten, und strahlende grün-braune Augen. Verständlich, dass sie Jennings den Kopf verdreht hatte. Nur hoffentlich nicht zu sehr.
Höflich tippte er sich im Vorübergehen an den Hut.
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Wie die meisten Männer war Brandur Andersen völlig davon überzeugt, seine Frau gewählt zu haben, und hätte diesen Umstand nie in Frage gestellt. Helva Andersen, geborene Schwarzwald, ließ ihm die Illusion. Heimlich wissend, dass sie diese Entscheidung an einem verregneten Tag wie heute in einem Berliner Café selbst getroffen hatte.
Damals, erst zarte achtzehn Jahre alt, war sie mit ihren Freundinnen kichernd zusammengesessen und hatte leise über die anwesenden Männer getuschelt. Während die anderen gut gekleideten Gentlemen schöne Augen machten und gespielt schüchtern ihre Blicke erwiderten, interessierte sich Helva nicht dafür.
„He, was sagst du zu dem, Heli? Ich glaube, der schaut immer wieder zu dir rüber", murmelte Rosa zwinkernd. Doch ihre Freundin beachtete den Herren kaum und strafte sein freundliches Lächeln mit kühlem Desinteresse.
„Also mir jefällt er", fügte Lina grinsend hinzu.
Helva hörte nur mit halbem Ohr ihren Albernheiten zu, bis sie den Mann zwei Tische weiter bemerkte. An ihm war nichts besonders. Er sah nicht außerordentlich gut aus wie Linas Verehrer, noch außerordentlich wohlhabend wie Rosas, noch außerordentlich nett wie ihr eigener. Nach diesen Gesichtspunkten bewertet hätte ihn Helva als passabel, gewöhnlich und – in Bezug auf letzteren – gar nicht eingeordnet.
In seinem Auftreten lag eine geradezu irritierende Präzession. Der graue Anzug saß bis ins kleinste Detail, als hätte er, bevor er seine jetzige Position einnahm, noch einmal alles akkurat zurechtgerückt. Das dunkle Haar spaltete sich in einer perfekten Linie zu einem Scheitel. Man hätte ihn nicht als unattraktiv bezeichnen können, denn an ihm war nichts unpleasant anzusehen. Doch obwohl er so alt gar nicht sein konnte, Helva schätzte ihn auf Mitte dreißig, zog sich ein Ernst durch seine Gesichtszüge, der ein paar Jahre dazu addierte.
Hinter den Blättern einer Zeitung, die ihn manchmal bis zur geraden, etwas flachen Nase verdeckte, erkannte sie hin und wieder den Mund, dessen Winkel in einem dauernden Ausdruck des Missfallens sachte nach unten fielen. Die Lippen lagen entspannt aufeinander, zeigten, wie auch alles andere, keine einzige Regung darüber, was er las. Nur um die Zigarette dazwischen pressten sie sich manchmal zusammen, um wenig später den Rauch daran vorbei in einem gezielten Stoß entweichen zu lassen, oder manövrierten sie in eine neue Position.
Im Gegensatz zu den anderen schaute er auch nicht zu ihnen hinüber, hob den Kopf eigentlich überhaupt nie von der Zeitung, in die er vertieft war. Er ignorierte beharrlich die Welt um sich herum.
Irgendetwas daran gefiel ihr.
„Sei doch nicht so eine Spielverderberin!" Rosa sah sie über den Rand ihres Glases hinweg vorwurfsvoll an.
„Gut, mir gefällt ... der", antwortete Helva leichthin und nickte in die Richtung des Fremden.
„Wirklich? Der Nieselpriem? Hässlich is er ja nicht... Aber kiekt ooch noch so finster." Linas dünngezupfte Augenbrauen zogen sich kritisch zusammen und sie rümpfte ihre Nase.
„Besser als so ein baratineur mit falschem Grinsen", gab Helva schroff zurück, „Ihr werdet schon sehen. Wer weiß, vielleicht heirate ich ihn sogar."
Und noch bevor das Lachen ihrer Freundinnen deren Lippen erreicht hatte, war sie bereits aufgestanden und schritt auf den Tisch zu.
„Wat für ne Laus is' der denn heute über die Leber jelaufen?", raunte Lina Rosa zu, „Und wat soll det überhaupt heißen? Bara ... Bara ..."
„Keine Ahnung. Sie drückt sich so gewählt aus, seit sie studieren will. Ich versteh nur noch die Hälfte von dem, was sie sagt."
„Tja, Hochmut kommt vor dem Fall", erwiderte Lina kühl, rümpfte die Nase und nippte an ihrem Getränk, um den Worten mehr Gewicht zu verleihen. Ihr Blick war der eines jungen Menschen, der von sich dachte, etwas besonders Kluges gesagt zu haben.
Helva hörte bei alledem nicht hin. Ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Ziel und mit frecher Selbstverständlichkeit ließ sie sich auf den Stuhl dem Mann gegenüber fallen, wovon sie auch ohne darauf zu achten wusste, dass ihre Freundinnen es gleichermaßen verblüfft und bewundernd verfolgten. Erst dann fragte sie, ob der Platz noch frei war.
In den kühlen graubraunen Augen, die sie einen Augenblick später taxierten, erkannte sie einen Hauch Verwunderung ... und sonst enttäuschendes nichts.
„Natürlich. Jetzt müsste ich Sie wohl bitten, sich zu setzen, aber Sie sind mir zuvorgekommen, Fräulein..." Die Zigarette wippte beim Sprechen im Takt seiner Worte zwischen seinen Lippen. Was er sagte, war nicht unfreundlich, auch sein Tonfall war es nicht. Aber er war ebenso wenig charmant.
Sie lächelte ihr schönstes Lächeln.
„Helva."
Brandur Andersen blieb höflich, doch mit einer derartigen Distanziertheit in seiner Stimme und seinem fast unangenehm prüfenden Blick, dass Helva sich vor den Kopf gestoßen fühlte. Sie war es gewöhnt, dass man ihre Schönheit mit Bewunderung würdigte und ihrem Charme in kürzester Zeit verfiel. An diesem Mann prallte beides in einem solchen Maße ab, dass sich für einen Augenblick sogar eisige Verunsicherung in ihren Magen fraß. Bis ein anderes Gefühl sie ersetzte – Entschlossenheit.
Letztendlich wusste sie in jenem Moment, dass sie andernfalls früher oder später das Interesse verloren hätte, so wie davor auch immer. Es war eben genau die Tatsache, dass Andersen sie mit seiner Blasiertheit strafte, die in ihr eisernen Willen weckte.
Diesen Kampf wollte sie gewinnen.
Am Ende des Tages stand ihr Entschluss fest: Irgendwann würde sie ihn heiraten und keinen anderen.
Helva behauptete gerne, es wäre ihre berühmte Intuition gewesen. Andere hätten es Zufall oder Glück genannt.
Natürlich hielt er sie für seine Eroberung, seinen Erfolg.
Heute, als Helva das Restaurant betrat, dachte sie an damals zurück. Brandur wartete schon auf sie. Überpünktlich wie stets. Ihre Lippen hoben sich zu einem kleinen Lächeln.
Soll er's weiter glauben.
Brandur Andersen erriet die Gedanken seiner Frau nicht, die strahlend auf ihn zukam. Wie immer musste er sich eingestehen, dass sie tadellos aussah. Ihr dunkles Haar fiel in wohlgeformten Locken unter dem Hütchen auf ihre schmalen Schultern und den Fuchspelz, der die linke zierte, ihre Schminke saß perfekt und das zweifellos nicht günstige Kostüm tat es ebenso. Es gab nichts an ihrer Erscheinung auszusetzen, außer dass der Hauch von Extravaganz, der Wunsch gesehen zu werden, Brandurs wesentlich schlichterem Geschmack nicht entsprach.
Natürlich hatten sie sich auch ausgerechnet im Kahlenbergrestaurant treffen müssen, wohin ihn der Weg schon deutlich zu viel Zeit gekostet hatte. Weshalb Helva so darauf bestanden hatte, obwohl die geräumige Terrasse mit Panoramablick bei diesem Wetter ohnehin wenig reizvoll war, begriff der Gestapo-Beamte nicht. Während sein Blick kurz über die Wandmalereien glitt, konnte er nur daran denken, dass man dasselbe Essen ebenso überall sonst hätte bekommen können. Dann wäre ihm mehr Zeit für die Arbeit geblieben, die ihn wie gestern ins Hotelzimmer auch heute ins Restaurant begleitete.
Die Akte brauchte er nun nicht zu studieren, erinnerte er sich doch an jedes einzelne Wort. In Gedanken las er sie und das Protokoll noch einmal durch, als Helva den Raum betrat und wie er sie sah, kam er nicht umhin den starken Kontrast zwischen ihr und Ziona Aschkenasy wahrzunehmen. Nicht nur, weil Helvas rundes Gesicht die ihr typische Fröhlichkeit ausstrahlte, sondern weil im Angesicht ihrer eleganten Erscheinung Aschkenasy noch müder, blasser und angeschlagener aussah und ihr Körper in dem Helvas schlanker Gestalt mit den geschwungenen Hüften noch abgemagerter.
Sie begrüßten sich wie Eheleute, die sich erst vor wenigen Stunden gesehen hatten und Helva nahm ihm gegenüber Platz.
„Du siehst drein wie sieben Tage Regenwetter", bemerkte sie mit gerunzelter Stirn.
„Es regnet auch."
Helva schüttelte lachend den Kopf. „Du beschäftigst dich zu viel mit der Arbeit. Seit ich hier bin, tust du nichts anderes. Gestern Abend warst du von deinen Akten nicht los zu kriegen und heute Morgen schon weg, bevor ich aufgewacht bin. Wie viele Stunden Schlaf hattest du? Vier?"
„Drei Stunden, dreiunddreißig Minuten", kam die exakte Antwort wie aus der Pistole geschossen und Brandurs Lippen verzogen sich für einen Augenblick, als hätte er mit diesen Worten etwas Verdorbenes in den Mund genommen. Er wusste, dass seine Frau seine Präzision als schrullige Marotte abtat und mit ihm so manches Mal ihre Späße darüber trieb. So wie sie das bei jedem tat. Diese spielerischen Kämpfe gehörten so fest zu ihrem Charakter, dass sie ohne sie gar nicht Helva gewesen wäre.
Eigentlich gefiel ihm ihr aufgeweckter Verstand. Hin und wieder, an einem guten Tag, konnte es vorkommen, dass er sogar Freude an einer Diskussion über seine Gewohnheiten empfand, die allerdings immer gleich ausgingen. Sie blieb der Überzeugung, dass sie ihren Nutzen haben mochten, fand sie aber weiterhin amüsant und er bei der seinen, dass es nichts Wertvolleres gab als diese Ordnung im Leben.
Heute war kein solcher.
Aber statt eine dieser Diskussionen zu beginnen, antwortete Helva mit einem schlichten „So?", bei dem dennoch ein spöttisches Funkeln in ihren grünen Augen aufblitzte.
Ihnen wurden die Speisekarten gereicht.
„Weißt du, an Wien könnte ich mich gewöhnen. Es gefällt mir hier... Wenn das Wetter nicht so garstig wäre."
Gewöhne dich besser nicht daran, schoss es Brandur durch den Kopf. Nicht, dass er Helva die Freude nicht gönnte oder sie grundsätzlich nicht in seiner Nähe wollte. Doch es war mit ihr wie mit allen außerordentlichen, schönen, erfrischenden Genüssen: Zu viel davon vergällte das Vergnügen daran und ließ einen nur mit dem schalen Gefühl des Überdrusses zurück.
Fehlten Helva die Anregungen und eine Aufgabe, die sie brauchte, wie die Luft zum Atmen, lenkte sie ihn von seiner ab, indem er ihren Launen ausgesetzt war. Während sie in den eigenen vier Wänden ein funktionierendes Gespann waren, traf das in dieser Konstellation sicherlich nicht zu. Für sie war das hier Urlaub, für Brandur Arbeit und das vertrug sich für gewöhnlich nicht gut.
„Du hast deinen Tag bisher also angenehm verbracht?"
„Ja, ich hab Rosa getroffen. Du weißt doch, sie wohnt seit drei Jahren hier."
Wäre sein Gedächtnis nur ein bisschen mehr dazu geneigt, Unwichtiges zu vergessen, so hätte sich Andersen an diese Frau nicht erinnert.
Helva lächelte, als wüsste sie das ganz genau. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Karte, die sie innerhalb kürzester Zeit studiert hatte, um sie wie kapitulierend wieder auf den Tisch fallen zu lassen.
„Das letzte Mal, das ich so wenig von dem verstanden habe, was ich lese, war in der Schule in Chemie." Sie lachte ihr helles, angenehmes Helvalachen, das die leichte Spannung in der Luft augenblicklich vertrieb.
Brandur lächelte. „Lass nur. Ich bestelle."
Während er das tat, glaubte er, dass etwas von Helvas guter Laune bereits auf ihn abfärbte. Er verweigerte sich diesem Gefühl nicht.
„Wie geht es den Mädchen?", fragte er, als der Kellner sie wieder verlassen hatte.
Helva schob nachdenklich ihre Armbanduhr an ihrem schmalen Handgelenk hin und her.
„Brita ist immer noch so furchtbar stürmisch. Vielleicht legt sich das mit der Einschulung nächstes Jahr. Erika ist ein braves Mädchen wie immer. Sie schreibt und malt viel. Nur hat sie jetzt die fixe Idee, blond sein zu wollen."
Bei vier ihrer Töchter hatten die Gene den Eltern einen Streich gespielt. Wie Brandurs Familie mütterlicherseits waren sie helläugig und blond, auch wenn er vermutete, dass das Haar mit dem Alter noch dunkler werden würde. Lediglich Erika kam ganz nach ihrer Mutter.
Natürlich hatte er längst begriffen, woher diese Anwandlungen kamen. Sie sah die hellen Zöpfe der Mädchen auf den Plakaten, hörte vom Ideal der arischen Rasse, dem ihre Schwestern äußerlich alle entsprachen, und war unglücklich, weil sie das nicht tat.
„Astrid ist in der Kükengruppe die beste. Sie will ihr Halstuch gar nicht mehr ausziehen und träumt immer noch davon, Pilotin zu werden."
Seine Frau schüttelte schmunzelnd den Kopf, ehe ihr Blick wieder etwas sorgenvoller wurde.
„Aber ihre Schulnoten sind nicht gut. Ulrikes sind hervorragend, aber dafür tut sie sich beim Sport bei den Jungmädeln schwer."
Es war immer wieder verblüffend, wie unterschiedlich die fünf waren. Die eine besaß zu viel, woran es der anderen fehlte und so ergab sich eine Truppe, bei der man rein charakterlich meinte, sie könnten unmöglich Schwestern sein.
„Und Freja...nun, du kennst sie. Sie ist überall die Beste. Seit Monaten fiebert sie nur noch ihrem Übertritt zum BDM entgegen. Sie sagt es zwar nicht, aber sie wünscht sich, dass du dann zu Hause wärst. Sie vermisst dich."
Etwas eindringlicher fügte Helva hinzu: „Alle vermissen dich."
Brandur wusste, dass das sie mit einschloss.
Obwohl sein früherer Alltag Monate zurücklag, konnte er sich noch bildlich an die Abende erinnern, wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kam. Astrid begrüßte ihn strahlend mit einem Kuss auf die Wange. In den meisten Fällen sah man ihr an ihrem zerzausten Haar und ihrer Kleidung an, dass sie von einer ihrer vielen sportlichen Aktivitäten kam oder harmlosen Unfug mit ihren Freundinnen von den Jungmädeln getrieben hatte. Ulrike saß über einem Buch oder den Hausarbeiten und murmelte ein wenig interessiertes „Abend, Vater" ohne auch nur den Blick zu heben. Erika setzte schüchtern mit einer Erzählung von ihrem Tag an, der er halbherzig lauschte, und präsentierte ihm hin und wieder Zeichnungen oder ihre neuste Note.
Sobald sie sich seiner Anwesenheit bewusst war, hopste die kleine Brita ungelenk auf ihn zu und bestürmte ihn geradezu mit Geplapper, was Erika zum enttäuschten Schweigen zwang. Sie glaubte, er würde ihre Geschwister ihr vorziehen und ahnte nicht, dass ihr dunkles Haar ihn nicht kümmerte, ihm sogar wegen der Ähnlichkeit zu Helva besonders lieb war.
„Die Hausaufgaben weg vom Esstisch, Ulrike, und begrüß Papa anständig. Asta, wie siehst du denn aus? Zieh dich vor dem Essen um", mit diesen und vergleichbaren Anordnungen kam ihm Freja entgegen, Brita verscheuchend, weil sie – für ihr Alter besonders umsichtig – wusste, dass er nach der Arbeit müde war und Ruhe wollte. Über die letzten Jahre hatte sie mehr und mehr die Rolle einer Assistentin für ihre Mutter eingenommen, die anderen in Schach zu halten. Freja machte sich gut darin, was Brandur verriet, dass sie selbst einmal eine hervorragende Ehefrau werden würde.
Auch, wenn ihre Begrüßung nach außen hin am nüchternsten wirkte, fühlte sich der Sturmbannführer durch sie doch am meisten willkommen geheißen.
Und schließlich hauchte ihm Helva, die ihren Kindern den Vortritt gelassen hatte, noch die Kochschürze umgebunden, einen Kuss auf die Wange.
Bei der bildlichen Erinnerung regte sich etwas in Andersen, das andere möglicherweise Heimweh genannt hätten. Er hingegen bezeichnete es nüchtern als „Ablenkung" oder „Gefühlsduselei". Natürlich – ganz rational betrachtet – fehlte ihm der frühere Alltag, der Rhythmus, auf den er sein Leben eingependelt hatte. Irgendwann wurde man des Aufenthalts in einer fremden Stadt, im Hotelzimmer nun einmal überdrüssig. Das war nur nachvollziehbar.
Dass es ihm nicht bloß um dieses rein logische Verlangen ging, sondern sich in ihm irgendwo der Wunsch zu regen begann, abends während er in Dokumente oder ein Buch vertieft war, seine Hand auf Frejas kleinen Kopf zu betten, erinnerte Brandur daran, dass auch er sie und sein Leben in Berlin vermisste.
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