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𝐈

Das Rasiermesser, ein kleines Flugblatt und die Kennkarte mit dem darauf prangenden roten J wogen in Ziona Aschkenasys Manteltasche schwer wie Zement. Sie waren das einzige, das ihr an diesem Abend zum Verhängnis werden konnte, denn die Ärztin hatte sich in jeder Hinsicht in eine Unsichtbare verwandelt.

Mit dem schlichten veilchenblauen Kleid, Hut und ihrem schönsten Überzieher schien sie in jeder Menge zu verschwinden. Am wichtigsten war allerdings die Stelle an ihrer Brust – leer. Kein gelber Stern. Mehr bedurfte es nicht, um sich ohne weiter Aufmerksamkeit zu erregen durch die abendlichen Straßen Wiens zu bewegen.

Unbehelligt betrat sie das Paradies. Keiner der Anwesenden hätte in der jungen Frau, die selbstbewussten Schrittes die Bar durchquerte, eine Jüdin vermutet. Nachdem ihre prüfenden Blicke Ziona verrieten, dass niemand hier war, der sie kannte und diesen entscheidenden Umstand damit ändern konnte, setzte sie sich.

Wie fast jeden Abend hatte sich eine Vielzahl von SS-Männern in kleinen Grüppchen in den Räumlichkeiten eingefunden. Sie tranken, lachten, tanzten oder küssten die Frau in ihren Armen, während draußen die Welt für unzählige Menschen unterging.

Früher hatte Ziona das Paradies gemocht. Die schlicht gehaltene Einrichtung aus Mahagoniholz verlieh ihm sofort eine gewisse Gemütlichkeit. Dennoch konnte man erkennen wie beim Bau keine Kosten und Mühen gescheut worden waren. Was dem Mobiliar an Raffinesse fehlte, wogen die Marmorsäulen, die nahtlos in die kassettierte Decke übergingen wieder auf. In den vielen Spiegelflächen reflektierten die Lichter der Lampen und überallhin warfen sie Bilder heiterer Menschen. Wie oft war Ziona auf einer derselben dunkelgrünen Lederbänke gesessen? Damals allerdings mit Freunden, um entspannt einen Abend ausklingen zu lassen. Heute war sie alleine und hier, um einen Mord zu begehen.

Wenige Jahre konnten unglaublich viel ändern. Die gesittete Gesellschaft, die das Lokal einst frequentiert hatte, war durch eine schwindelerregende Anzahl schwarzer und grauer Uniformen ersetzt worden, an denen ihr Hakenkreuze und Totenköpfe bedrohlich entgegenlachten. Viele der Lieder, die vor vier Jahren noch regelmäßig auf der kleinen Bühne gespielt wurden, waren jetzt verboten. Entartet, wie sie sagten. Nun gab eine junge Blondine, die Lilian Harvey nachzueifern schien, einen deutschen Schlager zum Besten. Und den Blick auf die Straße verhinderten schwere Vorhänge, die der Verdunklung geschuldet waren. 
Damit bloß kein Bomber dieser ganzen Bagage mit einem Knall ein Ende bereitet.

Schade um ihr schönes Wien wäre es gewesen, aber bei näherer Betrachtung war daran ohnehin nicht mehr viel schön und ihr Wien erst recht nicht. Die Stadt war vor Jahren schon von einem invasiven Tumor befallen worden, der sich in jeder noch so kleinen Gasse manifestierte. Für eine Resektion war es längst zu spät, denn die Krankheit hatte sich zu weit ausgebreitet. Sie machte alte Freunde zu Feinden und Menschen zu Monster. Die einzige Rettung kam ironischerweise durch die feindlichen Truppen und sie brachte immer Zerstörung mit sich. In Anbetracht dessen, was in ihrer Heimat momentan vorging, wäre es nicht das Schlimmste gewesen.

„Und dann sag ich ‚Ich erkenne doch einen Juden, wenn ich ihn sehe'", beendete ein junger SS-Mann seine Erzählung lautstark und die anderen brachen in Gelächter aus.
Wieso sollte auch ausgerechnet dieser Ort von den Veränderungen verschont geblieben sein? Jede positive Erinnerung an alte Zeiten war sogleich von der bitteren Realität weggespült. Über dies war Ziona nicht hier, um sentimental in solchen zu schwelgen, sondern hatte einen Auftrag zu erfüllen.
Und dessen Name war Carl Gustav Macalek. 

Ziona kannte den Standartenführer mittlerweile gut. Seine Gewohnheiten, seine kleinen Schwächen, während sie ihm nach wie vor eine Fremde war. Aber so musste das auch sein – den Feind kennen, bevor er dich kommen sieht, geschweige denn ahnt, dass er sich in jemandes Fadenkreuz befinden könnte.

„Darfs was zu trinken sein?" Ein älterer Kellner riss sie aus ihren Gedanken.
Mit einem Lächeln schüttelte Ziona den Kopf. „Danke, ich warte noch auf jemanden."
Nur weiß er es noch nicht.
Höflich zog sich der Mann zurück.

Das versetzte junge Fräulein zu spielen, war nicht bloß eine Strategie, die ihr in ihrem Plan mit Macalek zu Gute kommen sollte, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass ihr alleine beim Anblick der hohen Preise ein wenig schwindelig wurde. Andernfalls hätte ihr jetzt ein Glas Cognac oder Gin mehr als gutgetan, denn eine so nahe Begegnung mit dem Feind und dann noch mit belastendem Material in ihren Taschen vermied sie lieber. Der Fall Jochen Berger, der diesem hier ähnelte, hatte ihr gereicht. Am angenehmsten waren ihr die Fälle, in denen sie der Zielperson bloß nachts in eine dunkle Gasse zu folgen brauchte. Alles schon genaustens geplant, ein schneller Schnitt im rechten Moment und weitergehen. En passant

Doch wenn Macalek das Paradies nicht mit ihr verließ, dann mit einer anderen und damit konnte sie ihre Pläne vergessen. Eine bessere Gelegenheit als diese gab es nicht. Aber sie blieb riskant. Vor allem mit dem kompromittierenden Inhalt ihrer Taschen.

Dieses verdammte Flugblatt.
Eigentlich hätte es sich schon längst in einem der toten Briefkästen des Roten Turms befinden sollen und dort darauf warten, dass Springer es abholte, nach seinem Muster unzählige davon druckte und durch weitere Mitglieder verteilen ließ. Aber heute war ihr das Schicksal nicht gewogen.

Carl Gustav Macalek betrat mit ein paar anderen SS-Männern das Paradies, so wie Ziona es erwartet hatte. Ihr Blick glitt auf ihre Uhr. Überraschend pünktlich. Er schien jetzt schon nicht mehr ganz nüchtern, zumindest ließen dies die leichte Röte in seinem Gesicht und das schallende Gelächter vermuten, das einige Gäste zum Aufblicken veranlasste.

Der Standartenführer war ein stämmiger Enddreißiger, der mit jeder seiner Bewegungen bewies, dass er sich für viel attraktiver hielt, als er tatsächlich war. Zwar besaß er durchaus wohlgeformte, fast liebenswürdig anmutende Züge und gab in seiner Uniform kein schlechtes Bild ab, aber es blieb am Ende letztere und die Orden daran, die ihm Aufmerksamkeit verschaffen konnten, wie es seinem bloßen Aussehen und bemühten Charme nie gelungen wäre. 

Früher hat man Verbrecher noch hinter Gitter gesteckt, heute zeichnet man sie aus.
„Eine Runde Obstler zum Aufwärmen", bestellte er polternd bei einem jüngeren Kellner, während er es sich mit den anderen in einer der schönsten Ecken des Lokals bequem machte. Mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn als Stammkunden verriet, ließ er seine Lederhandschuhe auf die Tischplatte fallen und plauderte weiter. „Eine Schweinekälte ist das. Da möchte man glauben, wir säßen hier schon an der Ostfront."

Obwohl sein Wienerisch absolut natürlich klang, meinte Ziona doch einen zarten kärntnerischen Einschlag darin zu hören wie sich seine Stimme melodisch hob und senkte. Vielleicht war er dort aufgewachsen und konnte die Färbung nie ganz ablegen.

Die Ärztin hatte ihren Platz gut gewählt. Sie befand sich exakt in seinem Blickfeld, ohne dabei von vielen anderen gesehen zu werden, obwohl ohnehin fraglich schien, wer sich morgen noch an sie erinnern würde. Einige mussten wie der Standartenführer schon das ein oder andere Glas hinter sich haben. Nur einer, kaum merklich hinkend, schien die Ausgelassenheit der anderen nicht ganz zu teilen.

Die falsche Lilian Harvey stimmte Komm zurück an und entgegen ihrer Erwartung spürte die Jüdin einen kleinen Stich im Herzen. Für den Bruchteil einer Sekunde schweiften ihre Gedanken zu Isaak. 

Sentimentalität hat hier keinen Platz, schalt sie sich selbst. Doch vermutlich verliehen diese Gefühle ihr gerade den rechten Ausdruck. Enttäuschung und ein Hauch von Traurigkeit, gemischt mit Bewunderung, die sich bei der Betrachtung Macaleks in ihre Augen stahl, und schließlich einem kleinen Lächeln. Wie viel so ein paar Blicke auslösen konnten ...
Die des Standartenführers blieben an ihr hängen und taxierten sie interessiert. Nur kurz wandte er sich von Ziona ab und den servierten Getränken zu.

„Sagen's Ihrer Chanteuse, sie soll was Fröhlicheres singen. Da wird einem noch zum Heulen zu Mute", verlangte er vom Kellner und steckte ihm nonchalant ein paar Geldscheine zu ohne die Jüdin dabei aus den Augen zu lassen, „Und das Fräulein da drüben am Tisch fragen's, was sie gerne trinken würde. Geht auf mich."

„Wie Sie wünschen, Herr Standartenführer." Der Mann deutete eine kleine Verbeugung vor seinem Stammkunden an und entfernte sich wieder. Als ihre Gläser über den Köpfen klirrend zusammentrafen, erklang bereits ein heiterer Schlager, was Macalek ein zufriedenes Lächeln entlockte. 

„Auf den Endsieg!" Der Toast fand sein begeistertes Echo bei den Männern, die ihn umkreisten.
Auf euren Untergang.

Indessen kehrte der Kellner bereits zu Ziona zurück und fragte sie nach ihrer Bestellung.
„Der Standartenführer dort drüben lässt Sie einladen", fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.
Als hätte dieser trotz des Lärms gehört, was sie sprachen, hob er ihr zuprostend sein Glas und der unverwandte Blick, der nach wie vor auf ihr ruhte, jagte ihr einen kühlen Schauer über den Rücken.

„Na, wenn das so ist ..." Ziona tat als würde sie noch mit sich ringen. „Ein Achtel Weißwein, bitte."
„Kommt sofort."
Viel mehr durfte sie nicht trinken, wenn sie bei klarem Verstand bleiben wollte. Auf praktisch leeren Magen konnte selbst diese Menge schon gefährliche Wirkung entfalten, zumal sie Alkohol überhaupt nicht mehr gewöhnt war. Sie lebte vom Nötigsten und das teilte sie noch mit ihren Nachbarn. Der kränkliche alte Herr Löwenstein und Hedwig mit ihrer kleinen Tochter litten schließlich mehr unter dem Mangel als sie selbst.

Als der Veltliner vor ihr abgestellt wurde, schenkte Ziona Macalek ein Lächeln und hob das Glas vorsichtig an ihre Lippen. Es war nur ein winziger Schluck, den sie sich erlaubte. Zum einen, weil sie sich nicht einmal den Ansatz von Weinseligkeit leisten konnte, und zum anderen, weil sie nicht wusste, wann sie in die Freuden eines solchen Luxus' wieder kommen würde. Vielleicht war heute das letzte Mal. Schließlich konnte jederzeit die Gestapo an ihre Türe klopfen ... 

Durch die Hand, die das Weinglas umfasste, breitete sich ein schwaches Zittern aus, für das sich die Jüdin im Stillen verfluchte. Es war ein Gebrechen, das ihr angeblich durch ihre Mutter vererbt worden war, auch wenn es ihr an dieser nie aufgefallen wäre. Besonders als Kind hatte sie damit zu kämpfen gehabt. Mit jedem Funken Nervosität kam das Beben. 

Einmal war sie bei einer Schularbeit sogar so aufgeregt gewesen, dass sie kaum fähig war, ihre Füllfeder zu halten und der Lehrer sie beinahe als ungenügend benotet hätte, weil er kein Wort lesen konnte. Als sie älter wurde, verschwand der Tremor fast vollständig. Doch Anspannung und Schlaflosigkeit, die sie seit Monaten verfolgten, und die Barbiturate, mit denen sie letzte zu bekämpfen suchte, hatten ihn wieder zum Vorschein gebracht.

Hastig stellte sie das Gefäß ab und verschränkte ihre Finger unter dem Tisch.
Der Standartenführer klopfte dem missgelaunten Mann auf die Schulter, entschuldigte sich nun anscheinend bei seinen Kameraden – diesmal war es so laut im Raum, dass Ziona ihn nicht hören konnte – und kam auf ihren Tisch zu. Sobald er ihn erreicht hatte, setzte er ein charmantes Lächeln auf.

„Wie kommt es, dass ein so hübsches Fräulein hier alleine sitzt?"
Innerlich rollte Ziona mit den Augen. Vermutlich sprach er so jede dritte seiner Eroberungen aus dem Paradies oder einer anderen Bar Wiens an. Originell war er nicht.

Statt ihn das merken zu lassen, schlug sie wie betroffen den Blick nieder.
„Ich war eigentlich verabredet", gestand sie leise.
„Und dieser Kerl besitzt die Dummheit so eine Augenweide zu versetzen? Das ist ja praktisch ein Verbrechen." Der Standartenführer schüttelte den Kopf. „Ich darf mich doch setzen?"
Auf ihr Nicken hin, ließ er sich neben ihr auf das smaragdgrüne Polster fallen.
„Er ist auch bei der SS, wie Sie. Ein Rottenführer ..."

„Na sowas, auch noch einer von uns." Macalek holte ein Etui mit einem opulenten Emblem aus seinem Uniformjackett hervor und bot es ihr an, ehe er sich nach ihrer höflichen Ablehnung selbst eine der Zigaretten nahm. Mit einem mindestens ebenso protzigen goldenen Feuerzeug zündete er die Nil an und ließ kleine Rauchkringel zur Marmordecke steigen. Den Nikotinflecken an seinen Fingern zu urteilen etwas, das er ziemlich häufig tat.

„Wie heißt dieser Idiot denn? Mit dem sollte ich mal ein ernstes Wörtchen reden, Fräulein ..."
„Hafner. Aber nennen Sie mich einfach Edith." Tut mir leid, Didi. Wenn ihre alte Freundin gewusst hätte, wofür ihr Name gerade missbraucht wurde, hätte sie Ziona vermutlich einen ihrer berühmten tadelnden Blicke zugeworfen. Mehr bestimmt nicht, weil diese Situation sogar einer Edith Hafner die Sprache verschlagen hätte. Aber schließlich musste sie nie davon erfahren. Was auch immer heute geschah, könnte auch nie auf sie zurückfallen, war ihre Familie doch bereits vor Jahren in die Schweiz ausgewandert.

Ziona schüttelte den Kopf. „Aber seinen Namen kann ich Ihnen wirklich nicht verraten. Nicht, dass er wegen mir noch Ärger bekommt."
„Den Zores hätte er sich ja wohl selbst eingebrockt."
„Wahrscheinlich hat ihn gestört, dass ich nicht blond bin. Ich sehe nicht arisch genug für einen von der SS aus."

„Papperlapapp, eine junge Dame kann man nicht so behandeln. Schon gar nicht ein so reizendes." Macalek beugte sich mit einem verschwörerischen Schmunzeln zu ihr. „Jetzt hören Sie mir mal zu, Fräulein Edith. Wenn Sie einer wegen sowas nicht will, ist er ein Trottel. Arisches Ideal – ja, schön und gut. Aber überall nur das gleiche ist doch reichlich fad. Ist die Leander blond? Nein, trotzdem liegt ihr das halbe Reich zu Füßen. Na und dann sehen Sie sich erst mal unseren Führer oder mich an. Ich finde Ihre dunklen Locken ganz entzückend."

Eine zarte Röte breitete sich über ihre Wangen aus. Trotz des sorgfältig aufgetragenen Rouges hatte sie bisher immer noch etwas blass gewirkt. „Aber Herr Standartenführer, Sie schmeicheln mir ..."

Wäre sie tatsächlich die Person gewesen, die sie vorgab zu sein, hätte sein Charme vielleicht seine Wirkung gezeigt. So ließen sie seine Komplimente kalt.
„Ach, lassen's doch diese Förmlichkeit. Ich heiße Carl." Wie schon zuvor, eine Angewohnheit von ihm, legte er den Kopf beim Sprechen ein wenig schräg. „Und grämen Sie sich nicht länger, Fräulein Edith."

Ziona strahlte breit und zwinkerte ihm zu. „Schon vergessen."
Frech griff sie nach seiner Zigarette und schob sie sich zwischen die Lippen. Dem amüsierten Glitzern in seinen blauen Augen nach zu urteilen, schien ihm ihr neu gewonnener Mut zuzusagen. 

„Na alsdann. Das Lächeln steht Ihnen auch viel besser."
Seine Kameraden hatte er bereits vergessen, denn er bedeutete dem Kellner, ihm nun „seine Flasche" an ihren Tisch zu bringen – irgendein unfassbar teurer Edelbrand. In einer zackigen Bewegung ließ Macalek den Totenkopf seines SS-Rings darüber gleiten und ritzte damit auf etwa halber Höhe eine kleine Linie in das Glas.
„Bis hierher und nicht weiter."
Ziona machte es sich zum Ziel, ihn dieses Versprechen an sich selbst brechen zu lassen.

„Nun erzählen Sie, wofür sind all diese Orden? Sie müssen ja ein richtiger Kriegsheld sein", meinte sie mit leuchtenden Augen und berührte einen davon wie andächtig mit den Fingerspitzen. Dass ihr das aufgefallen war, schien ihn umso zufriedener zu stimmen und er erzählte ganz offensichtlich mit Freuden die Geschichten, mit denen er wohl schon viele hatte beeindrucken wollen, ob sie nun stimmten oder nicht. 

Im Grunde hätte es Ziona nicht weniger interessieren können. Carl Gustav Macaleks Bedeutung existierte wie die lebenzerstörenden Befehle, die er erteilte, nur auf dem Papier. Von seinem Schreibtisch aus bestimmte er über Leben und Tod, legte mit ein paar schlichten Worten eine Gnadenfrist fest oder führte unsichtbar die Guillotine. Der Teufel war eben doch nur ein Bürokrat.

Letztendlich war sein Leben dem Roten Turm nur so viel wert wie seine Unterschrift – und somit auch ihr selbst. Für sie persönlich besaß er kein weiteres Gewicht. Ja, bei den ersten Malen, das musste sie sich eingestehen, hatte sie sich jedes Mal gefragt, ob sie gerade dem Mann das Rasiermesser an die Kehle hielt, der bequem aus dem Büro die Namen ihrer Eltern auf die Liste der zu Deportierenden gesetzt hatte, oder der, der im November 1938 Isaak verprügelt hatte oder ... Die Liste war lang. Doch schließlich hatte sie sich gefragt, was es denn ändern würde.

Brächte deren Tod ihr mehr Befriedigung? Nein. Unterschieden sie sich dadurch von den anderen? Nein. Jeder von ihnen stand in irgendjemandes Schuldnerregister. Wenn Emotionen in dieser Beziehung etwas mit sich brachten, dann Gefahr. Blinde Rachegelüste korrumpierten; schmerzliche Erinnerungen betäubten Geschick und Wachsamkeit. Gefühle waren im Krieg noch nie ein guter Ratgeber gewesen. 

„Ich verspreche Ihnen, Fräulein Edith, spätestens Ende nächsten Jahres wird unser schönes Wien endlich judenfrei sein", erklärte Macalek stolz.

Sie kicherte. „Werden Sie dafür noch so einen schönen Orden bekommen?"
Ziona Aschkenasy drehte sich dabei der Magen um, während „Edith Hafner" dem Standartenführer immer mehr zu verfallen schien. Sehen ließ sie ihn natürlich nur die Person, die sie diesen Abend bis zur Perfektion spielte. Ihre Mimik und Gestik glichen ihrer üblichen kaum, selbst ihre Tonlage hatte sie verändert und der sonst in ihrer Stimme mitschwingende böhmische Klang war vollständig verschwunden.

Das „Böhmakeln" abzulegen, wenn es sein musste, konnte sie bereits als Kind, hatte es bei ihren Lehrern doch nie einen guten Eindruck gemacht. Manchmal hatte sie es eher aus Trotz gegenüber den unfreundlichen getan.
Sie erinnerte sich heute noch, wie sie von einem mit einem wütenden „Herz, lernen Sie endlich richtig Sprechen!" angefahren worden war.
„Wie Sie winschen, Herr Professorr", hatte sie damals mit einem unschuldigen Lächeln geantwortet und ihn damit endgültig zur Weißglut gebracht.

Macalek schien von ihrer Rolle auch durchaus angetan. Mittlerweile war er näher an sie herangerückt, hatte nonchalant einen Arm um ihre Schultern gelegt und seine Blicke lösten sich immer seltener von ihren. Seine Zärtlichkeiten ließ Ziona mit einer inneren Übelkeit über sich ergehen – Fräulein Hafner dagegen empfing sie mit glänzenden Augen und zart geröteten Wangen.

Wie beiläufig wollte sie nachschenken, doch seine Hand bremste ihre. Die Berührung löste auf Zionas Haut ein unbehagliches Prickeln aus.
„Na na, Sie sehen doch – das war genug für heute." Er deutete auf die Markierung.
Sie runzelte enttäuscht die Stirn und sah ihn mit einem Augenaufschlag an, dem man nur schwer widerstehen konnte. „Aber die Nacht ist doch noch so jung."

„Mir scheint, Sie wollen mich betrunken machen."
Zionas Herzschlag setzte für einen schmerzhaften Augenblick aus und eine eisige Kälte kroch ihr Rückgrat hoch. 

Doch auf Macaleks Gesicht breitete sich ein verschmitztes Lächeln aus. „Na ja, ein Gläschen mehr kann ja nicht schaden."
Ihre Gesichtszüge waren ihr keine Sekunde entglitten. Seelenruhig schenkte sie ihm nach – öfter als einmal und mit zunehmend schwächerem Protest seinerseits.

„Sagen Sie, Sie haben doch vorhin dafür gesorgt, dass andere Musik gespielt wird, oder?"
Der Standartenführer schmunzelte. „Ich kenne den Besitzer gut. Er tut mir so kleine Gefallen schon mal."

Ja, ja, die „Freundschaften" von heute – aufgebaut auf Machtgier und Angst.
„Heißt das, ich könnte mir auch ein Lied wünschen?", fragte sie mit blitzenden Augen.
„Wenn ich darum bitte." Macalek winkte inzwischen sichtlich angeheitert den jungen Kellner zu sich. „Kellerer, die Dame hat einen Musikwunsch."

Ziona beugte sich zu dem Mann vor und flüsterte ihm etwas zu. Kurz sah er zwischen den beiden hin und her, ohne sich sein Missfallen anmerken zu lassen, und nickte schließlich knapp.
„Ich kümmere mich darum."

Nur wenig später stimmte die Sängerin Sag zum Abschied leise Servus an.
Der Standartenführer zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Ich hoffe doch sehr, das bezieht sich nicht auf uns", flüsterte er, ihr zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn schiebend.
Sie blinzelte zu ihm hoch und überbrückte beinahe das gesamte bisschen Abstand zwischen ihnen. „Natürlich nicht. Wie ich sagte, die Nacht ist noch jung."
Dein Abschied kommt noch früh genug.

Es war schon spät, als Macalek mit ihr im Arm, deutlich betrunkener als er dort angekommen war und bester Stimmung das Paradies verlassen wollte. Als er ihr in den Mantel geholfen hatte, beschleunigte sich Zionas Herzschlag wieder ein wenig, doch ihre Sorge war unbegründet. Der Mann ahnte nichts und was sie bei sich trug, würde er auch erst merken, wenn es schon längst zu spät für ihn wäre.

Sie passierten eine Gruppe Soldaten auf Fronturlaub, deren energische Worte durch die hinter ihnen zufallende Tür abgeschnitten wurden. Sofort strömte Ziona die Kälte der Nacht entgegen und mit ihr die Gewissheit, dass sie sich ihrem Ende zuneigte. Und das bedeutete, ein SS-Offizier weniger. 

Macalek zündete sich im Gehen mit einer Hand eine Zigarette an, die andere weiterhin um ihre Taille geschlungen.
Zionas Finger tasteten indessen nach der kühlen Klinge und schoben sie vorsichtig in ihren Ärmel. Dabei berührten sie auch das vertraute Papier.

Der Ausweis auf den Namen Ziona Sara Aschkenasy. Das Sara darin wirkte wie ein Fremdkörper. Vier simple Buchstaben, die sie zu hassen gelernt hatte. Wer hätte geglaubt, dass sie etwas Alltäglichem einmal so viel Bedeutung beimessen könnte. Früher war Sara ein Name wie jeder andere gewesen. Heute wirkte er wie ein Brandmal. Ein stummes Urteil über den Träger.
Ziona scheuchte die Gedanken beiseite und blickte in die dunkle Straße, die sich wie ein Weg ins Nichts vor ihr erstreckte.

Für Carl Gustav Macalek wäre sie das.

Plötzlich verstummte das regelmäßige Geräusch von Stiefeln auf dem Asphalt. Der Standartenführer hielt inne.

„Halt", erklang seine Stimme kühl.

Zionas Herz blieb stehen. Wenn jetzt etwas schief ging, er Verdacht geschöpft hatte, dann konnte nichts mehr sie retten. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu dem Inhalt ihrer Taschen und ein Knoten begann sich in ihrer Brust zu bilden. In Alarmbereitschaft versetzt sondierte sie die Umgebung nach einem Fluchtweg.

Mit einem Mal schien ihr alles unnatürlich klar: Das Quietschen der Tramway in der Ferne, die sich mit ihren verdunkelten Scheiben durch die Straßen schlängelte, das Schließen eines Fensters, das Säuseln des Windes, Männerstimmen.

Er wusste es.

Wann an diesem Abend hatte sie einen Fehler gemacht?

Ja, ihr seht richtig ein neues Kapitel - und diesmal sogar aus Zionas Sicht. Ich wäre wirklich gespannt, was ihr von ihr bisher haltet und natürlich von der Geschichte im Allgemeinen :)

Das „Paradies“ ist übrigens erfunden, optisch aber an tatsächlich einigen Lokalen in Wien der damaligen Zeit angelehnt.

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