Wenn die Natur verstummt, dann lauf
Die schwüle Sommerluft drückt mir auf die Brust, als hätte jemand seine Hand mitten auf mein Herz gelegt und versucht nun, mich davon abhalten zu wollen weiterzugehen. Es hat vor kurzem geregnet und der herbe Nachhall des warmen Regenwassers zieht mir in die Nase. Ich liebe es.
Viele verabscheuen des Geruch des Sommerregens, aber für mich gibt es nichts schöneres, nichts befreienderes. Für mich ist dieser Duft die Definition des Sommers und jedes Jahr freue ich mich auf die heißen Tage, die von einem dunklen Schauer durchbrochen werden und sich dann wieder aufhellen.
Solche Tage sind für mich wie das Leben selbst, aber wenn ich zu intensiv darüber nachdenke, klingen meinen eigenen Gedanken beinahe schon kitschig poetisch.
Aber ist es nicht genau das, was das Leben aus macht? Das Leben ist hell und hat eine menge Möglichkeiten zu bieten, Türen durch die man gehen und andere die man auch wieder schließen kann. Türen, die man gar nicht erst öffnen möchte und andere, die man mit einem lauten Knall ins Schloss haut und dessen Schlüssel man irgendwo im Mariannengraben verschwinden lässt. Manche Türen öffnen sich nicht sofort, andere brauchen ein bisschen Öl für die Scharniere und ein bisschen Hilfe, und manchmal läuft man auch an einer vorbei, ohne sie überhaupt wahrzunehmen.
Genau deshalb ist das Leben eine Aneinanderreihung aus hellen und dunklen Moment, quasi ein regnerischer Sommertag.
Meine Füße tragen mich automatisch an den Platz, an dem Ava und ich unsere Pausen immer verbracht haben, auch wenn sie heute nicht da sein wird, um mit mir zu essen. Aber da das nicht nur heute der Fall sein wird, sondern das Ganze restliche Schuljahr, sehe ich keinen Grund darin diesen Platz jetzt zu meiden.
Lieber esse ich alleine, als mich dem Krach in der Mensa auszusetzen.
Deshalb stapfe ich entschlossen weiter über den Hof und entferne mich immer weiter von der Schule, um schon nach wenigen Schritten das Gelände zu verlassen. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und betrachte das graue, riesige Betongebäude, welches von hier eher aussieht wie ein Gefängnis, als ein Gymnasium. Nur noch ein Jahr. In einem Jahr bringe ich die Abschlussprüfungen hinter mich und bin dann weg von diesem Ort, der in meinen Augen einem Fegefeuer gleicht.
Schule war für mich schon immer die Hölle. Schon als Kind bekam ich Bauschmerzen, wenn sich die Ferien dem Ende neigten und ich daran dachte, dass ich bald wieder in diese leeren Flure muss, durch die Lehrer schlendern, als könnten sie das Leid der Schüler nicht sehen.
Ich wurde immer ausgegrenzt, ignoriert, herumgeschubst wie ein Gegenstand, mit dem man nicht wusste wohin. Und die Erwachsenen haben immer weggesehen, damit es nicht zu ihrem Problem wird. Schaut man weg, ist es nie passiert.
Mein Status als Sonderling liegt zum Großteil an meiner Herkunft, denn eine Hexe hat immer etwas an sich, was sterbliche einfach nicht benennen können. Es ist so, als würden sie uns ansehen und uns direkt den Stempel „Eigenartig" auf die Stirn drücken, ohne recht zu wissen wieso.
Ich bin nicht wie meine Schwestern. Die beiden haben sich diesen Status zunutze gemacht. Cecilia und Liliana sind laut und unberechenbar, was sie zwar als Sonderlinge erscheinen lässt, aber durch ihre Art waren sie immer im Mittelpunkt des Geschehens und alle haben sich darum gerissen mit ihnen befreundet sein zu dürfen. Ich dagegen...
Vehement schüttle ich den Kopf und rümpfe die Nase, genervt von meinen eigenen Gedanken, die mal wieder in die Schiene des Selbstmitleids driften wollen.
Nein, damit habe ich schon lange aufgehört. Ich bin nicht laut, ich bin nicht der Mittelpunkt jedes Geschehens und ich brauche keine Gruppe Schüler, die sich um mich versammeln als wäre ich der neue Justin Bieber der nächsten Generation. Ich bin einfach ich und das reicht mir voll und ganz.
Meine Füße stapfen über das aufgeweichte Gras, als ich im Park nahe der Schule ankomme. Ava und ich haben irgendwann vor einem Jahr angefangen durch die Gegend zu trotten, weil wir lieber beim Laufen gegessen haben, als in der Schule, bis wir irgendwann auf diesen kleinen Park gestoßen sind. Er ist nicht groß, nur eine kleine Grünfläche mit einem Teich und einigen Bäumen, aber er wirkt wie ein kleines Paradies inmitten der Innenstadt. Am Eingang ist ein kleines Schild, welches einen darüber aufklärt das dieses Fleckchen unter Naturschutz steht und es ist beruhigend, zu wissen das dieser Ort nicht verändert werden darf.
Etwas beständiges, inmitten sich immer verändernder Umstände.
Unter meinen Füßen ertönt ein leises schmatzen, als ich über die matschige Fläche laufe und ein paar Spritzer Dreck landen auf dem Saum meiner an den Knöcheln umgekrempelten Jeans, aber das ist mir egal. Mit Schwung schmeiße ich meinen Rucksack auf die dunkle Parkbank, die einsam und verlassen an dem kleinen Teich steht. Ava hat immer gesagt, dieser Ort könnte auch die Kulisse eines Krimis sein und wir spielen die Hauptrollen. Irgendwann hat sie sogar angefangen sich richtige Geschichten auszudenken und jede einzelne endete mit meinem Tod, sodass ich irgendwann nicht wusste, ob das nur Fiktion war oder ein aufrichtiger Wunsch von ihr. Als ich sie mal danach fragte, hat sie nur gelacht und gesagt es wäre viel zu klischeehaft, wenn in einem Horrorfilm das Mädchen stirbt, also wollte sie es umgekehrt haben.
Ich weiß immer noch nicht wie ich das finden soll, aber ihre Fantasie kennt ohnehin keine Grenzen.
Zusammen mit der Sonne, die sich jetzt wieder hinter der dicken Wolkenfront hervor kämpft, erfasst mich eine Welle der Sehnsucht nach meiner besten Freundin. Ohne lange nachzudenken ziehe ich mein Handy hervor. Ich weiß nicht, ob Ava überhaupt telefonieren kann, aber ich drücke dennoch auf den grünen Hörer und halte mir sofort danach mein Handy ans Ohr.
Es klingelt. Und klingelt weiter. Und wei-
„Was geht ab, Swifty?", Ruft sie fröhlich am anderen Ende der Leitung und eine Welle der Erleichterung flutet meine Adern, gefolgt von einem genervten Augenrollen, wegen dieses bescheuerten Spitznamens. Ich hätte ihr nie erzählen dürfen, dass ich Taylor Swift mag.
„Du hast versprochen mich nicht mehr so zu nennen!", protestiere ich und verziehe die Lippen, aber meinetwegen kann sie mich nennen wie sie möchte, wenn das bedeutet weiterhin ihre Stimme hören zu dürfen.
„Tja, ich hab dir auch letztes Jahr versprochen auf jeden Fall mitzukommen, als du dein Nicht-Date mit Eric hattest, aber ich bin trotzdem zu Hause geblieben und guck was draus geworden ist."
„Er hat mich abserviert", werfe ich ein und wühle nebenbei in meinem Rucksack nach dem Apfel, den ich mir vom Baum vor unserem Haus geschnappt habe, bevor ich losgefahren bin.
Ava schweigt kurz und schnalzt dann mit der Zunge „Da hast du wohl recht, aber erst, nachdem du ein bisschen mit ihm rummachen durftest, also sei mir mal dankbar."
„Danke", ich versuche so viel Sarkasmus wie möglich in dieses eine Wort zu stecken, aber Ava überhört alles, was sie überhören möchte.
„Sehr gerne. Also, wie läufts?"
„Ich vermisse dich", murmle ich ohne umschweife und lege den Kopf in den Nacken.
Die Sonne kitzelt mir in der Nase und ich schließe die Augen, während ich zwanghaft versuche nicht daran zu denken, dass ich mich vor ein paar Wochen von meiner besten Freundin verabschieden musste. Ich könnte deshalb nie sauer auf sie sein, ich weiß sie wäre ebenfalls lieber hier geblieben, anstatt in eine andere Stadt ans andere Endes des Landes zu ziehen, aber sie hatte keine Wahl. Sie lebte schon immer hier mit ihrer Mum und vor ein paar Monaten bekamen sie die Nachricht, dass ihr Onkel schwer krank ist. Deshalb sind sie umgezogen, um so gut wie möglich für ihn da sein zu können, aber verdammt nochmal sie fehlt mir.
Am anderen Ende ertönt ein leises Seufzen, gefolgt von einem kratzenden Geräusch, welches mir verrät, dass Ava grade nebenbei am zeichnen ist.
„Glaub mir, du mir auch", erwidert sie dann und macht eine kleine Pause, als müsste sie über ihre nächsten Worte nachdenken „Macht es mich zu einem schlechten Menschen, wenn ich sage ich will nicht hier sein, egal ob mein Onkel krank ist oder nicht?"
„Nein, das denke ich nicht", sage ich überzeugt und meine es auch so.
Sie hatte mit ihrem Onkel nie Kontakt und wurde aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, deshalb würde ich sie wegen solcher Gedanken nie verurteilen. Trägt nicht jeder Mensch einen Funken Egoismus in sich, wenn es darum geht sein Leben in eine Richtung zu lenken, mit der man auch glücklich ist? Daran ist überhaupt nichts verwerflich.
Plötzlich breitet sich eine Gänsehaut in meinem Nacken aus und ich drehe mich ruckartig um, noch bevor ich den Apfel überhaupt zum Mund führen konnte.
Was war das? Es hat sich angefühlt, als würde etwas unsichtbares nach mir greifen, mit einer hauchzarten Berührung, die so schnell wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war.
Meine Augen suchen die Umgebung nach etwas verdächtigem ab, aber da ist nichts. Rein gar nichts.
Ein älteres Ehepaar geht einige Meter entfernt den steinigen Weg durch den Park entlang und das Knarzen ihrer Schritte sind die einzigen Geräusche, die zu mir durchdringen. Mein Atem stockt, als mir klar wird, dass das wirklich die Einzigen Geräusche sind. Vorhin haben die Vögel in den Bäumen gezirpt und der Wind hat die Baumkronen zum Rascheln gebracht, aber jetzt...
„Miles? Bist du noch dran? Miiiiiles...", singt Ava in mein Ohr und holt mich damit aus meiner Trance.
„Ich muss auflegen", sage ich sofort und bevor sie dazu kommt mir zu antworten, habe ich das Telefonat schon beendet. Den Apfel lasse ich achtlos fallen und erhebe mich ganz langsam von der Parkbank, indessen ich zwanghaft versuche meinen Atem unter Kontrolle zu halten.
Nicht durchdrehen. Du musst jetzt rational und ruhig bleiben, Miles.
In der Welt der Hexen gibt es Regeln. Regeln, die dir das Leben retten können, wenn es drauf ankommt. Regeln, die dich in der Welt des Paranormalen leiten, wenn du nicht weißt was du tun sollst. Und eine dieser Regeln, die zudem auch ganz oben auf der Liste steht, die ich und meine Schwestern schon als Kleinkinder auswendig lernen mussten, besagt, dass wenn die Natur verstummt, etwas böses in der Nähe ist. Etwas, was man vielleicht nicht sehen kann, aber fühlen. Hören. Vielleicht sogar schmecken. Wenn die Natur schweigt, dann lauf.
Aber die nächste Regel lautet: Lauf, aber renne niemals. Sobald du rennst, wird es für sie zu einem Spiel. Zu einer Jagd.
So gelassen wie möglich greife ich mir meinen Rucksack von der Bank und schwinge mir einen Riemen über die Schulter, bevor ich so bedacht wie möglich denselben Weg zurückgehe, den ich genommen habe, als ich hergekommen bin. Ich trete in dieselben Fußspuren im matschigen Gras, die ich wenige Minuten vorher hier hinterlassen habe, während mein Herz viel zu kräftig in meiner Brust pumpt.
Ich nicke dem alten Ehepaar zu, die mir entgegenkommen, sobald ich den Steinpfad betrete. Sie wirken entspannt, während mir grade der Arsch auf Grundeis geht.
Das Leben als Hexe ist verdammt unfair.
Ein eisiger Luftzug streift meinen Arm und mir wird übel.
Nur noch ein paar Schritte, dann bin ich an dem Schild, das diesen Bereich als Naturschutz kennzeichnet und damit auch als Eingang dient. Zehn, vielleicht Zwölf Schritte. Etwas ruft meinen Namen.
Regel Nummer drei: Wenn du eine Stimme deinen Namen rufen hörst und du dir sicher bist, dass du alleine bist, dann antworte niemals.
„Miles...", wispert mir eine kratzige Stimme ins Ohr, die sich so anhört, als wäre sie Meilen entfernt, aber trotzdem wahnsinnig nah.
Der Klang meines Namens verstärkt meine Übelkeit, aber ich behalte eine neutrale Miene bei. Noch drei Schritte.
Zwei.
Eins.
Mein Fuß berührt den gepflastert Boden des Bürgersteigs und mit einer Intensität, die mich auf offener Straße zusammenzucken lässt, prasseln die Geräusche der Umgebung auf mich ein wie ein heftiger Regenguss.
Mit noch immer wummerndem Herzen schaue ich hoch zu den Vögeln, die nun wieder freudig ihr nächstes Lied anstimmen, bevor ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub mache.
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