1 | Für den Tag der Freiheit!
Hastig eilte ich durch die menschenleeren Gassen. Der hallende Klang der Glocke übertönte meine Schritte auf dem unebenem und brüchigem Pflaster. Im Vorbeirennen blieb mein Blick immer wieder an den schief in den Angeln hängenden Türen oder den eingeschlagenen Fenstern der Bruchbuden in diesem Stadtviertel haften. Es wäre so leicht, unbemerkt hineinzuschleichen. Es wäre so leicht, unbemerkt einige Dinge herauszuschaffen. Das letzte wertvolle Familienerbstück war manchmal ein echter Glücksgriff.
Schlecht fühlte ich mich nicht dabei. Nicht mehr. Die rechtmäßigen Besitzer konnten diese Dinge sowieso nicht mehr gebrauchen – ich hingegen benötigte sie, um mich am Leben zu erhalten. Früher hatte ich mich vielleicht für solche Gedanken und Taten verabscheut, aber mittlerweile sah ich ein, dass jeder hier versuchen musste, auf irgendeine Weise zu überleben. Und ich hatte eben diese gewählt.
Nur schweren Herzens widerstand ich dem Drang, die Gelegenheit zu nutzen und in das Haus einzudringen. Nein, heute würde ich nicht die Diebin sein, die sich an allen Ecken der Stadt herumtrieb, um mit ihren schmutzigen Fingern gierig nach Dingen zu langen, die sich verkaufen ließen. Heute würde ich einfach nur Emorie sein. Eine Teilnehmerin am Tag der Freiheit. Ja, das klang gut.
Eigentlich hatte ich nie vorgehabt, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Es war nicht so, dass ich Angst davor hatte oder nicht überzeugt davon war, dass ich mir den Sieg holen würde. Nein, es war mehr die Vorahnung, dass meine Zeit, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, erst jetzt gekommen war. Ich war stark – anders hätte ich bisher nicht überlebt. Es wurde endlich Zeit, es allen zu beweisen.
Als ich durch den Torbogen auf den Hauptplatz einbog und die geradezu erdrückende Menge an Menschen in ihrer durchlöcherten und von Flicken besetzter Kleidung erblickte, bremste ich mein Tempo. Eng aneinander gedrängt standen sie da und warteten. Stumm. Fast schon regungslos, wenn man von den flachen Atemzügen oder dem nervösen Tappen eines Fußes absah. Es schauderte mich schon jetzt, mich zu ihnen zu gesellen. Ich mochte keine großen Ansammlungen von Menschen. Das war schon immer so gewesen. Ich fühlte mich einfach verloren, so winzig klein. Wie eine Ameise; umgeben von hoch in den Himmel ragenden Bäumen, die mich jeden Moment mit ihrer Last erdrücken konnten.
Tief atmete ich durch, spürte den sanften Hauch des Windes, der über meine Wangen strich. Dann zwang ich mich, einen Schritt nach vorne zu gehen. Hob meinen Kopf in eine aufrechtere Position. Ja, jeder sollte sehen, dass ich stark war. Emorie würde niemals eine von diesen verkümmerten Gestalten werden. Noch ein Schritt.
Komm schon! Für den Tag der Freiheit!
Noch einen. Irgendwann stand ich am Rand der Menge neben einem jungen Mann mit auffällig schmalen Gesichtszügen. Kurz wandte er sich mir zu, nickte grüßend. Wir kannten uns, hatten uns schon einige Male gesehen, als wir auf Raubzügen unterwegs waren. Nur Worte hatten wir nie gewechselt. Die Ringe unter seinen grauen Augen – die Farbe eines zugezogenen Himmels an einem verregneten Tag – glichen den meinen, wenn ich mich in einer der Pfützen am Boden betrachtete. Wie tiefe Schatten sahen sie aus. Sie erzählten jedem unweigerlich, für welches Leben wir uns entschieden hatten. Was für Verräter! Als ob wir nicht schon genug Schwierigkeiten hatten, zu überleben. Ich nickte zurück.
„Bürger von Andurin, der Tag der Freiheit ist nun endlich gekommen!" Der glatzköpfige Sprecher stand auf einer Holzkiste ganz vorne am Hauptplatz, die Arme ausgebreitet und gen Himmel gerichtet. Über die Köpfe der anderen konnte ich das Wappen Arlans entdecken, das auf seinem dunkelblauen Umhang gestickt war. Ein silberner Pfau, der seine Federn majestätisch aufgerichtet hatte. Kein gern gesehenes Symbol hier in Andurin.
Warum sollten wir es auch gutheißen, Fremde aus Arlan in unserer Stadt zu beherbergen? Mir war schon viel über die Hauptstadt dieses Reiches zu Ohren gekommen. Je mehr ich gehört hatte, desto größer war meine Wut geworden. Arlans Bewohner durften sich also an Reichtum, Freiheit und an einer Stadt erfreuen, die im Lichte der Sonne erstrahlte und von einem Fluss durchflossen wurde, dessen Wasser so rein und funkelnd wie Sternenlicht war?
Und was war mit uns in Andurin? Die Straßen waren verdreckt und mit Schutt überhäuft, das Pflaster zerbrochen und uneben, die Häuser halb verfallen. Gesindel – ja, auch ich gehörte dazu – trieb sich in den Gassen herum; nicht selten wurde über mehrere Ecken hinweg hinter vorgehaltener Hand von Totschlägen oder Raubüberfällen gemunkelt. Jeder fragte sich unweigerlich, ob er der Nächste sein würde. Gut war das Leben hier gewiss nicht.
Und König Orpheus hatte dafür gesorgt, dass niemand seiner Stadt entfliehen konnte. Jeder Einwohner der neun Kleinstädte des Reiches trug einen eisernen Riemen um den rechten Fuß, der verhinderte, dass man auch nur einen Schritt vor das Tor der jeweiligen Stadt setzen konnte. Jeder, der es bisher versucht hatte, war auf der Stelle zu Boden gesunken und nie wieder aufgestanden. Es war unmöglich, diesen Riemen abzunehmen, geschweige denn zu verhindern, dass es einem den Atem nahm.
Ich wusste nicht, wie oft ich schon versucht hatte, mich von diesem Ding zu befreien. Wahrscheinlich konnte man es gar nicht mehr an zwei Händen abzählen. Doch jedes Mal war ich beim gleichen Punkt gelandet: Der Riemen war nicht abzunehmen. Eher verletzte man die völlig wunde und blutende Haut darunter, als dass man sich dieses Dinges entledigte.
„Wir haben uns heute hier versammelt, um den Tag der Freiheit zu feiern. Vor geraumer Zeit wurde an diesem Tag das Reich gegründet und in neun Kleinstädte und eine Hauptstadt, Arlan, geteilt. Da euch dadurch die Freiheit verwehrt blieb, bekommt ihr an diesem Tag die Möglichkeit, für ein eigenständiges Leben zu kämpfen. Jeder, der heute siegt, wird reich belohnt werden. Ein Vermögen, eine Einladung nach Arlan und eure Freiheit warten auf euch." Er ließ seine Worte wirken, auch wenn sie uns schon längst bekannt waren. Jedes Jahr war es das gleiche hohle Geschwätz, das immer verschwieg, welcher Gefahr die Teilnehmer ausgesetzt werden würden; welchen Preis ein Teilnehmer für seine Freiheit zahlen musste. Heute war ich bereit, es herauszufinden.
„Nur keine Scheu. Tretet vor, solltet ihr euch der Herausforderung stellen wollen", meinte er und stieg von der Kiste hinunter. Erst jetzt fiel mein Blick auf die Wachen hinter ihm, die die ledergebunden Griffe ihrer Schwerter umklammert hielten, als wären sie ihre Lebensversicherung. Was sie in gewisser Weise auch waren. Sie trauten uns nicht. Als ob eine Ansammlung an völlig verdreckten und ausgemergelten Menschen sie angreifen würde. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass wir gegen sie sowieso keine Chance hätten.
Noch einmal atmete ich tief ein uns aus, sammelte mich, bevor ich den Weg zu einem alsbald besiegelten Schicksal antreten würde. Mit festen Schritten schritt ich quer durch die Menge, obwohl alles in mir danach schrie, wieder umzukehren. Die Menschen bildeten eine kleine Gasse für mich. Ihre Gesichter verschwammen zu einer grauen Masse, nur ihre Hände konnte ich auf meinen Schultern spüren. Als ob sie mich für diese Entscheidung bemitleideten.
Wenn ich darüber nachdachte, war ich mir immer noch nicht ganz sicher bei der Sache. Aber ich würde das jetzt durchziehen. Ich würde keinen Rückzieher machen. Nicht vor all den Leuten. Nicht vor mir. Punkt.
Ewig lang kam mir der Weg bis nach vorne vor. Jeder Schritt zog sich bis ins Unendliche, aus Sekunden wurden Minuten. Aus Minuten Stunden. Als ich mich zu fragen begann, ob ich überhaupt jemals ankommen würde, kamen meine Füße endlich neben dem Mann, der gerade gesprochen hatte, zum Stehen. Erst jetzt aus der Nähe konnte ich sehen, welche feinen Linien sich durch seine Kopfhaut zogen. Ohne es eigentlich zu wollen, zuckte ich zurück, als ich sah, welch feines Netz die Narben bildeten. Eine ging durch sein linkes Auge. Es war grau getrübt und blickte ins Leere.
„Du hast es also auch schon bemerkt", seufzte er, während er mich mit seinem sehenden Auge intensiv taxierte. Manche Menschen konnten einen mit ihren Blicken förmlich an Ort und Stelle festnageln.
„Wie ist das passiert?"
„Es war der Tag der Freiheit, der mich für immer mit einem Teil meiner Geschichte gezeichnet hat. Ob das gut oder schlecht ist, vermag ich nicht zu sagen." Sein Kiefer hatte sich angespannt.
„Ein Zeichen von Stärke ist immer gut. Du hast am Tag der Freiheit gesiegt. Wieso sollten dich die Narben nicht an diese heldenhafte Tat erinnern?", fragte ich und legte so viel Überzeugungskraft in meine Worte, wie ich nur konnte.
„Weil dieser Tag nicht heldenhaft war. Das Einzige, was ich getan habe, war zu überleben; nichts weiter."
Nachdenklich blickte ich auf meine verdreckten und abgenutzten Stiefelspitzen. Was war das Hindernis, das es am Tag der Freiheit zu überwinden gab? Keiner der Teilnehmer aus den letzten Jahren hatte mir diese Frage beantworten können. Die einen nicht, weil sie im Verlauf des Tages gestorben waren und die anderen nicht, weil sie als Sieger dazu verpflichtet waren, Stillschweigen zu bewahren. Den Spaß für die nächste Runde an Teilnehmern nicht verderben und so.
Aber etwas musste es geben. Es lag in ihren Augen, dieser völlig verängstigte Ausdruck eines Menschen, der dem Tod nur in letzter Sekunde entronnen war.
„Ich schätze, ich sollte dir viel Glück wünschen. Nur leider kommt es bei dem Kampf um die Freiheit nicht auf Glück an. Du musst stark sein. Stärker als du es je warst und stärker, als du es je sein kannst. Nur so sicherst du dir dein Überleben." Er klopfte mir auf die Schulter. Ich wusste nicht, ob es ein Aufmunterungsversuch oder ein Abschied sein sollte. Womöglich war es sogar beides.
✵
Ganze 14 weitere Personen hatten sich nach mir ebenfalls nach vorne gewagt. Hinein in ein Schicksal, das gleich besiegelt sein würde. Es gab zwei Möglichkeiten, diesen Tag zu beenden. Entweder man starb oder man siegte. So einfach war das.
Der mir bereits bekannte Mann, neben dem ich vorhin gestanden hatte, war zu meiner Überraschung ebenfalls dabei. Ich wusste nicht recht, wie ich ihn einschätzen sollte. Von außen betrachtet sah er nicht besonders stämmig oder kampferfahren aus. Suchte er womöglich nur nach einem schnellen Weg, den Tod zu finden? Andererseits wusste ich genau, was es einem abverlangte, ein Dieb und dann auch noch auf sich alleine gestellt zu sein. Er hätte es nicht geschafft, Andurin zu überleben, wenn er schwach war. Da war ich mir sicher. In mir regte sich das Gefühl, dass er einen guten Partner abgeben würde. Vorausgesetzt, wir überlebten beide.
„Teilnehmer von Andurin, in einer Reihe auf die Knie!"
Das wurde ja immer besser. Jetzt wurden wir schon wie Schwerverbrecher behandelt. Ich fiel neben einer Frau auf die Knie, die am ganzen Leib zu zittern schien. In ihren dunklen Augen glänzte die Furcht. Und trotzdem stand sie hier vorne. Das war bewundernswert.
Eine der Wachen öffnete das Schloss der schwer aussehenden Kiste, die vorhin als provisorisches Podest gedient hatte. Dann nickte er dem Botschafter zu. Alles war bereit. Endlich ging es los! In mir erwachte die freudige Erwartung, die ich vorher zurückgehalten hatte.
„Rückzieher werden nun nicht mehr geduldet. Für euch gibt es nur noch diesen Weg." Bedächtig schritt er vor uns auf und ab. Mir schien es so, als würde er es vermeiden, in meine Richtung zu schauen. „Eure Aufgabe ist es, den Schatten zu vertreiben, der sich in eurer Seele festsetzen wird. Mein Rat: Unterschätzt ihn und eure Aufgabe keinesfalls."
Ich wusste nicht recht, ob ich seinen Worten Glauben schenken sollte. Ein Teil von mir war davon überzeugt, dass es ihm nur darum ging, uns Angst einzujagen, damit es keine Massen an Teilnehmern am Tag der Freiheit gab. Je größer die Angst, desto weniger Freiwillige. Schlau. Doch so langsam geriet diese Mauer der Überzeugung ins Wanken. Etwas lag da in seinen Bewegungen, in seiner Stimme, das ich nicht zuordnen konnte.
Der Botschafter klappte den Deckel der Kiste nach oben. Wie jedes Jahr war sie bis zum Rand mit Messern gefüllt. Um mich herum war vereinzeltes Luftschnappen zu hören. Ich blieb standhaft, zuckte nicht mit einer Wimper. Emorie war stark. Stärker, als sie es konnte.
„Streckt eure linke Handfläche aus", befahl eine der Wachen, die an die Seite des vernarbten Mannes getreten war und ihn auf jedem seiner Schritte begleitete, das Schwert gezückt und uns argwöhnisch musternd.
Die beiden schritten die Teilnehmer der Reihe nach ab und der Botschafter, gleichermaßen auch Leiter des Tages der Freiheit in Andurin, schnitt jedem von ihnen in die Handfläche, sodass sich ein kleines Blutrinnsal bildete, ihre Arme herunterrann und auf den Boden tropfte. Rotes Blut auf dem grauen Pflaster – mir gefiel die Farbmischung.
Ich war die sechste in die Reihe. Misstrauisch beäugte ich die Klinge, die sich meiner Hand näherte. Nicht, dass ich den Schmerz fürchtete; es war das, was sich auf dem Messer befand und sich gleich durch meine Venen fressen würde. Vermutlich war es besser, wenn ich nicht wusste, was es war.
„Gib auf dich Acht", flüsterte er, bevor er zum Schnitt ansetzte.
––––– 2.110 Wörter –––––
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