C H A R L I E
Angestrengt denke ich über seine Frage nach und lasse die Vergangenheit Revue passieren. Bilder erscheinen in meinem Kopf und egal, wie sehr sie mir einen Stich verpassen, ich lasse es zu. Es sind jedoch nicht nur schlimme Erinnerungen, die auftauchen, sondern auch wertvolle Momente, die ich früher mit Cole teilen durfte.
»Ich weiß es nicht so genau«, fange ich an, bevor ich kurz innehalte und über meine nächsten Worte nachdenke. »In einer Sache muss ich dir aber widersprechen, Cole«, füge ich hinzu und drehe mein Gesicht in seine Richtung, um ihn mit einem traurigen Lächeln anzusehen.
Fragend hebt er seine Augenbrauen in die Höhe, die unter seinen Locken verschwinden. Krampfhaft unterdrücke ich den Drang, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen. Eher atme ich tief ein und schließe für einen Moment die Augen. Die nächsten Worte werden mich nackt fühlen lassen, da ich sie zum ersten Mal ausspreche. Nie hätte ich gedacht, dass wir irgendwann mal zusammen sitzen und darüber reden werden.
»Ich bereue unseren Kuss nicht. Könnte ich gar nicht, weil es sich in dem Moment richtig angefühlt hat.«
Mein Herz setzt für einen Schlag aus, bevor es brutal gegen meine Brust hämmert. Meine Hände sind nass und zittern leicht, weshalb ich sie an dem Stoff meines Kleides reibe. Nur mein Blick bleibt an dem Mann haften, der mich keine Sekunde aus den Augen lässt. Er durchbohrt mich regelrecht, sodass sich eine Gänsehaut bildet, die mich frösteln lässt.
»Es war aber auch ein wundervoller Moment. Zumindest, bis du einfach abgehauen bist und wir danach nicht mehr miteinander gesprochen haben.«
Seine Finger streichen abermals über meine Wange, sodass ich genüsslich aufseufze. Jedes Mal, wenn er mich berührt, fliegen Funken zwischen uns. Funken, die darauf warten, sich in ein Inferno zu verwandeln.
Was Cole aber nicht weiß, ist, dass er mir meinen ersten Kuss gestohlen hat. Zwar bei einem doofen Spiel, aber das ist egal.
»Ich bereue ihn ebenfalls nicht. Auch wenn ich dich anfangs gar nicht küssen wollte«, lässt er mich wissen und rückt ein Stück näher an mich heran. Wie selbstverständlich legt er seinen Arm über meine Schulter und reibt sanft eine meiner Haarsträhne zwischen seinen Fingern.
Leise lache ich auf. »Wir haben uns beide blöd angestellt, was?«
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir mit ihnen diskutiert haben, dass wir das eigentlich nicht tun wollen. Und ehrlich gesagt, ist es für mich bis heute noch unklar, wieso wir dem Spiel zugestimmt haben. Immerhin hatten wir mit ihnen nie etwas zu tun, außer an den langweiligen Firmenfeiern, zu denen wir leider hingehen musste. Erst später habe ich mich dagegen gewehrt und mir irgendwelche Ausreden einfallen lassen.
»Wer kann es uns verübeln? Wir waren damals echt gute Freunde. Das einzige, was ich dir nicht verzeihen werde, ist deine Flucht. Du hast mich einfach stehen lassen.«
»Das tut mir leid, aber ich habe mich danach irgendwie geschämt«, entschuldige ich mich. Für einen kurzen Moment bleiben wir beide still, ehe ich die Frage stelle, die mich jahrelang verfolgt hat. »Wieso hast du dich aber danach von mir distanziert?«, flüstere ich ihm zu und lehne meinen Kopf an seine Brust. Sein intensiver Duft umhüllt meine Sinne, sodass ich tief einatme und versuche mich nicht einlullen lasse. Für dieses Gespräch brauche ich meine gesamte Konzentration.
»Weil ich ein paar Tage später von diesem Vertrag erfahren habe und Abstand brauchte«, gibt er nach einer stillen Minute zu, nachdem er seinen anderen Arm ebenfalls um mich gelegt hat. Auch wenn ich bisher gegen all diese Empfindungen angekämpft habe, lasse ich es zu. Viel mehr bin ich müde vom kämpfen und wenn ich ehrlich bin, fühlt es sich mal wieder richtig an.
»Und danach hast du entschieden, dass es besser ist, dich von mir fernzuhalten?«
»Ehrlich gesagt, ja. Ich war so richtig wütend auf meine Eltern und auch auf dich, weil mir mal wieder eine Entscheidung abgenommen wurde, die ich gerne selbst getroffen hätte. Also habe ich rebelliert und mich von dir und meiner Familie entfernt.«
Ab dem Zeitpunkt hat sich alles verändert. Cole hat angefangen mich zu ignorieren und ich war verletzt. Irgendwann haben wir alles infrage gestellt, was der andere getan oder gesagt hat. Wir haben uns Sachen an den Kopf geworfen, die wir nicht mehr zurücknehmen konnten. Eine Art der Rivalität hat sich zwischen uns gebildet. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, haben wir uns wie Kinder verhalten. Aber mit sechzehn denkt man noch anders, da die Emotionen unsere Handlungen steuern.
Außerdem habe ich dann irgendwann das Gerücht gehört, dass es eine Wette gewesen war. Woher sie von dem Kuss gewusst haben, weiß ich bis heute nicht. Aber irgendwie haben es unsere Mitschüler herausgefunden und haben Dinge erzählt, die nicht der Wahrheit entsprachen.
Wie bescheuert das klingt und dann noch so klischeehaft. Aus diesem Grund habe ich ihren Worten keinen Glauben geschenkt, da ich Cole sowas nicht zugetraut hätte. Trotzdem haben sich irgendwann Zweifel eingeschlichen, weil es kurz darauf zu dem Bruch kam. Als dann noch Cole plötzlich jede Party besucht und immer eine andere Frau abgeschleppt hat, wurde es schlimmer und die Fehde zwischen uns größer.
»Wieso hast du nichts gesagt? Du hättest mit mir reden und mich einweihen können.«
Langsam löse ich mich aus seiner Umarmung, da es irgendwie skurril ist, eine solche Unterhaltung zu führen und sich so nah zu sein. Widerwillig lässt er mich los und beginnt an seiner Armbanduhr zu spielen, ehe er tief aufseufzt.
»Das war nicht so einfach, wie es klingt«, beginnt er zögerlich, sodass ich ihn erwartungsvoll ansehe und ihn mit meiner Hand auffordere weiterzusprechen. »Meine Mutter hatte irgendetwas gesagt, sodass ich es fälschlicherweise geglaubt habe. Dass es nicht stimmt, weiß ich jetzt, und trotzdem hat es damals Sinn für mich ergeben.«
»Was genau meinst du? Was hat sie dir erzählt?«, will ich wissen und ahne böses, da ich seine Eltern kenne und weiß, wie hinterhältig sie sein können. Sie sind das Spiegelbild von den Menschen, die mich aufgezogen haben.
»Dass du bereits informiert wurdest und mich nur geküsst hast, um mich um den Finger zu wickeln, weil wir sowieso heiraten müssen.«
Was sagt er da?
Meine Augen weiten sich, während ich meinen Mund öffne und ihn kurz darauf wieder schließe, da ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Das kann doch nicht sein Ernst sein! Und wie kann es seine Mutter wagen, ihm einen solchen Schwachsinn zu erzählen?
»Es tut mir leid, Charlie. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt, jedoch war meine Mutter echt überzeugend, sodass ich in all dieser Wut, die in meinem Inneren gebrodelt hat, es geglaubt habe.«
Also hatten unsere Eltern überall ihre Finger im Spiel? Sie haben nicht nur unsere Zukunft vorgeplant, sondern haben am Ende noch erreicht, dass unsere Freundschaft in die Brüche geht?
»Ich glaube es nicht. Diese intriganten Vollidioten!«, rufe ich laut aus. Lauter als beabsichtigt, da er neben mir erschrocken zusammenzuckt. »Anstatt uns einfach in Ruhe zu lassen, damit wir unsere Kindheit genießen können, zerstören sie alles, was sie in die Finger bekommen.«
Cole streckt seine Arme nach mir aus und schüttelt mich leicht, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, mich über unsere Eltern aufzuregen.
»Beruhige dich, Charlie. Auch wenn ich dich verstehen kann, so hatten sie bei uns keinen Erfolg. Sieh uns an. Wir sind hier und nicht verheiratet. Außerdem bringt es nichts, da es nichts ändern wird. Sie werden sich nicht ändern. Ein Wunder, dass wir nicht genauso sind, bei allem, was sie getan haben.«
Auch wenn mir noch unzählige Flüche auf der Zunge liegen, hat der Lackaffe recht. Wieso sollte ich meine Energie darauf verschwenden, die sie keine Sekunde verdient haben?
Plötzlich ploppt ein Gedanke im mir auf, der mich leicht lächeln lässt. Cole runzelt bei meinem Anblick bloß die Stirn. Er muss mich für verrückt halten, so schnell hat sich meine Stimmung verändert. Aber nach diesem Gespräch denke ich, dass es richtig ist, es zu versuchen. Und es gibt keinen besseren Ort, da wir hier von niemanden gestört werden. Keine Eltern, keine Presse, niemand, der dazwischen funken kann.
Vor allem jetzt, da ich einige Antworten bekommen habe, die mich noch vor einigen Jahren in den Wahnsinn getrieben haben. Auch wenn wir noch weitere Dinge besprechen müssen. Wenigstens kenne ich jetzt den Grund und den Auslöser für die Kettenreaktion, die für alles andere verantwortlich ist. Für den Moment ist mir das genug.
»Ja.«
Die Furche auf seiner Stirn vertieft sich. Er schaut mich verständnislos an, da er gerade kein Wort versteht, das aus meinem Mund kommt. Würde ich an seiner Stelle auch nicht. Aber das wird sich gleich ändern, hoffe ich.
»Ja, wozu?«
»Na, zu deinem Vorschlag.«
Sanft lege ich meine Hand auf seine Wange und schaue ihm tief in die Augen. Die Neugier und auch die Verwirrung sind ihm anzusehen. Lange kann ich ihn nicht mehr im Unwissen lassen, weshalb ich endlich Klartext spreche.
»Ich will mit dir ausgehen, Cole. Auf ein richtiges Date.«
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