
Kapitel 19 - Befreiende Gespräche
-Anna-
„So habe ich dich ja noch nie erlebt, liebste Kollegin!", kommentiert Diana, mit hochgezogenen Augenbrauen und in die Hüften gestemmten Händen, mein breites Lächeln und Summen, während ich die Praxis betrete.
„Ich kann mich auch nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so empfunden habe", antworte ich und realisiere im nächsten Moment, was ich mir mit diesem Satz eingebrockt habe.
Diana sieht auf ihre Armbanduhr und grinst mich an. „Wir haben noch zehn Minuten, bis die ersten Patienten kommen, schieß los!"
Oje... ich kann ihr doch nicht sagen, dass ich nach meiner Trennung von Chris nun einen attraktiven reichen Anwalt date und ganz nebenbei noch Gefühle für eine Frau habe. Andererseits... warum eigentlich nicht? Sie vertraut mir auch hin und wieder bizarre Fakten über sich an und außerdem... wem sollte sie es erzählen? Wir sind nur Kolleginnen und haben keine gemeinsamen Freunde. Darüber hinaus sehe ich sie jeden Tag und es käme mir sehr gelegen, wenn ich mit jemandem reden könnte, solange Julia ausfällt. Also setze ich mich auf meinen Stuhl neben Diana hinter den Empfangstresen, schlage meine Beine übereinander und schaue in ihr erwartungsvolles Gesicht.
„Ich habe dir ja erzählt, dass mein Mann mich betrogen hat..."
„Jep!"
„... und seit circa vier Wochen date ich nun einen wahnsinnig gutaussehenden Anwalt."
„Soso. aber der ist es nicht, weswegen du so gut drauf bist, oder? Sonst wärst du ja schon eher mal auf Wolke sieben hier reingeschwebt, habe ich recht? Oder war der erste Sex mit ihm so grandios?"
Herrje, warum macht es mich nur immer so nervös, wenn jemand in meiner Gegenwart den Liebesakt erwähnt? Bin ich wirklich so prüde, wie Julia sagt?
„Nein, er ist es in der Tat nicht. Ich..."
Mein Zögern sorgt dafür, das Diana anfängt ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herauszutrommeln. „Jetzt sag schon! Die Spannung bringt mich noch um..."
„Ich... ich glaube ich stehe auf meine neue Nachbarin..."
Diana reckt beide Arme in die Höhe und fängt an sich auf ihrem Schreibtischstuhl im Kreis zu drehen. „Wooohoooo... das sind ja mal aufregende Neuigkeiten! Wie kam es dazu?"
Während ich ihr in knappen Sätzen von Isabellas Auftritten in der Taverne und unserer Begegnung in der Stadt erzähle, kleben Dianas Augen förmlich an meinen Lippen.
„...und kaum sind wir in die neue Wohnung gezogen, steht sie auf einmal vor meiner Tür."
„Ist nicht dein Ernst!" Dianas erstaunter und zugleich interessierter Gesichtsausdruck unterstützt meine ohnehin schon starken Glücksgefühle ungemein. Genauso eine Reaktion hätte ich mir so sehr von Julia gewünscht. „Und was ist passiert, dass du heute so fröhlich bist?"
Das starke Kribbeln im Bauch, welches mich die ganze Fahrt hierher begleitet hat, erwacht wieder zum Leben. Mit einem breiten Grinsen fahre ich fort davon zu erzählen, wie Isabella auf mich reagiert hat, als wir uns gegenüberstanden und von dem, was heute Morgen passiert ist.
Völlig aus dem Häuschen starrt Diana mich an. „Wow Anna... diese Isabella hat dir ja gehörig den Kopf verdreht. Hach, ich bin ja schon ein bisschen neidisch..."
„Wieso neidisch? Worauf?", frage ich sie etwas irritiert.
„Na auf deine Gefühle und die Tatsache, dass dir diese geheimnisvolle Frau quasi zu Füßen liegt. Ich wäre auch gern mal wieder verliebt..." Diana lehnt sich zurück und schaut gedankenverloren zur Decke.
„Und du findest das nicht merkwürdig?"
„Was? Dass du auf eine Frau stehst? Nein, überhaupt nicht. Ich finde das total spannend. Ich habe zwar selbst noch nie etwas Romantisches für unsereins empfunden, aber ich glaube dir, dass dich deine Nachbarin verzaubert hat. Wenn sie wirklich eine so schöne Stimme besitzt, gut aussieht und dann auch noch so putzig auf dich reagiert, da kann man schon mal schwach werden."
Diana hat recht, ich bin schwach geworden... und wie... so schwach, dass sogar Tom zeitweilig zur Nebensache geworden ist.
„Und was würdest du an meiner Stelle tun? Sollte ich mich auf eine Beziehung mit dem Anwalt einlassen oder eher der Sache mit Isabella nachgehen?", frage ich Diana bei dem Gedanken an das morgige Dinner mit Tom.
„Was begeistert dich denn an dem Anwalt?" Diana verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mich mit einer gehobenen Augenbraue an.
Allein die Tatsache, dass ich überlegen muss, führt mir vor Augen, wie wenig mir an Tom liegt. Klar, er sieht wahnsinnig gut aus, ist charmant und ein absoluter Gentleman... aber begeistert mich das? Wenn ich dagegen an Isabella denke, fährt mir wieder ein Schmunzeln auf die Lippen. Nur der Gedanke an ihre Art mir zu begegnen reicht, um in mir Glücksgefühle auszulösen, die mir vorher total fremd waren.
„Danke Diana!", antworte ich auf ihre Frage, worauf sie mein breites Grinsen mit einem wissenden Augenzwinkern erwidert.
„Halt mich bitte auf dem Laufenden, ja? Ich kanns gar nicht erwarten zu erfahren, wie es zwischen euch weitergeht." Und wieder sorgt sie dafür, dass ich mich so unglaublich gut fühle. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass sie mich einen entscheidenden Schritt weitergebracht hat, mein Gefühlschaos in den Griff zu bekommen.
„Klar, mach ich gern und danke, dass du mir zugehört hast."
„Machst du Witze? Ich habe dir zu danken, dass du mir meinen Tag versüßt hast!" Dianas gespielte Empörung bringt mich zum Lachen.
„Na sie beide scheinen ja die Ruhe weg zu haben. In Anbetracht des überfüllten Terminplans für heute, hätte ich mehr Geschäftigkeit von Ihnen erwartet!" Mit dem Gefühl ertappt worden zu sein, sehe ich auf und schaue in das besorgte Gesicht von Herrn Dr. Güntner, der an den Tresen getreten ist.
„Machen sie sich keine Sorgen Chef, es ist alles vorbereitet, wir überlassen doch nichts dem Zufall", entgegnet Diana und zwinkert mir zu.
„Ihren Optimismus hätte ich gern...", antwortet er und geht zurück in sein Sprechzimmer.
„Warum ist er nur so gestresst in letzter Zeit?", überlege ich laut und drehe mich wieder zu Diana, die ihre Augen verdreht.
„Ist dir nicht aufgefallen, dass die Termindichte seit zwei Wochen deutlich erhöht ist? Das liegt daran, dass er seinem Freund und Kollegen von früher, der aus gesundheitlichen Gründen seine Praxis im Westen der Stadt schließen muss, versprochen hat, einen Teil seiner Patienten zu übernehmen. Und ich glaube, dass ihm jetzt langsam aufgeht, was er sich und auch uns damit zumutet."
„Ach... also, dass viele neue Patienten trotz Aufnahmestopp dazugekommen sind, ist mir schon aufgefallen, aber dass Dr. Wellen seine Praxis schließen muss, ist mir neu."
Diana seufzt laut „Tja, hoffen wir mal, dass unser werter Chef sich damit nicht übernimmt..."
„Oh ja...das hoffe ich auch."
-Isabella-
Nervös wippe ich mit meinen Beinen auf und ab und kaue auf meinen Fingernägeln herum, während ich in einer der Nischen in der Taverne sitze, die gerne von kuschelnden Paaren genutzt werden. Trudy lässt mich bestimmt absichtlich warten, als Strafe für mein Verhalten ihr gegenüber, aber ich habe es ja verdient... Die meisten Gäste sind schon gegangen und die Lautstärke der Musik wurde bereits heruntergefahren. Nach zwanzig Minuten, die mir vorkamen wie eine halbe Ewigkeit, kommt sie endlich mit einem Cocktail und einer Flasche Bier in den Händen auf mich zu und meine Nervosität wird schlagartig so stark, dass ich sie nicht mehr verbergen kann. Trudy stellt die Getränke auf den Tisch und setzt sich neben mich auf die Bank. Ich kann im Augenwinkel erkennen, wie sie mich mustert, doch ich traue mich nicht ihr in die Augen zu sehen und spiele unterm Tisch mit dem Saum meines Kleides.
„Hast du Angst, ich reiße dir den Kopf ab?"
Irritiert darüber, dass sie ihrer Stimme einen so sanften und einfühlsamen Ton verleiht, anstatt dem gewohnten autoritären und respekteinflößenden Krächzen, spüre ich wie meine Anspannung etwas nachlässt.
„Sieh mich bitte an, Isabella!"
Zaghaft drehe ich meinen Kopf in Trudys Richtung und hebe meinen Blick. Als ich in ihre Augen sehe, heben sich ihre Mundwinkel und sie stößt einen leichten Seufzer aus.
„Du hast wohl noch nicht erkannt, worum es mir geht."
Während ich mich frage, was sie wohl meint, schaffe ich es nicht lange ihrem Blick standzuhalten, denn mich plagt immer noch das schlechte Gewissen darüber, sie ignoriert und angelogen zu haben.
„Ich weiß, dass ich nicht mit meinen Gefühlen hausieren gehe..." Trudy macht eine kurze Pause und seufzt erneut, diesmal deutlich lauter. „...und ich bereue, dass ich sie so lange vor dir verborgen habe..."
Trudys Worte sorgen dafür, dass ich ihr wieder in die Augen sehen muss. Wird sie etwa sentimental? Nein! Doch nicht Trudy... das passt so gar nicht zu ihr... Ich habe ja mit einer Standpauke gerechnet oder zumindest einem Monolog darüber, wie enttäuscht sie von mir ist, aber nicht damit, dass sie Gefühle zeigt.
„Von dem Tage an, als du vor dieser Tür da standest..." Sie deutet mit dem Finger auf die Eingangstür der Taverne. „...hilflos und weinend mit deinem kleinen Benni auf dem Arm, wusste ich, dass du mein Leben verändern würdest."
Bei der Erinnerung an diese Nacht gepaart mit dem Blick in Trudys Gesicht, überkommt mich eine ungeheure Dankbarkeit. Was wohl aus mir und Benni geworden wäre, wenn sie mir die Tür nicht geöffnet hätte? Ich mag es mir nicht ausmalen...
„Ich habe in meinem Leben sehr viel Scheiße über mich ergehen lassen müssen, was auch der Grund für meine harte Schale ist, aber du... du hast in mir etwas geweckt, wovon ich bis dahin nur geträumt habe."
Trudy streckt ihre Hand aus und legt sie zaghaft an meine Wange. Ein wohliges Kribbeln geht von ihrer Berührung aus und fährt über meinen Nacken. Völlig perplex über diese unerwartete Geste, sehe ich in ihre bernsteinfarbenen Augen.
„Du bist für mich die Tochter, die ich nie hatte. Über die Jahre, bist du mir mehr ans Herz gewachsen als jeder andere Mensch in meinem Leben..."
Eine unglaubliche Schwere legt sich auf meine Brust. Eine Träne kullert meine Wange herunter, die Trudy mit ihrem Daumen auffängt und ich sehe, dass sie ebenfalls mit ihren Emotionen zu kämpfen hat.
„...und in den Tagen nach dem Unfall im Proberaum ist mir bewusst geworden, dass ich dir das nie gezeigt habe und ich kann deshalb auch verstehen, dass du mir bisher nicht das Vertrauen entgegengebracht hast, was ich mir gewünscht hätte. Meine schroffe Art während unseres Telefonats tut mir übrigens leid, ich war einfach krank vor Sorge."
Unfähig etwas darauf zu erwidern und zutiefst berührt von Trudys Offenbarung ihrer Gefühle, werfe ich mich ihr um den Hals. Bis vor einigen Minuten hätte ich mir das niemals auch nur im Entferntesten vorstellen können, denn es gab immer irgendwie eine unsichtbare Barriere zwischen uns, die nun durchbrochen ist. Sanft zieht sie mich in eine innige Umarmung und die ganze Anspannung löst sich in Luft auf.
„Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin, Herzchen." Trudys Worte sind nicht mehr als ein Flüstern in mein Ohr und ich kann ihr breites Lächeln hören.
Nachdem wir uns voneinander gelöst und ich meine Freudentränen getrocknet habe, greift Trudy nach ihrer Bierflasche und hält sie mir hin. „Es ist nicht zu fassen, dass ich so etwas mal sage, aber ich will für dich da sein, Isabella. Mein Herz verlangt danach."
Mir entfährt ein leises Kichern, während Trudy mit dem Kopf schüttelt und ich nach dem Cocktail greife, um mit ihr anzustoßen. Einen Moment lang sehen wir uns nur gegenseitig an und ich muss die ganze Zeit schmunzeln, da Trudy bis über beide Ohren strahlt. So glücklich habe ich sie noch nie erlebt und mir geht es nicht anders.
„So, nun aber zu dir." Ihr erwartungsvoller Gesichtsausdruck erinnert mich daran, warum wir uns eigentlich zusammengesetzt haben, wodurch meine Nervosität wieder zunimmt.
„Ich... ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll...", stottere ich vor mich hin.
„Wie wärs, wenn du mir erstmal erklärst, was genau passiert ist an jenem Abend."
Ich hole tief Luft und seufze sie laut wieder aus, bevor ich damit beginne, ihr den genauen Ablauf des Abends zu erzählen, bis ich an den Punkt komme, an dem Dave den Song auswählte, der zu meinem Schrei geführt hatte.
Trudy sieht mich skeptisch an. „Wer ist Dave?"
Hmmm... also lag ich mit meiner Vermutung richtig. Dave muss sich kurz nach mir aus dem Staub gemacht haben. „Ein finsterer Kerl mit langen schwarzen Haaren. Er hat an dem Abend Gitarre gespielt und mit mir zusammen gesungen. Kennst du ihn nicht?"
„Nein, einen Mann mit diesem Namen, auf den die Beschreibung passen könnte, ist mir in meiner Taverne noch nie untergekommen. Wir werden Marco mal nach ihm fragen müssen. Es wundert mich allerdings, dass er und die beiden anderen diesen Dave nicht erwähnt haben."
Ich nicke zustimmend. „Apropos, wie geht es Marco und den anderen eigentlich?"
„Marco geht es wieder blendend und Andre... aus ihm mal etwas herauszubekommen, ist wie ein Sechser im Lotto... Zumindest habe ich ihn nicht jammern gehört. Lars hingegen wird auf einem Ohr nicht mehr richtig gut hören können. Die OP ist zwar gut verlaufen, aber sein Innenohr ist durch den Knall stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Das bringt mich auch zu der Frage, warum du offensichtlich nichts abbekommen hast, Kleines."
Betreten weiche ich Trudys Blick aus. Ausgerechnet das krasseste Thema zuerst? Naja, Augen zu und durch! Jetzt gibt es eh kein Zurück mehr, aber aufgrund der Tatsache, dass sie mütterliche Gefühle für mich empfindet, habe ich nun keine Zweifel mehr, dass ich mich Trudy ruhigen Gewissens anvertrauen kann.
„Weil... weil ich der Grund für all das bin..." Meine Stimme ist leise und ich kaue mir nervös auf meiner Unterlippe herum, während ich auf Trudys Reaktion warte.
„Wie bitte? Das musst du mir genauer erklären!"
Während ich wieder in Trudys Gesicht sehe, welches verwirrte Züge angenommen hat, versuche ich krampfhaft Worte zu finden, die das Geschehene nicht zu unglaubhaft klingen lassen.
„Ich... ich bin anders... Trudy... Irgendetwas... eine Kraft... ruht in mir und ich weiß nicht, was das ist..."
„Eine Kraft? Aha... und weiter?" Trudy richtet sich auf und sieht mich skeptisch, aber auch gespannt an.
Ich spüre förmlich, wie die Dämme in meinem Gehirn brechen und die Worte wie ein Wasserfall über meine Lippen fließen wollen, also fange ich mit einem starken Gefühl der Befreiung an zu erzählen.
„Es ist bisher nur zweimal passiert. Beim ersten Mal war ich siebzehn und ich habe damals meine Mutter lebensgefährlich verletzt und mein Vater..."
„Ok...Moment mal, eins nach dem anderen", fällt Trudy mir ins Wort. „Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass du eine Kraft besitzt, die Menschen verletzten kann?" Ihre Skepsis zeichnet sich nun auch deutlich in ihrer Stimme ab und sie sieht mir eindringlich in die Augen.
„Ich weiß, dass kling total verrückt, aber... es ist nun mal passiert. Es hat mir damals, wie auch an dem Abend mit den Jungs, unglaubliche Angst gemacht..."
„Du meinst das wirklich ernst, was?", kommentiert Trudy meinen flehenden Blick und ich nicke nur. „Also bist du verantwortlich für den Knall, der die Verletzungen bei den Männern verursacht hat?" Trudy zieht ihre Augenbrauen nachdenklich zusammen.
„Es... es war ein Schrei..."
„Hmmm... ein Schrei also. Und warum hast du geschrien?"
Mit zittriger Stimme erzähle ich ihr von den schmerzhaften Erinnerungen an Saschas Tod und an die Sehnsucht nach Anna, die zu dem heftigen Gefühlsausbruch geführt haben.
„Ich... ich wollte das nicht Trudy, du... du musst mir glauben..." Trudys Gesicht verschwimmt vor den aufkommenden Tränen in meinen Augen. „Ich...ich war so unglaublich verzweifelt..."
Trudy rutsch auf der Bank ganz dicht an mich heran und legt ihren Arm um meine Schultern. „Ich glaube dir... das klingt nur so... verrückt... und es muss doch eine Erklärung dafür geben."
„Die hätte ich auch gern... Ich habe schon viel dazu recherchiert, aber es ist aussichtslos verlässliche Quellen zu finden, die nicht mit irgendwelchen ausgedachten Fantasiegeschichten zu tun haben."
Trudy nickt wissend. „Wer weiß denn noch davon?"
„Nur meine Eltern..."
„Na jetzt ist mir klar, warum du Angst hattest mir davon zu erzählen. Du hast das all die Jahre geheim gehalten und mit niemandem darüber geredet?" Ich schüttle nur mit dem Kopf und lehne mich an Trudys Seite.
„Konntest du mit deinen Eltern nicht darüber reden?"
„Nein, mein Vater hat mich danach buchstäblich davongejagt und mir gedroht, mich einsperren zu lassen, wenn ich je wiederkomme. Wir hatten einen heftigen Streit an jenem Abend, was der Auslöser für meinen Wutanfall war. Meine Mutter hatte noch versucht zu schlichten, doch dann bekam sie die volle Wucht ab. Ich habe noch immer hin und wieder Albträume, in denen ich den Körper meiner Mutter sehe, mit Glassplittern übersäht, blutend am Boden liegend... dieses Bild werde ich nie vergessen..."
Ich spüre, wie sich ein dicker Klos in meinem Hals bildet, doch Trudys Streicheleinheiten helfen mir, ihn herunterzuschlucken.
„Ich finde es unfassbar, dass dein Vater es übers Herz gebracht hat, seine eigene Tochter zu verstoßen..." Ich erkenne im Augenwinkel, wie Trudy ihre Faust ballt.
„Naja...ich bin ein Findelkind und nicht seine leibliche Tochter. Im Gegensatz zu meiner Mutter, hat er mir immer das Gefühl gegeben, dass er mich eigentlich gar nicht bei sich haben wollte. Es wäre auch beinahe nicht zu dem schrecklichen Ereignis gekommen, denn ich hatte vor, freiwillig zu gehen. Ich habe ihn nur um etwas Geld gebeten, um für Sascha, die mit unserem Benni schwanger war, sorgen zu können. Aber selbst das hat er mir verweigert, nie hat er mir auch nur ein Quäntchen von seinem Reichtum abgegeben und dann hat sich all meine angestaute Wut entladen."
Ruckartig zieht Trudy ihren Arm zurück und sieht mich mit großen Augen an. „Was hast du gerade gesagt? Du hast Benni gar nicht geboren?"
Ich spüre, wie ich knallrot anlaufe. Eigentlich wollte ich dieses Thema ganz zum Schluss erwähnen, aber nun ist es mir herausgerutscht. „Ähm... nein ich... ich habe ihn gezeugt..."
Trudy fällt buchstäblich aus allen Wolken. Sie fährt sich durch ihre langen grauen Haare, setzt ihre Bierflasche an ihre Lippen und leert sie mit einem Zug. Nachdem sie noch einige Augenblicke der Putzkolonne dabei zugesehen hat, wie sie die mittlerweile geschlossene Taverne aufräumt, wendet sie sich mir wieder zu und schaut mich wie ein Auto an.
„Willst du mir damit sagen, du... du hast einen..." unerwarteterweise amüsiert mich Trudys Reaktion, denn sie ist so untypisch für sie. Noch nie habe ich sie sprachlos erlebt, also kann ich es mir nicht verkneifen, verschmitzt zu grinsen und mir auf die Unterlippe zu beißen. Ich sehe buchstäblich die Fragezeichen über ihrem Kopf, während sie krampfhaft versucht, mich nicht zu sehr anzustarren. Wie gern würde ich jetzt in ihrem Kopf Mäuschen spielen... „Und du nimmst mich auch wirklich nicht auf den Arm? Oder sehe ich mich gar nächste Woche selbst im Fernsehen bei der versteckten Kamera?"
Belustigt schüttle ich den Kopf.
„Mein lieber Scholli... Ich kenne dich nun seit vierzehn Jahren und ich behaupte von mir, eine gute Menschenkennerin zu sein, aber ich hätte sowohl die eine als auch die andere Sache niemals geglaubt, wenn es nicht aus deinem Mund gekommen wäre, Kleine..." Trudy macht eine kurze Pause, um tief Luft zu holen. „Und von der... sagen wir mal... äußerlichen Sache weiß auch niemand ausser deinen Eltern?"
„Doch... schon. Benni weiß es, aber mit ihm kann ich natürlich nicht darüber reden und meinen Arzt sehe ich nur alle Jubeljahre mal. Und darüber hinaus weiß nur Haruko davon. Sie ist... war... meine beste Freundin, bis sie wieder in ihre Heimat zurückgezogen ist und wir den Kontakt nicht mehr aufrecht halten konnten." Ach Haruko... du warst eine wunderbare Freundin... Ob Trudy mir auch so eine gute Gesprächspartnerin sein wird? Ich werde ihr auf jeden Fall eine Chance geben um es herauszufinden.
„Oh Mann... ich habe so viele Fragen an dich, Isabella, aber ich will dich auch nicht überfordern."
Lächelnd lege ich meine Hand auf Trudys Oberschenkel. „Ich laufe dir schon nicht weg."
„Eine Frage musst du mir aber heute noch beantworten!" Gespannt darauf, was ihr auf der Zunge liegt, verwandelt sich mein Lächeln in ein breites Grinsen. Es ist ein sehr gutes Gefühl, wenn sich jemand so für einen interesseiert...
"Seit wann weißt du... ich meine... ach, ich weiß nicht wie ich es formulieren soll, ohne dir zu nahe zu treten..." Trudy greift sich verlegen in den Nacken.
"Du meinst, seit wann ich so bin wie ich bin?"
Trudy nickt nur.
"Seit meiner Geburt. Ich habe nichts machen lassen, falls du das denkst..."
Trudys überraschtes Gesicht bringt mich zum lachen. „Ach krass...und wie... wie war das als Kind? Ich meine... deine Eltern müssen dich doch zunächst für einen Jungen gehalten haben, oder?" fragt Trudy mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Puh, da sprichst du ein Thema an, mit dem man einen ganzen Abend füllen könnte. Aber ich versuche es mal grob zusammenzufassen. Ja, sie hielten mich für einen Jungen, aber ich habe mich nie für jungenkram interessiert und mein Verhalten entsprach dem eines Mädchens, durch und durch. Ich wollte immer eine richtige Prinzessin sein. Von den ganzen Konflikten, die dadurch entstanden sind, will ich gar nicht anfangen und als ich dann mit zarten elf Jahren plötzlich einen Brustansatz bekam, stand fest, dass ich auch körperlich anders bin. Was ich dann in meiner Teeniezeit alles durchmachen musste, kannst du dir sicher lebhaft vorstellen..."
Trudy nickt zustimmend, rückt wieder näher an mich heran und legt mir ihre Hand auf die Schulter. „Danke, dass du mir dein Vertrauen geschenkt hast. Das bedeutet mir alles, Liebes, und ich kann dir gar nicht sagen, wie aufregend es für mich ist, einen so besonderen Menschen wie dich in meinem Leben zu haben."
Ein wohlig warmer Schauer breitet sich in meinem Körper aus. Ich fühle mich Trudy so nah wie nie zuvor und es macht mich überglücklich jetzt jemanden zu haben, mit dem ich über meine Intimsten Geheimnisse sprechen kann. Ich schmiege mich an sie und lege meinen Kopf auf ihre Schulter.
„Ich muss dir noch das Neuste erzählen", sage ich, während mir ein Lächeln auf die Lippen fährt.
„Ach, betrifft es die Sache mit Paris und deinem Job, die du mir in deiner Nachricht schon angekündigt hattest?"
„Das kommt als nächstes, aber es gibt da noch etwas anderes, viel schöneres..." Mein Lächeln verwandelt sich in ein breites Grinsen und in meinem Bauch erwachen die Schmetterlinge wieder, die heute Morgen geschlüpft sind. Als ich aufschaue und Trudys erwartungsvollem Blick begegne, entfährt mir ein entzücktes Glucksen.
„Ich habe eine neue Nachbarin."
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